Weniger konservativ als der Rest von Sachsen
Schon zu Zeiten des Nationalsozialismus war das Leipziger Viertel Connewitz anders. Davon handelt Johannes Herwigs Debütroman "Bis die Sterne zittern". Ein Stadtspaziergang mit dem Autor durch einen bis heute rebellischen Stadtteil.
"Wir sitzen hier an der Connewitzer Paul-Gerhardt-Kirche", sagt der Schriftsteller Johannes Herwig, "das war einer der ungefähr drei Treffpunkte der Leipziger Meuten, 'n bisschen fernab von der großen Straße, aber direkt um die Ecke, ich vermute, dass das eher der Treffpunkt war, wenn man mal n bisschen seine Ruhe haben wollte, im Prinzip ging es ja den Meuten darum, in die Öffentlichkeit zu gehen..."
Die Leipziger Meuten waren eine Jugendclique, die in der Zeit des Nationalsozialismus gegen die Forderungen des Regimes rebellierte. Diese Cliquen gab es in verschiedenen Vierteln der Stadt – auch in Connewitz.
Durch Zufall hat Johannes Herwig vor ein paar Jahren von den Leipziger Meuten erfahren – und war sofort fasziniert.
"Gerade einfach vor dem Hintergrund, dass es halt eine Zeit war, wo der Staat ganz, ganz, ganz brutal versucht hat, jedwedes Alltagshandeln, also den gesamten Menschen, im privaten wie auch öffentlichen, wie auch beruflichen wie auch immer zu durchdringen, dass da zu dieser Zeit trotzdem Jugendliche gesagt haben, wir nehmen uns jetzt einfach die Freiheit, uns andere Klamotten anzuziehen und was anderes zu machen, das fand ich unglaublich stark, noch viel stärker als das jetzt zu meiner Zeit war, zu meiner Jugend in den 90ern."
"Die Polizei kam da einfach nicht"
"Ich bin ein kleines bisschen zu jung, um jetzt diese ganz, ganz krasse Zeit, 90, 91, 92 ganz aktiv miterlebt zu haben, also da war ich 12, aber ich bin dann 94, bin ich dann in diese Szene reingekommen, und hab dann natürlich viele Leute kennen gelernt, die das noch genau so erlebt haben, und tatsächlich ist es so, und das ist für mich auch ein Punkt, der mit Connewitz und mit seiner Geschichte und auch dem Connewitz heute zu tun hat, dass es halt genau so war, dass die Rechten hier irgendwie jedes Wochenende ankamen und versucht haben, irgendwie Häuser anzugreifen, Menschen anzugreifen, und naja, wenn die Aufgabe des Staates ist, sowas zu verhindern, dann hat er an der Stelle wirklich kolossal versagt. Also weil die Polizei kam da einfach nicht. Und das hat die auch nicht interessiert."
Wir laufen auf das Connewitzer Kreuz zu. Hier treffen die großen Hauptstraßen aufeinander: die Bornaische Straße, die Wolfgang-Heinze-Straße und die Karl-Liebknecht-Straße, die zu Zeiten des Nationalsozialismus Adolf-Hitler-Straße hieß.
"Das waren ganz wunderbare Häuser, die im Krieg dann zerstört wurden, ja, jetzt steht da REWE."
Die Helden seines Buches sind Heinrich, Hilda und Pitt und Harro. Der wohnte in der Adolf-Hitler-Straße 157.
Der ist Einzelkind und sucht seinen Platz, hat sich ein bisschen mit seinen Eltern überworfen und auch ein bisschen mit seiner Schule und seinen Mitschülern, weil sein bester Freund, der Paul, der wurde ganz schön gepiesackt, weil er halt Jude war und ja, musste etliche Erniedrigungen über sich ergehen lassen und ist dann schlussendlich mit seiner Familie geflohen, weil die Familie natürlich gesehen hat, wo das hingeht, ja, und da ist er im Prinzip allein und sucht Anschluss, sucht irgendwie auch einen Motor für sich selber, seine Gedanken und seine Gefühle irgendwie auszudrücken.
"Nie das Gefühl, dass man hier unsicher lebt"
Und eines Tages trifft Harro auf Heinrich und seine Freunde. Sie helfen ihm, als Harro von ein paar Jungen der Hitlerjugend angegriffen wird, weil er die Fahne nicht gegrüßt hat.
Fortan ziehen die Jugendlichen gemeinsam um die Häuser, in eigener Kluft und mit einem Totenkopfring als Erkennungsmerkmal. Als "Leipziger Meuten".
Unterwegs begegnen uns Frauen mit gepierctem Gesicht, Dreadlocks und Hund genauso wie Rentner in grauen Jacken und beigen Hosen und Mütter, die ihren Kinderwagen schieben. Und trotzdem: Connewitz hat bis heute den Ruf, ein "gefährliches" Viertel zu sein.
"Ich hab hier nie das Gefühl, dass man hier unsicher lebt oder sich nachts auf der Straße umgucken muss oder dass man irgendwie nicht alleine irgendwo langfahren kann."
"Wir sind hier in der Pfeffinger Straße, auf der Westseite, wo so eine Art frühe Stadthäuser auf der rechten Seite zu sehen sind, alles voller Graffitti..."
"Links von uns ist eine schöne Baustelle, wo grad ein neues Haus gebaut wird, links ist – nun ja – ein Altenheim, und jetzt kommen wir noch an der legendären, sagenumwobenen, gefürchteten Stockardtstraße vorbei…"
Gefürchtet, weil hier heute Punks in besetzten Häusern wohnen. Häuser, die sie in den 90er-Jahren bezogen haben, als viele Menschen aus Leipzig weggingen und der Leerstand enorm war.
Die Häuser sind von oben bis unten bunt, ein paar Punks blinzeln in die Vormittagssonne. Es ist friedlich.
"Hier eben nicht"
"Genau das ist der Punkt: Eigentlich funktioniert das Zusammenleben hier ganz wunderbar, nur der Blick von außen ist halt oft ein bisschen – mir fehlt echt das Wort."
"Ich denke, das hat vielleicht auch einfach mit dem Rest des Bundeslandes zu tun, weil es halt überall zu sehr großen Teilen sehr konservativ ist und hier eben nicht."
Und das war es offenbar zu Zeiten des Nationalsozialismus auch schon nicht. Damit ist "Bis die Sterne zittern" auch ein Porträt dieses Viertels – und das Bild des rebellischen Connewitz – es hält sich.