Mit Lesepaß und Vokabelheft
Dilek hat gerade ihr zweites Buch gelesen, einen Gruselroman. Hat ihr gut gefallen, obwohl es Wochen gedauert hat, bis die 15-jährige endlich auf der letzten der 120 Seiten angelangt war. Sascha hat schon fünf Bücher gelesen, und wer fünf Bücher in einem Jahr liest, kriegt eine Freikarte fürs Kino.
Eines der gravierendsten Ergebnisse der PISA-Studie war die Erkenntnis, dass fast 23 Prozent der deutschen Schüler kaum lesen können. Die 100 Hamburger Hauptschüler, die am schlechtesten lesen, nehmen nun an der gezielten Leseförderung des Lernwerks der ZEIT-Stiftung teil. Mit Erfolg!
Dritte Stunde in Klasse Neun an der Gesamtschule Bergedorf. Lesestunde.
Manke/Schüler: "Der zweite Satz war ja sehr schwierig. Habt ihr den ein bisschen aufbrechen können? Warum Weihnachten mehr Bedeutung hat als Ostern? "
Theo, Nacib und Safi haben einen Text über die Bedeutung religiöser Fest vor sich liegen. Sie haben ihn gelesen - Buchstaben zu erkennen ist nicht ihr Problem, sie fügen sie auch zu Wörtern und Sätzen zusammen. Doch sie begreifen nicht, was sie lesen.
Manke/Schüler: "Kannst du erklären, worum es geht in dem Text? - Nö! "
Sieben Jungen, zwei Mädchen - Leseschwäche ist ein Jungenproblem. Volkan lehnt sich auf seinem Stuhl zurück ...
Volkan: "Ich kann ja lesen, es ist kein Problem für mich. Ich sitze hier eigentlich nur drin - weiß ich auch nicht, warum ich hier sitze. Ich kann lesen. Ich kann alles Mögliche. "
Maximilian spielt mit dem Kopfhörerkabel seines MP3-Players. Seine kurzen gegelten Haare stehen wie Stacheln vom Kopf ab...
Maximilian: "Ich sitze hier und wir machen jedes Mal was anderes - ich weiß nicht, was mir das bringt. Aber es muss schon irgendwas bringen. Die sind ja ausgebildet dafür. "
Vanessa und Marlen lesen einen Text über den Ramadan.
Marlen/Vanessa: "Ich war noch nie so richtig gut in Deutsch und dann habe ich mich freiwillig gemeldet, dass ich hier mit hin möchte - weil ich am liebsten meine Deutschnote verbessern möchte. Ich hatte vorher ‘ne Vier und das finde ich nicht so toll. Ich hätte eigentlich gerne ‘ne Drei. Die Rechtschreibung und die Grammatik: das ist, glaube ich, bei mir das Größte. - Dativ. - Ich mache auch viele Sätze, die eigentlich im Präsens sind, im Präteritum. Und das geht natürlich nicht. "
Lehberger: "Wir entlassen jedes Jahr SchülerInnen in den Hauptschulen, die zu 70 Prozent - funktionale sagt man dazu - funktionale Analphabeten sind. Sie können einen Text vorlesen, wissen aber in weiten Teilen nicht, was sie dort vorgelesen haben. "
Reiner Lehberger, wissenschaftlicher Leiter der Leseförderung. Seit eineinhalb Jahren trainiert das Projekt vier Stunden pro Woche die hundert Hamburger Hauptschüler, die am schlechtesten lesen.
Jakobmeyer: "Wir haben uns ganz gezielt auf die achte und neunte Klasse konzentriert, weil natürlich nach PISA die Maßnahmen zur Leseförderung von unten nach oben wachsen. "
Hannah Jakobmeyer, Projektleiterin der Zeit-Stiftung, die die Leseförderung finanziert.
Jakobmeyer: "Wer heute in der vierten Klasse ist und eine Leseschwäche hat, hat eine viel größere Chance erkannt zu werden und dann auch gefördert zu werden, als jemand der heute in der achten oder neunten Klasse ist. Das ist sozusagen die vergessene Generation, und denen wollten wir helfen mit der Leseförderung. "
Manke/Schüler: "Im Grunde steht das hier: Durch das gesteigerte Konsumverhalten gewann Weihnachten in der öffentlichen Wahrnehmung weiter an Gewicht. "
Was heißt denn Konsum?, fragt Willem Manke, Lehramtsstudent im sechsten Semester. Drogenkonsum, antwortet Nacib: wenn einer Drogen nimmt. Sein rechter Fuß wippt permanent. Die anderen lachen - und wissen es auch nicht besser.
Manke/Schüler: "Wie würdest du denn diesen Satz mit deinen Worten zusammenfassen, wenn da steht: wodurch die theologische Einstufung von Ostern als bedeutungsvollstem Fest der Christenheit in der Öffentlichkeit weitgehend verloren gegangen ist? - Keine Ahnung. - Ist es zu schwierig? - Ja. "
Viele Hauptschüler kommen aus Migrantenfamilien, scheitern an Fremdwörtern, Artikeln, bei der Satzgliedanalyse. Doch auch Schüler, die mit Deutsch als Muttersprache aufwachsen, haben erhebliche Schwierigkeiten, literarische Texte, Zeitungsartikel, Grafiken, Stadtpläne, Gebrauchsanleitungen oder Stellenanzeigen zu lesen. Weil in den Familien wenig gesprochen wird; weil die einzige Lektüre Werbezettel sind, die ins Haus flattern; weil manche Eltern in der zweiten und dritten Generation von Sozialhilfe leben und nur die Kinder morgens überhaupt noch aufstehen.
