Mit Liebesperlen in die vierte Dimension

Von Jochen Stöckmann |
Zeitgenössische Kunst war bislang eher selten im Hamburger Ernst Barlach Haus zu sehen. Nun gibt die 1962 geborene Bildhauerin Mariella Mosler diese Premiere. "Hundreds and Thousands" heißt ihr Bodenrelief aus Tausenden kleiner Zuckerkugeln. Die Installation wurde eigens für die Räume des Barlach-Hauses geschaffen.
Aus knallbunten Liebesperlen entsteht ein mehrere Meter großes Bodenmosaik. Die Galerie bizarrer Masken wartet mit Metamorphosen von Kartonage, Plastikmüll, Kokosnüssen und Schaumstoff auf. Flammende Herzen im edlen Silberguß stoßen auf Schwarzweißfotos sogenannter "Wurmschlösser", aus schlichtem Sand geformte Strandburgen der Wattwürmer. "Volapük" ist der Titel dieser Ausstellung, denn wie in dieser Weltkunstsprache aus deutschem Französisch, italienischem Englisch und spanischem Russisch mixt Mariella Mosler Materialien, Muster und auch Stil-Module.

Das ist ungewöhnlich, zumindest in einem Museum wie dem Hamburger Barlach-Haus, dessen Leitung Karsten Müller vor einem Jahr übernommen hat:

"Da wir eine Skulpturensammlung haben, lag es nahe, auch markante Positionen der zeitgenössischen Kunst einzubeziehen. Bisher war das Barlach-Haus bekannt für Ausstellungen zur klassischen Moderne - und nun kommt mit Marielle Mosler eine international renommierte, sehr eigenwillige Bildhauerin dazu, die einfach zeigt, welche Bildsprachen es in der dreidimensionalen Kunst heute so gibt."

Nach einer über Jahrzehnte streng auf Barlach fokussierten - und zumeist auch entsprechend düster tiefgründelnden - Moderne droht nun aber keineswegs der plötzliche Einbruch oberflächlich bunter Beliebigkeit: Mariella Mosler hält nichts von spontan zusammengerührter Melange, sie setzt auf Amalgam, auf die bewusst herbeigeführte Synthese verschiedener Elemente. Deren Spuren sollen sichtbar bleiben.

Da sind etwa die "Wurmschlösser" - ein ironischer Titel, der an den Stilbruch der "Chateaus" in den Reihenhaussiedlungen denken lässt. Die Fotoaufnahmen dieser architektonischen Sandwucherungen sind mit einem vertikalen Streifenmuster aus Silberfolie überzogen - und die erinnern nicht nur an die Fensterbänder moderner Bürohäuser des sogenannten "international style". Mariella Mosler:

"Das ist jetzt darauf abgestimmt, dass das Objekt, also die Fotos, den Raum widerspiegeln, und natürlich schattenhaft den Betrachter. Gleichzeitig sind die Objekte noch erkennbar. Also, diese organischen Produkte der Würmer, kleine Sandorganisationsformen, also Sand, der den Körper des Wurms durchlaufen hat. Und dann wieder im Ausscheidungsprozess diese leicht skurrilen, an Grotesken erinnernden kleinen Architekturformationen bilden."

Da stößt einiges aufeinander: Wilde Assoziationen und wissenschaftliche Kategorien der Stilgeschichte, der öffentlich bekundete Geschmack für geometrisch geradliniges Design und die klammheimliche Vorliebe für die Zufallsformen der Natur. Diese an- und aufregende Irritation steigert sich mit den Masken: Grelle Zombies oder pastellfarbene Smileys, als zäher Sirup verlaufene Gesichter mit ihren wie bei Edward Munch zum Schrei aufgesperrten Mündern und die braunen Papiertüten mit à la Saul Steinberg hineingeschlitzten Augen, Nase, Mund.

