Mit Orchideen im Dekolleté

Von Jochen Stöckmann |
Die Ausstellung "Wien Berlin" in der Berlinischen Galerie widmet sich dem Einfluss, den die beiden Kunstmetropolen zu Beginn des 20. Jahrhunderts aufeinander nahmen. Egal ob Jugendstil oder Neue Sachlichkeit - die Künstler beider Städte haben voneinander abgeschaut.
Da ist "Lola", sie blickt mit einem Anflug von Herablassung über den elegant gehaltenen Fächer, züchtig verhüllt in einer roten Stola. Und gleich daneben "Maika": freche Garçonne-Frisur, schulterfrei, eine Orchidee im Dekolleté steht sie über den Dächern der Großstadt. Beide Frauen hat Christian Schad porträtiert, 1928 in Wien und 1929 in Berlin. So verschieden die Typen, so unterschiedlich der Stil. Erinnert "Lola" noch an die subtile Jugendstil-Pracht von Gustav Klimt, dem Meister der Wiener Secession, so präsentiert sich "Maika" als Ikone der Neuen Sachlichkeit. Dass diese künstlerische Annäherung kein Einzelfall war, stellt Annelie Lütgens, Kuratorin der Schau "Wien – Berlin", in einem Kabinett mit einem Dutzend Großstadtmotiven vom Bettler über die Fabrikmädchen bis hin zur Industrielandschaft unter Beweis:

"Alle beschäftigen sich mit sozialen Themen jenseits der großen historischen Repräsentationsbilder. Das Klischee, dass die Wiener Secession die Stilkunst ist, das Großbürgerliche, das Gesamtkunstwerk, das stimmt immer nur zum Teil."

Gegenseitige Inspiration
Im Gegenzug macht die Begegnung von Egon Schieles Porträt eines verquält in sich gekehrten Wiener Verlegers von 1910 mit Walter Gramattés acht Jahre später entstandener, von ebensolcher Seelenpein gemarterten "Kakteendame" deutlich: Auch Berliner Künstler haben bei ihren Kollegen einiges abgeschaut. Diese Annäherung reicht bis hin zu Pinselduktus und Bildaufbau, war mehr als nur geistige Wahlverwandtschaft. Andererseits konterkariert Otto Dix 1924 mit seinem zynischen Selbstporträt "So sah ich als Soldat aus" ganz entschieden das "Bekenntnis" des Wiener Weltkriegsteilnehmers Fritz Schwarz-Waldegg, der sich 1920 in expressionistischer Manier mit heroisch entblößter Brust dargestellt hatte.

"Die Berliner Künstler sind durch so ein Feuer durchgegangen, was auch ihren Stil verändert hat. Die haben sich an der knallharten Wahrheit, an der Grausamkeit der Realität orientiert, während die österreichischen Künstler an einer ganz anderen Front eingesetzt waren. Die habe sich in den russischen Weiten verloren und waren nicht im Schützengraben und sie haben diesen eher pathetischen Charakter beibehalten."

Einfluss der Geschichte
En passant wird eine Zäsur sichtbar, zeitigt ein und dasselbe politische Ereignis, der Erste Weltkrieg, in Kunst und Kultur ganz unterschiedliche Folgen. In Berlin gehen George Grosz oder John Heartfield auf die Barrikaden, was tut sich in Wien?

"Dada gab es nur in Berlin, in Wien kam Dada nicht vor. Das hat verschiedene Gründe, die etwas mit Anti-Kunst und Anti-Autoritärem der Dada-Bewegung zu tun haben. In Wien hat sich das Neue eigentlich immer organisch aus dem Alten entwickelt, es gab keinen Vatermord in dem Sinne. Das hat man dann Sigmund Freud überlassen."

Dafür aber praktizierte in der Wiener Berggasse der Herr Professor Freud. Dass Künstler auf seiner Couch lagen, ist nicht überliefert, doch beim Entschlüsseln der im Stil der Neuen Sachlichkeit gehaltenen, allerdings ganz charmant verrätselten Stillleben eines Rudolf Wacker sind psychoanalytische Kenntnisse hilfreich. Kurator Ralf Burmeister:

"Diese Kiste, dieser kleine Karton, wo dieser grüne Kürbis herauswächst, heißt 'Lotte'. Dort gibt es eine Amphore, in die ein Trichter eingeführt wird. Es ist relativ leicht zu lesen als erotisch untersetzt. Das ist natürlich auch die Psychoanalyse und das Wissen darum, dass Gegenstände zumindest im Traum belebt sein können. So ein Stillleben wird man in Berlin nicht finden."

Klischees werden in Frage gestellt
Sehr viel mehr aber hatte das famose "rote Wien" der Wohnreform und einer fortschrittlichen Sozialpolitik im Bereich der Bildenden Kunst nicht zu bieten. Meint man, bis dann die immer wieder auftauchende Ausnahme das vertraute Klischee in Frage stellt. Annelie Lütgens:

"Um 1930, als unsere Dadaisten resigniert haben, da wird auf einmal die Bauhaus-Künstlerin Friedel Dicker zur Kommunistin und macht in Anlehnung an John Heartfield propagandistische Collagen. Also der Ruf von Heartfield ist nur bei ihr angekommen und es hat ein Jahrzehnt gedauert!"

So wird umfassend und mit großem Anspruch die Beziehung der beiden Metropolen in vielen Facetten solide ausgeleuchtet, bis hin zum Vorabend des Dritten Reichs. Auf diese düstere Epoche aber wirft dann ein einzelnes Kunstwerk das spektakuläre, zeitgeschichtliche Schlaglicht, das Gemälde "Im Gasthaus" von Lotte Laserstein. Annelie Lütgens:

"Lotte Laserstein musste emigrieren. Und sie hat immer gedacht, dieses Bild ist verlorengegangen in den Bombennächten. Und vor einem halben Jahr etwa tauchte dieses Bild im Kunsthandel auf für lächerliche 900 Euro. Dann ist es unter den Hammer gekommen für 115.000 Euro und wir haben es ausleihen können. Die Künstlerin selber hat dieses Bild nie wiedergesehen."

Die Ausstellung ist bis zum 27. Januar 2014 in der Berlinischen Galerie, danach im Wiener Belvedere zu sehen.

Ausstellung "Wien Berlin" in der Berlinischen Galerie

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