Hagener: "Vielfach haben die Schüler Techniken entwickelt, das Problem eher zu verschleiern, weil sie das nicht zugeben wollen. "
Dirk Hagener, der Schulleiter.
Hagener: "Das andere Problem ist: Wenn Lehrer das wahrnehmen, sind sie im Hinblick auf ihre Inhalte und Ziele des Fachunterrichtes oft nicht in der Lage, auf dieses Problem einzugehen. "
Der Erziehungswissenschaftler Reiner Lehberger.
Lehberger: "Lehrer sollten Schüler einschätzen: Wer ist Risikolerner? Von zehn Schülern, die es statistisch waren, haben Lehrer ein bis zwei benennen können. D.h. in der Regel wissen die das noch nicht mal, wer ein Risikolerner ist. Und von daher kann es auch keine Förderung geben! "
Willem Manke legt einen dicken Duden auf den Tisch. Der Text über den Ramadan, eine knappe DIN A 4-Seite, ist eine Herausforderung. Marlen und Vanessa gehen systematisch vor - erstens: den Text überfliegen und Schlüsselwörter benennen. Zweitens: unbekannte Wörter unterstreichen und nachschlagen: fasten, Koran, leibliche Genüsse, allmählich, zelebrieren.
Marlen/Vanessa: "Man muss relativ viel machen, damit man es auch wirklich hinbekommt. "
Waldemar stützt den Kopf auf, Maximilian bekritzelt das Etikett seiner Colaflasche und Niko nimmt seine Mütze ab, führt sich durchs Haar, setzt die Mütze wieder auf, kaut an seinem Stift. Was sie in ihrer Freizeit machen? Freunde treffen, sagen die Jungs. Rausgehen. Computerspiele. Lesen?
Manke: "Das ist zu anstrengend für viele Schüler. Es gibt ja Untersuchungen, wo gesagt wird: Ungefähr die Hälfte der Bevölkerung liest gar nicht. Außer wenn sie mal wirklich was lesen müssen - aber nicht in der Freizeit. "
Maximilian: "Meine Eltern arbeiten viel. Wenn die zu Hause sind, machen die Essen und gehen schlafen. "
Nico: "Ich lese manchmal abends, wenn mir langweilig ist oder es keinen guten Film gibt. Und dann lese ich noch morgens, wenn ich zu früh aufgewacht bin. "
Lehberger: "In bildungsnahen, also in Haushalten, wo Bücher sind, lesen Eltern zirka 1700 Stunden ihren Kindern vor, bis sie in die Schule kommen. In bildungsfernen Schichten, wo keine Bücher sind, sind es 24 Stunden. Diese Diskrepanz sagt ja nicht nur was Quantitatives aus, sondern drückt auch qualitativ was aus, weil gleichzeitig die Haltung zum Buch gelegt wird, als Medium. Und wenn Sie dann in eine Grundschule reinkommen, haben Sie schon eine große Schere von Fertigkeiten und von Haltungen. Und die emotionale Haltung ist ein ganz gravierender Faktor bei der Leseförderung. Nur wenn Sie ein emotionales Verhältnis auch dazu entwickeln, werden Sie lesen. Sonst machen Sie es immer unfreiwillig, gezwungenermaßen. "
Auf dem Lehrerpult steht ein Bücherkiste: ausgewählte Jugendliteratur - Abenteuer im Mystery Park, Der Klassendieb, Madonnas Biografie. Manke und seine Kollegen versuchen, Schülern technische Fertigkeiten beizubringen, damit sie Texte besser lesen können; und sie versuchen darauf aufbauend Interesse an Bücher zu wecken. Jeder Schüler hat einen Lesepass, in den alle Bücher, die er gelesen und zu denen er eine kurze Inhaltsangabe geschrieben hat, eingetragen werden. Arbeitsziel: fünf Bücher in einem Jahr. Nico hat schon drei gelesen.
Nico/Volkan: "Habe ich schon gemacht, und das hat mir halt geholfen, dass ich schneller lesen kann und besser lesen kann. Wenn das komplizierte Wörter sind, immer so zu stocken: das will ich nicht. - Synagogen. Konnte ich am Anfang nicht lesen, nicht so auf Anhieb. Die Aussprache hat mir gefehlt. "
Volkan erzählt, dass er mal in eine Buchhandlung gehen musste, um ein Buch für den Deutschunterricht zu kaufen; es klingt, als sei das eine Zumutung gewesen. Trotzdem hat er sich jetzt einen Roman aus der Bücherkiste genommen.
Volkan: "Ich lese mir gerade das hier durch. Das ist etwas länger - ich habe auch nicht so viel Zeit dafür, das hat 200, (blättert) 221 Seiten. Das ist interessant: Es geht um einen Jungen, der ist Jugoslawe, hat keine Freunde, hat nichts zu tun, seine Eltern beziehen den nur auf die Schule, damit er was Besseres wird als sein Vater, und dann ziehen sie in ein größeres Haus, seine Mutter kriegt ‘ne Arbeit, sein Vater kriegt ‘ne bessere Arbeit, da haben sie wenig Zeit für ihn, und so wird er schlecht in der Schule. Aber dafür lernt er auch neue Freunde kennen, und dann machen sie so eine kleine Kindergang auf. Und dann kommt noch seine erste große Liebe und dann noch alles andere. "
Es scheint ihn zu erstaunen, dass Lesen Spaß machen kann. Kaum einer der Jugendlichen in der Klasse weiß von dem Vergnügen. Doch im nächsten Moment gibt Volkan sich wieder cool und feilscht mit Willem Manke: Was bringt es mir, wenn ich das Buch zu Ende lese? Kriege ich dann eine bessere Note in Deutsch?