All das wie eine Wunderkammer übereinander gruppiert in Petersburger Hängung, allerdings vor einer klassisch-strengen Tapete, weiß mit feinen, reflektierenden Silberstreifen. Auch damit wird der erste Eindruck überlagert, der Betrachter sanft, aber bestimmt darauf verwiesen:

"Dass Kunst auf der symbolischen Ebene funktioniert - und auch funktionieren sollte! Das ist natürlich eine Wendung gegen einen bestimmten, drastischen Realismus oder vielleicht auch gegen bestimmte Effekte, die mit realistischen Methoden erzeugt werden können."

Schluss also mit der Computerallerweltsweisheit "What You see is what you get". Spätestens die Abteilung "Reading in Japan" räumt auf mit dem bequemen Für-bare-Münzen-Nehmen einer digital simulierten Bilderwelt.

Da hängen - auf Prismenfolie und deshalb uneindeutig in allen Regenbogenfarben schillernd - englische Slogans, die Mariella Mosler auf ihren Reisen durch japanische Städte gefunden hat. Seltsame Menetekel in einem Idiom, das einem englischen "native speaker" so fremd wie nur irgendeine exotische Sprache anmuten dürfte: "Sensibility to sharpen with a polished sense" etwa, oder "Live as you wannabee - make yourself at street". Man ahnt, was gemeint ist - und sieht sich mit offenem Auge "lost in translation".

Was unweigerlich zu der Frage führt, warum diese Künstlerin selbst auf eine einprägsame "Handschrift" verzichtet, woher Mariella Mosler diese Variationsbreite nimmt?

"Die Langeweile - das ist ganz einfach! Man kann natürlich Sachen perfektionieren, und ich greife immer auf frühere Werkformen wieder zurück - aber ich fange auch wirklich irgendwann an, mich zu langweilen. Ich denke, das ist legitim, dass man sich selbst ein bisschen unterhalten möchte - und nicht nur die anderen."

Deshalb also, nach aufsehenerregenden Arbeiten mit Sand, Fruchtgummi oder Menschenhaar nun in Hamburg der rekordverdächtige Materialeinsatz von 500 Kilogramm Liebesperlen?

"Es gibt eine bestimmte verbale Ebene, auf der Kunstwerke und Ausstellungen beworben werden. Dafür gibt es einen spezifischen Jargon, und damit habe ich eigentlich sehr wenig zu tun. Aber natürlich muss die Maschine bedient werden. Also, ich würde dann das noch übertrumpfen und sagen: Zwei Millionen Kalorien - oder waren es jetzt 20 Millionen Kalorien? Das ist ja eine noch viel größere und schockierendere Zahl."

Zahlen also, so deuten wir Mariella Moslers unüberhörbaren Unterton, sind Schall und Rauch. Aber auch das Kunstwerk selbst, das Bodenrelief im gläsernen Atrium, wird ja nicht über die Dauer der Ausstellung hinaus im Barlach-Haus bleiben können: Wohin also mit den Liebesperlen, Herr Direktor?

"Man fegt sie auf. Wohin man sie dann gibt, ist noch etwas unklar im Moment. Wir waren erst einmal froh, dass wir sie überhaupt ins Haus bekommen haben und so auf den Boden gebracht haben wie Frau Mosler es wollte. In einem komplexen Ornament, eigentlich in zwei Ornamenten, die sich gegenseitig anstacheln"

Spektakulär nämlich ist nicht die schiere Masse bunter Kügelchen, sondern ihre Ordnung: Zum einen die weiße, strahlenförmige Wegestruktur eines Barockgartens. Zum anderen gelbe, grüne und blaue Farbwolken, die sich eigenartig zusammenballen wie auf dem Foto aus einer Wärmebildkamera. Ein vielschichtiges, fast möchte man sagen: mehr als nur dreidimensionales Bild. Ein weiterer Markstein auf Mariella Moslers Weg in einer vierte, mit jeder Ausstellung neu zu bestimmende Dimension.