Arnd Pollmann schreibt Bücher über Integrität und Unmoral, Menschenrechte und Menschenwürde. Er ist Professor für Ethik und Sozialphilosophie an der Alice-Salomon-Hochschule Berlin und Mitherausgeber des philosophischen Onlinemagazins Slippery Slopes.
Coronakonflikte verstehen
Angesichts der Coronapandemie befinden wir uns in einem Zwiespalt zwischen apollinischer Selbstbeherrschung und dionysischer Sehnsucht nach Ungezwungenheit. © imago / David Heerde
Mit Nietzsche in der Booster-Schlange
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Puritanische Selbstbeschränkung gegen trotziges Beharren auf Ausschweifung: Nietzsche würde die Coronadebatten als Konflikt zwischen apollinischem und dionysischem Prinzip deuten, sagt Arnd Pollmann. Auf welche Seite würde sich der Philosoph schlagen?
Der junge, wilde Nietzsche betritt mit einem kolossalen Drama die philosophische Bühne: Der Mensch ist von zwei widerstreitenden Trieben beherrscht. Das „Dionysische“ – benannt nach dem griechischen Gott des Weines – steht für den Rausch, für irrationale Verausgabung, ekstatische Freiheit. Das „Apollinische“ jedoch – benannt nach dem Gott des Lichts, der Nüchternheit und der Heilkunst – strebt nach Ordnung und Mäßigung, nach rationaler Distanz und wissenschaftlicher Kontrolle über die Welt.
Dieser existenzielle Zwiespalt mag erklären, welche Zerreißprobe der heutigen Corona-Gesellschaft bevorsteht: Je lauter der wissenschaftsgläubige Ruf nach apollinischer Selbstbeherrschung, umso drängender die dionysische Sehnsucht nach einer neuen Ungezwungenheit.
Umwertung der Werte
Bereits Nietzsche war auf eine dramatisch weit ausholende Kulturdiagnose aus: Der Zivilisationsprozess insgesamt sei das Resultat einer gefährlichen Verabsolutierung des Apollinischen, eines Feldzugs rationalistischer Selbstkontrolle, der mit der dionysischen Zwanglosigkeit auch alle Lebendigkeit des Menschen auszulöschen droht. Später wird Nietzsche von einer „Umwertung aller Werte“ sprechen: Ethische Ideale, die ein Zuviel an vitaler Ungezügeltheit versprechen, werden apollinisch umgedeutet, um den Menschen zur rationalen Selbstkasteiung anzuhalten. Und entsprechend deprimiert wäre Nietzsche über so manche ethische Begriffsverschiebung dieser Tage.
Nehmen wir das „Soziale“: Dionysisch betrachtet, geht es dabei um Zuwendung, Intimität, Geselligkeit, ja, Party. Doch inzwischen gilt als sozial, wer auf Distanz geht, sich zurückzieht. Das Gebot der Kontaktlosigkeit wird als Verbundenheit gefeiert. Eine verkehrte Welt. Ähnliches gilt für den strapazierten Begriff „Solidarität“. Einst als Appell gedacht, zusammenzuhalten und die Reihen fest zu schließen, dient der Begriff heute vor allem zur Abspaltung der Unfolgsamen.
Terminologische Grenzziehungen
Auch der Wert der „Toleranz“ ist kaum mehr wiederzuerkennen. Lange war er ein Marker für das Erdulden nervenaufreibender Diversität, nun dient der Toleranzbegriff meist dazu, Grenzen der Intoleranz zu ziehen, und zwar gegenüber jenen, die nicht den Diversitätskriterien der eigenen Bubble genügen.
Oder die „Grundfreiheiten“: Einst galten sie als historische Errungenschaften, als dionysische Spielräume, die dem tyrannischen Staat mühsam abgetrotzt werden mussten. Zunehmend wird die Freiheit als ein egoistisches Störfeuer betrachtet, das selbst tyrannisch ist. Und apollinisch auf den Kopf gestellt, ist Freiheit nunmehr Einsicht in pandemische Notwendigkeit. Sie zeigt sich nicht länger beim „Spazierengehen“, Verreisen oder Feiern, sondern beim duldsamen Warten in der Booster-Schlange.
Die Geburt der Gesundheit
Immer mehr Menschen spüren, dass man ihnen die anhaltende Unterdrückung vitaler Impulse in eine solidarische Freiheit umdichten will. Sicher, eine Epidemie hält zur apollinischen Vorsicht an, und bisweilen brauchen ethische Grundwerte ein gewisses Update. Doch in diesen Umwertungen tobt sich ein Kontrollwahn aus, der ungesund wirkt. Nietzsche würde sagen: Aus Vitalwerten der Lebensbejahung werden Schrumpfnormen einer letztlich lebensverneinenden, „nackten“ Existenzsicherung. Die meisten Menschen werden fraglos überleben. Aber wie und um welchen Preis?
Man mag dieses Raunen Nietzsches als übertrieben abtun. Bei genauerer Lektüre zeigt sich aber, dass Nietzsche zumindest nicht den Fehler begeht, die dionysische Ausschweifung querdenkerisch zu verabsolutieren. Vielmehr war ihm an einer kunstvollen Balance beider Triebe gelegen. Doch eben diese Balance ist derzeit völlig aus dem Gleichgewicht. Nietzsche war übrigens selbst sehr anfällig für Krankheiten. Und er sehnte sich nach dem, was er die „große Gesundheit“ nannte: Inmitten des eigenen Krankheitsgeschehens wurde er gewahr, dass echte Gesundheit weit mehr wäre als nur die erfolgreiche Bekämpfung von Krankheiten.