Es besteht ein Zusammenhang, sagt Erziehungswissenschaftler Lehberger, zwischen den Bücher, die es in einem Haushalt gibt, Lesefertigkeit und Bildungserfolg.
Manke: "Da waren ja diese schwierigen Wörter wie Integration und Missionierung. Wisst ihr das noch, was Integration bedeutet? "
Für die hundert Hamburger Hauptschüler, die am schlechtesten lesen und nun an Lesekursen teilnehmen, gehören Vokabelhefte zur Grundausstattung. Maximilian trägt "Vatikan" ein.
Maximilian: "Zwar weiß jeder, was Vatikan ist, aber das schreibt er an die Tafel und erklärt nochmal, was das ist. Und das schreiben wir dann auf. "
Lernt er dann zu Hause Vokabeln?
Maximilian: "Habe ich eigentlich noch nie gemacht. "
Lehberger: "In einer Schule, in der ich hospitiert habe, hatte die Lehrerin kleine Witze vorgelegt und die SchülerInnen sollten identifizieren, was denn nun das Komische daran sei. In einem Witz kamen zwei Schlüsselwörter vor, nämlich Hundebesitzer und Schweinshaxe. Und der Schüler konnte nicht lachen. Ich fragte: Warum kannst du nicht lachen? Ja, er wusste weder, was ein Hundebesitzer ist noch was eine Schweinshaxe ist. Und wenn Sie einen Dreizeilenwitz haben und die beiden Schlüsselwörter nicht kennen - dann ist es vorbei! "
Im Geschichtsunterricht sitzen Kinder, die Wörter wie Mittelalter, Zinne, Rüstung oder Zugbrücke noch nie gehört haben. Sie tauchen in ihrem täglichen Leben nicht auf! Sie hören, sehen, lesen sie nie - die einzigen Menschen, die sie damit konfrontieren, sind ihre Lehrer. Darum wird der Wortschatz trainiert. Lehberger hat Listen zusammengestellt: zweihundert Wörter aus dem Berufsleben, die Neuntklässler kennen sollten: Arbeitschutz, Vorgesetzter...
Lehberger: "Um es mal klar und deutlich zu sagen: Diese SchülerInnen sind in ihrem Lernkonzept ungefähr am Ende der Grundschule angelangt, sind auf dem Niveau eines Grundschülers der Klasse 4, und sind damit natürlich in keinster Weise fähig in ein Berufssystem überzuwechseln. Und ich wage mal die These, dass sie auch nicht langfristig in der Lage sind, ihr eigenes Leben angemessen zu organisieren. "
Können wir uns das leisten? Gymnasiasten sind Schülerwettbewerbe, Mathematikolympiaden oder Jugend-forscht-Projekte gewöhnt. Die Leseförderung fängt einen Teil jener 23 Prozent Risikolerner auf, die Förderung und Motivation dringend brauchen. Denn der Arbeitsmarkt hat längst reagiert: Nur zehn Prozent der Hauptschulabsolventen finden eine Lehrstelle. Neunzig Prozent stehen auf der Straße.
Willem Manke und seine Kollegen locken, loben, ködern. Für fünf Einträge im Lesepass gibt’s einen Kinogutschein. Vanessa hat gerade einen bekommen, sie ist die Einzige im Kurs, die freiwillig und gern liest: Krimis, Gruselromane, Harry Potter.
Maximilian: "Wenn ich ins Kino gehen will, frage ich meinen Vater nach Geld und gehe ins Kino. "
Manke und seine Kollegen gehen mit den Jugendlichen in die Bücherei. Niko war anschließend noch mal da, er musste ein Referat schreiben und hat dafür ein Buch ausgeliehen. Maximilian leiht DVDs aus. Volkan sagt, er sei stolz darauf, noch nie eine Bücherei betreten zu haben. Wiegelt dann aber ab...
Volkan: "Ja, war nur ein Spaß. Ich bin nicht dazu gekommen. Ich bin noch nie dazu gekommen, in die Bücherhalle zu kommen, dass ist die Sache. Ich hab keine Zeit dafür. "
Die Eltern zu motivieren sei so nötig wie schwierig, sagt Lehberger. Er habe da resigniert, sagt Schulleiter Hagener.
Hagener: "Weil wir feststellen, dass die Eltern allenfalls Bundesgenossen der Kinder sind, die schon Bücher zu Hause haben und die selbst lesen. Aber die Kinder, die eine große Distanz zu Büchern haben, haben in der Regel Eltern, die auch keinen Zugang zu Büchern haben und oft auch ein distanziertes Verhältnis zur Schule. "
Im Erdgeschoss eine Bibliothek, offen für alle Schüler. Helle Holzregale voller Bücher, Korbsessel, Hocker, bunte Sofas - auf einem lümmeln drei Mädchen, sie haben eine Freistunde.
Mädchen: "Hier sind Bücher, die man sich angucken kann, bisschen lesen, lesen kann, und es ist hier schön ruhig. - Z.B. Gänsehaut und Sachbücher. - Liebesbücher. - Über Pferde und Tiere und so. "
Hagener: "Die Bibliothek soll zum einen Anreize geben, an die Bücher zu gehen, Bücher zu lesen, auszuleihen. Es ist aber gleichzeitig unsere Vorstellung, dass die Bibliothek ein wichtiges Instrument ist, unseren Unterricht zu verändern. "
Hanni und Nanni und Neuzeitliche Geschichte, TKKG und Tolkien, Thomas Mann neben Was-ist-was? Schulleiter Dirk Hagener.
Hagener: "An sich gehört zum Programm des Deutschunterrichts hier auch dazu, in regelmäßigen Abständen hier unten zu sein. Jedenfalls jedes Jahr einmal. Ich mache mit meinen Schülern immer auch im Fachunterricht Geschichte jetzt (Gong) Rechercheübungen, dass die auch lernen mit einem Katalog zu arbeiten und solche Dinge, das gehört ja auch zum methodischen Rüstzeug von jüngeren und nachher von älteren Schülern dazu, dass sie solche Dinge beherrschen. Wie man sich hilft, Informationen zu finden. "
Schweser: "Wir haben jetzt Bücher, die Jüngere ansprechen, mit einem roten Punkt versehen. Damit die gezielter in die Regale gucken können und nicht lange doof rumstehen und sagen: was ist denn das für ein Buch? Das ist ja wieder blöd... Dann packen sie das wieder weg - das mache ich dreimal und dann komme ich nicht mehr wieder. "
Seit einem Jahr gibt es die Schulbibliothek, ehrenamtlich betrieben von Mütter wie Anke Schweser. Ein Baustein in dem Versuch, Schülern das "Abenteuer Lesen" nahe zu bringen. Die Selbstverständlichkeit von Schulbibliotheken in angelsächsischen Ländern war Hagener dabei ein Vorbild.
Förderung muss früh einsetzen, in der Grundschule, in der Vorschule. Später kann man nur noch reparieren.
Manke: "Ich bin froh, wenn sie lesen. Und die Gruselgeschichten, die wir haben, sind Gruselgeschichten für Jugendliche, die sind - unbedenklich. Die sind aber immer die beliebtesten! "
Lehberger: "Dann ist es mal ein Stoff wie in einem dieser short and easy-Romane, der heißt "Und das nennt ihr Mut?". Wo ein Junge durch eine Gang aufgefordert wird, in einem Kaufhaus was zu klauen und sich daraus ein Konflikt entwickelt. Ich habe ein wunderbares Gespräch mit angehört in einer Schule, wo eine Studentin gefragt hat: würdest du dich denn zwingen lassen, wie würdest du dich denn verhalten? Das mögen keine hochkulturellen Fragen sein, aber erstens für die Lesehaltung war es förderlich und ich glaube auch für die Moralentwicklung dieser Kinder. Insofern finde ich immer, man kann auch mit trivialen Texten tief greifende Fragen bearbeiten. Wenn man es denn will und kann. "
Junge: "Okay, ich erzähle was über die Geschichte. Chanukka ist ein jüdisches Lichterfest... "
Niko, Maximilian und Volkan stehen vor der Klasse, fassen zusammen, was in ihrem Text über Chanukka stand und tragen vor - der fünfte und letzte Schritt, um einen Text wirklich zu verstehen. Manke hört zu, macht sich Notizen. Auch er profitiert vom Förderunterricht: sein Studienplan sieht genau acht Wochen Praktikum bis zum ersten Staatsexamen vor; im Rahmen der Leseförderung unterrichtet er nun selbstständig und über ein Jahr hinweg - eine "Superchance", Berufserfahrung zu sammeln.
Am Ende der Stunde zieht Marlen ihr Fünf-Minuten-Heft hervor - ein regelmäßiger schriftlicher Dialog zwischen Schülern und Studenten - noch ein Mittel, den Jugendlichen zu zeigen, dass Lesen und Schreiben etwas mit dem eigenen täglichen Leben zu tun haben kann.
Marlen: "Da schreibt man rein, was man gerne wissen möchte oder wenn man gerade ein paar Probleme hat, dann kann man die da auch reinschreiben. Und die haben dann vielleicht eine Lösung. "
Was sie zuletzt hinein geschrieben hat? Marlen blättert. Ach ja, sagt sie. Ich habe mir doch eine Geschichte ausgedacht, für einen Schreibwettbewerb.
Marlen: "Mir ist nicht so ein passendes Ende eingefallen. Und dann habe ich im Fünf-Minuten-Heft gefragt, wie ich das vielleicht machen kann. "
Mankes Kollege Jens Buchholz hat ihr ein paar Tipps gegeben. Und wird die Geschichte demnächst einschicken.
Marlen hat übrigens, bevor sie in den Förderunterricht kam, nicht gelesen.
Lehberger: "Statistisch gesehen hat jeder Schüler in diesem Leseförderprojekt viereinhalb Bücher gelesen. "
Nach eineinhalb Jahren und zwei Auswertungen zieht Reiner Lehberger, wissenschaftlicher Leiter der Leseförderung, Bilanz.
Lehberger: "Ich hatte so mit einem, bei einigen Schülern vielleicht zwei bis drei Büchern gerechnet. Zwölf Bücher war, glaube ich, der Rekord. "
Schulleiter Dirk Hagener:
Hagener: "Im letzten Jahr haben wir deutliche Erfolge gesehen. Schüler, die sehr auf der Kippe standen, die über diese Förderung ihren Schulabschluss erreicht haben und auch stabilisiert worden sind in sozialer Hinsicht, was den Schulbesuch allgemein angeht. "
Der Bedarf sei allerdings dreimal so hoch wie das Angebot. Die Zeit-Stiftung, die eine eigentlich staatliche Aufgabe übernimmt, wird die Leseförderung weiter finanzieren - Hannah Jakobmeyer:
Jacobmeyer: "Dadurch, dass nach PISA viele Maßnahmen nachwachsen, wird dieses Projekt sicherlich in fünf oder sechs oder sieben Jahren gar nicht mehr so dringend notwenig sein - wir hoffen das zumindest. Dass dann Hand in Hand staatliche und nichtstaatliche Akteure dafür sorgen, dass Leseschwächen früher erkannt und besser behoben werden. "
Dritte Stunde in Klasse Neun an der Gesamtschule Bergedorf. Lesestunde.
Manke/Schüler: "Der zweite Satz war ja sehr schwierig. Habt ihr den ein bisschen aufbrechen können? Warum Weihnachten mehr Bedeutung hat als Ostern? "
Theo, Nacib und Safi haben einen Text über die Bedeutung religiöser Fest vor sich liegen. Sie haben ihn gelesen - Buchstaben zu erkennen ist nicht ihr Problem, sie fügen sie auch zu Wörtern und Sätzen zusammen. Doch sie begreifen nicht, was sie lesen.
Manke/Schüler: "Kannst du erklären, worum es geht in dem Text? - Nö! "
Sieben Jungen, zwei Mädchen - Leseschwäche ist ein Jungenproblem. Volkan lehnt sich auf seinem Stuhl zurück ...
Volkan: "Ich kann ja lesen, es ist kein Problem für mich. Ich sitze hier eigentlich nur drin - weiß ich auch nicht, warum ich hier sitze. Ich kann lesen. Ich kann alles Mögliche. "
Maximilian spielt mit dem Kopfhörerkabel seines MP3-Players. Seine kurzen gegelten Haare stehen wie Stacheln vom Kopf ab...
Maximilian: "Ich sitze hier und wir machen jedes Mal was anderes - ich weiß nicht, was mir das bringt. Aber es muss schon irgendwas bringen. Die sind ja ausgebildet dafür. "
Vanessa und Marlen lesen einen Text über den Ramadan.
Marlen/Vanessa: "Ich war noch nie so richtig gut in Deutsch und dann habe ich mich freiwillig gemeldet, dass ich hier mit hin möchte - weil ich am liebsten meine Deutschnote verbessern möchte. Ich hatte vorher ‘ne Vier und das finde ich nicht so toll. Ich hätte eigentlich gerne ‘ne Drei. Die Rechtschreibung und die Grammatik: das ist, glaube ich, bei mir das Größte. - Dativ. - Ich mache auch viele Sätze, die eigentlich im Präsens sind, im Präteritum. Und das geht natürlich nicht. "
Lehberger: "Wir entlassen jedes Jahr SchülerInnen in den Hauptschulen, die zu 70 Prozent - funktionale sagt man dazu - funktionale Analphabeten sind. Sie können einen Text vorlesen, wissen aber in weiten Teilen nicht, was sie dort vorgelesen haben. "
Reiner Lehberger, wissenschaftlicher Leiter der Leseförderung. Seit eineinhalb Jahren trainiert das Projekt vier Stunden pro Woche die hundert Hamburger Hauptschüler, die am schlechtesten lesen.
Jakobmeyer: "Wir haben uns ganz gezielt auf die achte und neunte Klasse konzentriert, weil natürlich nach PISA die Maßnahmen zur Leseförderung von unten nach oben wachsen. "
Hannah Jakobmeyer, Projektleiterin der Zeit-Stiftung, die die Leseförderung finanziert.
Jakobmeyer: "Wer heute in der vierten Klasse ist und eine Leseschwäche hat, hat eine viel größere Chance erkannt zu werden und dann auch gefördert zu werden, als jemand der heute in der achten oder neunten Klasse ist. Das ist sozusagen die vergessene Generation, und denen wollten wir helfen mit der Leseförderung. "
Manke/Schüler: "Im Grunde steht das hier: Durch das gesteigerte Konsumverhalten gewann Weihnachten in der öffentlichen Wahrnehmung weiter an Gewicht. "
Was heißt denn Konsum?, fragt Willem Manke, Lehramtsstudent im sechsten Semester. Drogenkonsum, antwortet Nacib: wenn einer Drogen nimmt. Sein rechter Fuß wippt permanent. Die anderen lachen - und wissen es auch nicht besser.
Manke/Schüler: "Wie würdest du denn diesen Satz mit deinen Worten zusammenfassen, wenn da steht: wodurch die theologische Einstufung von Ostern als bedeutungsvollstem Fest der Christenheit in der Öffentlichkeit weitgehend verloren gegangen ist? - Keine Ahnung. - Ist es zu schwierig? - Ja. "
Viele Hauptschüler kommen aus Migrantenfamilien, scheitern an Fremdwörtern, Artikeln, bei der Satzgliedanalyse. Doch auch Schüler, die mit Deutsch als Muttersprache aufwachsen, haben erhebliche Schwierigkeiten, literarische Texte, Zeitungsartikel, Grafiken, Stadtpläne, Gebrauchsanleitungen oder Stellenanzeigen zu lesen. Weil in den Familien wenig gesprochen wird; weil die einzige Lektüre Werbezettel sind, die ins Haus flattern; weil manche Eltern in der zweiten und dritten Generation von Sozialhilfe leben und nur die Kinder morgens überhaupt noch aufstehen.
Hagener: "Vielfach haben die Schüler Techniken entwickelt, das Problem eher zu verschleiern, weil sie das nicht zugeben wollen. "
Dirk Hagener, der Schulleiter.
Hagener: "Das andere Problem ist: Wenn Lehrer das wahrnehmen, sind sie im Hinblick auf ihre Inhalte und Ziele des Fachunterrichtes oft nicht in der Lage, auf dieses Problem einzugehen. "
Der Erziehungswissenschaftler Reiner Lehberger.
Lehberger: "Lehrer sollten Schüler einschätzen: Wer ist Risikolerner? Von zehn Schülern, die es statistisch waren, haben Lehrer ein bis zwei benennen können. D.h. in der Regel wissen die das noch nicht mal, wer ein Risikolerner ist. Und von daher kann es auch keine Förderung geben! "
Willem Manke legt einen dicken Duden auf den Tisch. Der Text über den Ramadan, eine knappe DIN A 4-Seite, ist eine Herausforderung. Marlen und Vanessa gehen systematisch vor - erstens: den Text überfliegen und Schlüsselwörter benennen. Zweitens: unbekannte Wörter unterstreichen und nachschlagen: fasten, Koran, leibliche Genüsse, allmählich, zelebrieren.
Marlen/Vanessa: "Man muss relativ viel machen, damit man es auch wirklich hinbekommt. "
Waldemar stützt den Kopf auf, Maximilian bekritzelt das Etikett seiner Colaflasche und Niko nimmt seine Mütze ab, führt sich durchs Haar, setzt die Mütze wieder auf, kaut an seinem Stift. Was sie in ihrer Freizeit machen? Freunde treffen, sagen die Jungs. Rausgehen. Computerspiele. Lesen?
Manke: "Das ist zu anstrengend für viele Schüler. Es gibt ja Untersuchungen, wo gesagt wird: Ungefähr die Hälfte der Bevölkerung liest gar nicht. Außer wenn sie mal wirklich was lesen müssen - aber nicht in der Freizeit. "
Maximilian: "Meine Eltern arbeiten viel. Wenn die zu Hause sind, machen die Essen und gehen schlafen. "
Nico: "Ich lese manchmal abends, wenn mir langweilig ist oder es keinen guten Film gibt. Und dann lese ich noch morgens, wenn ich zu früh aufgewacht bin. "
Lehberger: "In bildungsnahen, also in Haushalten, wo Bücher sind, lesen Eltern zirka 1700 Stunden ihren Kindern vor, bis sie in die Schule kommen. In bildungsfernen Schichten, wo keine Bücher sind, sind es 24 Stunden. Diese Diskrepanz sagt ja nicht nur was Quantitatives aus, sondern drückt auch qualitativ was aus, weil gleichzeitig die Haltung zum Buch gelegt wird, als Medium. Und wenn Sie dann in eine Grundschule reinkommen, haben Sie schon eine große Schere von Fertigkeiten und von Haltungen. Und die emotionale Haltung ist ein ganz gravierender Faktor bei der Leseförderung. Nur wenn Sie ein emotionales Verhältnis auch dazu entwickeln, werden Sie lesen. Sonst machen Sie es immer unfreiwillig, gezwungenermaßen. "
Auf dem Lehrerpult steht ein Bücherkiste: ausgewählte Jugendliteratur - Abenteuer im Mystery Park, Der Klassendieb, Madonnas Biografie. Manke und seine Kollegen versuchen, Schülern technische Fertigkeiten beizubringen, damit sie Texte besser lesen können; und sie versuchen darauf aufbauend Interesse an Bücher zu wecken. Jeder Schüler hat einen Lesepass, in den alle Bücher, die er gelesen und zu denen er eine kurze Inhaltsangabe geschrieben hat, eingetragen werden. Arbeitsziel: fünf Bücher in einem Jahr. Nico hat schon drei gelesen.
Nico/Volkan: "Habe ich schon gemacht, und das hat mir halt geholfen, dass ich schneller lesen kann und besser lesen kann. Wenn das komplizierte Wörter sind, immer so zu stocken: das will ich nicht. - Synagogen. Konnte ich am Anfang nicht lesen, nicht so auf Anhieb. Die Aussprache hat mir gefehlt. "
Volkan erzählt, dass er mal in eine Buchhandlung gehen musste, um ein Buch für den Deutschunterricht zu kaufen; es klingt, als sei das eine Zumutung gewesen. Trotzdem hat er sich jetzt einen Roman aus der Bücherkiste genommen.
Volkan: "Ich lese mir gerade das hier durch. Das ist etwas länger - ich habe auch nicht so viel Zeit dafür, das hat 200, (blättert) 221 Seiten. Das ist interessant: Es geht um einen Jungen, der ist Jugoslawe, hat keine Freunde, hat nichts zu tun, seine Eltern beziehen den nur auf die Schule, damit er was Besseres wird als sein Vater, und dann ziehen sie in ein größeres Haus, seine Mutter kriegt ‘ne Arbeit, sein Vater kriegt ‘ne bessere Arbeit, da haben sie wenig Zeit für ihn, und so wird er schlecht in der Schule. Aber dafür lernt er auch neue Freunde kennen, und dann machen sie so eine kleine Kindergang auf. Und dann kommt noch seine erste große Liebe und dann noch alles andere. "
Es scheint ihn zu erstaunen, dass Lesen Spaß machen kann. Kaum einer der Jugendlichen in der Klasse weiß von dem Vergnügen. Doch im nächsten Moment gibt Volkan sich wieder cool und feilscht mit Willem Manke: Was bringt es mir, wenn ich das Buch zu Ende lese? Kriege ich dann eine bessere Note in Deutsch?
Es besteht ein Zusammenhang, sagt Erziehungswissenschaftler Lehberger, zwischen den Bücher, die es in einem Haushalt gibt, Lesefertigkeit und Bildungserfolg.
Manke: "Da waren ja diese schwierigen Wörter wie Integration und Missionierung. Wisst ihr das noch, was Integration bedeutet? "
Für die hundert Hamburger Hauptschüler, die am schlechtesten lesen und nun an Lesekursen teilnehmen, gehören Vokabelhefte zur Grundausstattung. Maximilian trägt "Vatikan" ein.
Maximilian: "Zwar weiß jeder, was Vatikan ist, aber das schreibt er an die Tafel und erklärt nochmal, was das ist. Und das schreiben wir dann auf. "
Lernt er dann zu Hause Vokabeln?
Maximilian: "Habe ich eigentlich noch nie gemacht. "
Lehberger: "In einer Schule, in der ich hospitiert habe, hatte die Lehrerin kleine Witze vorgelegt und die SchülerInnen sollten identifizieren, was denn nun das Komische daran sei. In einem Witz kamen zwei Schlüsselwörter vor, nämlich Hundebesitzer und Schweinshaxe. Und der Schüler konnte nicht lachen. Ich fragte: Warum kannst du nicht lachen? Ja, er wusste weder, was ein Hundebesitzer ist noch was eine Schweinshaxe ist. Und wenn Sie einen Dreizeilenwitz haben und die beiden Schlüsselwörter nicht kennen - dann ist es vorbei! "
Im Geschichtsunterricht sitzen Kinder, die Wörter wie Mittelalter, Zinne, Rüstung oder Zugbrücke noch nie gehört haben. Sie tauchen in ihrem täglichen Leben nicht auf! Sie hören, sehen, lesen sie nie - die einzigen Menschen, die sie damit konfrontieren, sind ihre Lehrer. Darum wird der Wortschatz trainiert. Lehberger hat Listen zusammengestellt: zweihundert Wörter aus dem Berufsleben, die Neuntklässler kennen sollten: Arbeitschutz, Vorgesetzter...
Lehberger: "Um es mal klar und deutlich zu sagen: Diese SchülerInnen sind in ihrem Lernkonzept ungefähr am Ende der Grundschule angelangt, sind auf dem Niveau eines Grundschülers der Klasse 4, und sind damit natürlich in keinster Weise fähig in ein Berufssystem überzuwechseln. Und ich wage mal die These, dass sie auch nicht langfristig in der Lage sind, ihr eigenes Leben angemessen zu organisieren. "
Können wir uns das leisten? Gymnasiasten sind Schülerwettbewerbe, Mathematikolympiaden oder Jugend-forscht-Projekte gewöhnt. Die Leseförderung fängt einen Teil jener 23 Prozent Risikolerner auf, die Förderung und Motivation dringend brauchen. Denn der Arbeitsmarkt hat längst reagiert: Nur zehn Prozent der Hauptschulabsolventen finden eine Lehrstelle. Neunzig Prozent stehen auf der Straße.
Willem Manke und seine Kollegen locken, loben, ködern. Für fünf Einträge im Lesepass gibt’s einen Kinogutschein. Vanessa hat gerade einen bekommen, sie ist die Einzige im Kurs, die freiwillig und gern liest: Krimis, Gruselromane, Harry Potter.
Maximilian: "Wenn ich ins Kino gehen will, frage ich meinen Vater nach Geld und gehe ins Kino. "
Manke und seine Kollegen gehen mit den Jugendlichen in die Bücherei. Niko war anschließend noch mal da, er musste ein Referat schreiben und hat dafür ein Buch ausgeliehen. Maximilian leiht DVDs aus. Volkan sagt, er sei stolz darauf, noch nie eine Bücherei betreten zu haben. Wiegelt dann aber ab...
Volkan: "Ja, war nur ein Spaß. Ich bin nicht dazu gekommen. Ich bin noch nie dazu gekommen, in die Bücherhalle zu kommen, dass ist die Sache. Ich hab keine Zeit dafür. "
Die Eltern zu motivieren sei so nötig wie schwierig, sagt Lehberger. Er habe da resigniert, sagt Schulleiter Hagener.
Hagener: "Weil wir feststellen, dass die Eltern allenfalls Bundesgenossen der Kinder sind, die schon Bücher zu Hause haben und die selbst lesen. Aber die Kinder, die eine große Distanz zu Büchern haben, haben in der Regel Eltern, die auch keinen Zugang zu Büchern haben und oft auch ein distanziertes Verhältnis zur Schule. "
Im Erdgeschoss eine Bibliothek, offen für alle Schüler. Helle Holzregale voller Bücher, Korbsessel, Hocker, bunte Sofas - auf einem lümmeln drei Mädchen, sie haben eine Freistunde.
Mädchen: "Hier sind Bücher, die man sich angucken kann, bisschen lesen, lesen kann, und es ist hier schön ruhig. - Z.B. Gänsehaut und Sachbücher. - Liebesbücher. - Über Pferde und Tiere und so. "
Hagener: "Die Bibliothek soll zum einen Anreize geben, an die Bücher zu gehen, Bücher zu lesen, auszuleihen. Es ist aber gleichzeitig unsere Vorstellung, dass die Bibliothek ein wichtiges Instrument ist, unseren Unterricht zu verändern. "
Hanni und Nanni und Neuzeitliche Geschichte, TKKG und Tolkien, Thomas Mann neben Was-ist-was? Schulleiter Dirk Hagener.
Hagener: "An sich gehört zum Programm des Deutschunterrichts hier auch dazu, in regelmäßigen Abständen hier unten zu sein. Jedenfalls jedes Jahr einmal. Ich mache mit meinen Schülern immer auch im Fachunterricht Geschichte jetzt (Gong) Rechercheübungen, dass die auch lernen mit einem Katalog zu arbeiten und solche Dinge, das gehört ja auch zum methodischen Rüstzeug von jüngeren und nachher von älteren Schülern dazu, dass sie solche Dinge beherrschen. Wie man sich hilft, Informationen zu finden. "
Schweser: "Wir haben jetzt Bücher, die Jüngere ansprechen, mit einem roten Punkt versehen. Damit die gezielter in die Regale gucken können und nicht lange doof rumstehen und sagen: was ist denn das für ein Buch? Das ist ja wieder blöd... Dann packen sie das wieder weg - das mache ich dreimal und dann komme ich nicht mehr wieder. "
Seit einem Jahr gibt es die Schulbibliothek, ehrenamtlich betrieben von Mütter wie Anke Schweser. Ein Baustein in dem Versuch, Schülern das "Abenteuer Lesen" nahe zu bringen. Die Selbstverständlichkeit von Schulbibliotheken in angelsächsischen Ländern war Hagener dabei ein Vorbild.
Förderung muss früh einsetzen, in der Grundschule, in der Vorschule. Später kann man nur noch reparieren.
Manke: "Ich bin froh, wenn sie lesen. Und die Gruselgeschichten, die wir haben, sind Gruselgeschichten für Jugendliche, die sind - unbedenklich. Die sind aber immer die beliebtesten! "
Lehberger: "Dann ist es mal ein Stoff wie in einem dieser short and easy-Romane, der heißt "Und das nennt ihr Mut?". Wo ein Junge durch eine Gang aufgefordert wird, in einem Kaufhaus was zu klauen und sich daraus ein Konflikt entwickelt. Ich habe ein wunderbares Gespräch mit angehört in einer Schule, wo eine Studentin gefragt hat: würdest du dich denn zwingen lassen, wie würdest du dich denn verhalten? Das mögen keine hochkulturellen Fragen sein, aber erstens für die Lesehaltung war es förderlich und ich glaube auch für die Moralentwicklung dieser Kinder. Insofern finde ich immer, man kann auch mit trivialen Texten tief greifende Fragen bearbeiten. Wenn man es denn will und kann. "
Junge: "Okay, ich erzähle was über die Geschichte. Chanukka ist ein jüdisches Lichterfest... "
Niko, Maximilian und Volkan stehen vor der Klasse, fassen zusammen, was in ihrem Text über Chanukka stand und tragen vor - der fünfte und letzte Schritt, um einen Text wirklich zu verstehen. Manke hört zu, macht sich Notizen. Auch er profitiert vom Förderunterricht: sein Studienplan sieht genau acht Wochen Praktikum bis zum ersten Staatsexamen vor; im Rahmen der Leseförderung unterrichtet er nun selbstständig und über ein Jahr hinweg - eine "Superchance", Berufserfahrung zu sammeln.
Am Ende der Stunde zieht Marlen ihr Fünf-Minuten-Heft hervor - ein regelmäßiger schriftlicher Dialog zwischen Schülern und Studenten - noch ein Mittel, den Jugendlichen zu zeigen, dass Lesen und Schreiben etwas mit dem eigenen täglichen Leben zu tun haben kann.
Marlen: "Da schreibt man rein, was man gerne wissen möchte oder wenn man gerade ein paar Probleme hat, dann kann man die da auch reinschreiben. Und die haben dann vielleicht eine Lösung. "
Was sie zuletzt hinein geschrieben hat? Marlen blättert. Ach ja, sagt sie. Ich habe mir doch eine Geschichte ausgedacht, für einen Schreibwettbewerb.
Marlen: "Mir ist nicht so ein passendes Ende eingefallen. Und dann habe ich im Fünf-Minuten-Heft gefragt, wie ich das vielleicht machen kann. "
Mankes Kollege Jens Buchholz hat ihr ein paar Tipps gegeben. Und wird die Geschichte demnächst einschicken.
Marlen hat übrigens, bevor sie in den Förderunterricht kam, nicht gelesen.
Lehberger: "Statistisch gesehen hat jeder Schüler in diesem Leseförderprojekt viereinhalb Bücher gelesen. "
Nach eineinhalb Jahren und zwei Auswertungen zieht Reiner Lehberger, wissenschaftlicher Leiter der Leseförderung, Bilanz.
Lehberger: "Ich hatte so mit einem, bei einigen Schülern vielleicht zwei bis drei Büchern gerechnet. Zwölf Bücher war, glaube ich, der Rekord. "
Schulleiter Dirk Hagener:
Hagener: "Im letzten Jahr haben wir deutliche Erfolge gesehen. Schüler, die sehr auf der Kippe standen, die über diese Förderung ihren Schulabschluss erreicht haben und auch stabilisiert worden sind in sozialer Hinsicht, was den Schulbesuch allgemein angeht. "
Der Bedarf sei allerdings dreimal so hoch wie das Angebot. Die Zeit-Stiftung, die eine eigentlich staatliche Aufgabe übernimmt, wird die Leseförderung weiter finanzieren - Hannah Jakobmeyer:
Jacobmeyer: "Dadurch, dass nach PISA viele Maßnahmen nachwachsen, wird dieses Projekt sicherlich in fünf oder sechs oder sieben Jahren gar nicht mehr so dringend notwenig sein - wir hoffen das zumindest. Dass dann Hand in Hand staatliche und nichtstaatliche Akteure dafür sorgen, dass Leseschwächen früher erkannt und besser behoben werden. "