Mit Pferd und Esel nach Jerusalem
Cristina Belgioioso gilt als die "erste Publizistin Italiens" und eine der bedeutenden Frauen des 19. Jahrhunderts. Ihr Reisebericht über ihre Erlebnisse in "Kleinasien" wurde ein Klassiker und in mehrere Sprachen übersetzt. Die glühende Patriotin galt als die Symbol- und Emanzipationsfigur des "Risorgimento", der italienischen Freiheits- und Einigungsbewegung.
Brombert: "Zuallererst war sie Italienerin und eine Prinzessin und erschien zu einem Zeitpunkt, als die Italomania in Paris grassierte. Sie kam also gerade zur rechten Zeit."
Die amerikanische Belgioioso-Biographin Beth Archer Brombert:
"In Frankreich, wo die Gleichberechtigung auf einem Level war wie sonst nirgends in Europa, wurde sie sehr schnell eine Symbolfigur der Emanzipation, selbst bei Leuten, die sie noch nie gesehen hatten."
Giorgio Cusatelli: "Die Belgioioso war eine legendenhafte Figur. Als Erstes: Eine Heldin des Risorgimento, eine Frau, die inmitten der Männer ihren Kampf geführt hat, die war Mithelferin, die war Bewerberin und so weiter."
Giorgio Cusatelli, Literaturwissenschaftler und Ordinarius an der Universitat Pavia:
"Sie können kein Buch über das Risorgimento lesen, wo die Belgioioso nicht erwähnt wird. Dann, zweite Interpretation der Moderne, besonders in den letzten Jahrzehnten. Das war eine Heldin, nicht eigentlich der feministischen Bewegung, sondern eine Verteidigerin der Rechte der Frau der modernen Welt.., die natürlich heute bedeutender ist als die vom Risorgimento."
Wer war diese aufregende 23-jährige, die von der österreichischen Geheimpolizei jahrzehntelang verfolgt wurde? Sie entstammt einem sehr alten lombardischen Adelsgeschlecht, der Familie Trivulzio. Aufgewachsen in einem Klima äußerster politischer Repression, wurden ihre patriotischen Instinkte schon früh geweckt. Ganz Norditalien war nach dem Zusammenbruch der napoleonischen Herrschaft wieder von den Habsburgern besetzt, die ein rigides Regiment führten.
In allen Schichten der Bevölkerung regte sich Widerstand. Auch Cristinas Familie, in Mailand ansässig, gehörte den aristokratischen Widerstandszirkeln an. Mit dreizehn musste sie erleben wie ihr Stiefvater abgeholt wurde und für Jahre im Kerker verschwand.
Bereits mit sechzehn Jahren heiratete Cristina den Prinzen Emilio di Belgioioso, einen notorischen Playboy.
Balzac: "....da hatte er ihr in aller Ruhe gesagt, sie solle sich doch auf die Suche nach einem primo cavaliere servente machen und ihr mehrere zur Auswahl angeboten. Die Prinzessin hatte geweint, der Prinz sie verlassen."
So überliefert Honoré de Balzac uns das unrühmliche Ende dieser erst frisch geschlossenen Ehe in seiner Novelle Massimilla Doni. Nach vier Jahren zieht sie den Schlussstrich für sich, und beschließt Mailand, den Schauplatz ihrer Demütigen zu verlassen. Die neugewonnene Freiheit wird sie kein zweites Mal mehr aufs Spiel setzen, auch nicht um den Preis gesellschaftlicher Diffamierung.
Die gerade 20-jährige schließt sich den Aktivisten der Freiheitsbewegung an, die ein konspiratives Netz quer durch Italien und im benachbarten Ausland geknüpft hatten.
Man darf sich das Risorgimento nicht als eine einheitliche Bewegung vorstellen. Der Geheimbund der Carbonari, der Kohlenbrenner zählte ebenso dazu wie der Kreis um den Republikaner Mazzini und viele kleinere sektiererische Gruppierungen, die alle nur in dem einen Ziel einig waren : der Vertreibung der Österreicher.
In den Kreisen dieser bunt gemischten Resistance lebt Cristina sichtlich auf. Sie schreibt Pamphlete, besorgt Pässe und ist als geheime Botin unterwegs. Von der österreichischen Geheimpolizei wird sie von nun an Tag und Nacht beschattet.
Im November 1830 flieht sie nach Frankreich. In Lyon trommelt sie ein Heer aus Freiwilligen zusammen, das die Lombardei von den Österreichern befreien soll. Doch das Unternehmen scheitert, da Frankreich seine Unterstützung auf Betreiben Metternichs im letzten Moment zurückzieht. Die restaurativen Kräfte hatten wieder einmal gesiegt.
In Paris, der ökonomisch expandierenden Metropole, dieser modernen Ellbogengesellschaft unter dem Bürgerkönig Louis Philippe, mit ihren Spekulanten und Emporkömmlingen, sah sie sich mit ganz neuen Problemen konfrontiert.
Belgioso: "Ich war absolut weltfremd. Ich konnte malen, Klavier spielen und singen, aber wie man ein Ei oder Fleisch kocht, wusste ich nicht."
Gegenüber der Madeleine mietet sie eine kleine Mansardenwohnung, mehr erlauben ihre Verhältnisse nicht. Ihr Vermögen hatte man beschlagnahmt. Durch Zeichenunterricht, Übersetzungen und politische Artikel zur ›questione italiana‹ hält sie sich über Wasser. Dank der väterlichen Freundschaft des 75-jährigen General La Fayette, des »Freiheitshelden der Alten und Neuen Welt", findet sie schnell Zugang zur Pariser Gesellschaft.
Brombert: "La Fayette war in den ersten Jahren ihres Pariser Exils zweifellos die wichtigste Person für Cristina. Er war überhaupt einer der wichtigsten Menschen in ihrem Leben. Er unterstützte sie, als die italienischen Aufständischen, die in österreichischen Gefängnissen saßen, auf ihre Hilfe angewiesen waren. Er nahm sie auch mit in die Deputiertenkammer, wo sie ihr Anliegen persönlich vortragen konnte."
La Fayette bringt sie auch mit den führenden Köpfen der Juli-Revolution zusammen. In diesem Kreis bekommt die spätere Historikerin entscheidende Anregungen, vor allem durch den Historiker François Mignet, mit dem sie ein Verhältnis einging, und der vermutlich der Vater ihrer 1838 geborenen Tochter Maria war. Im Theater sei sie höchst selten zu sehen, dafür regelmäßig in den Sitzungen der Deputiertenkammer, hieß es in einer österreichischen Aktennotiz. Balzac muss sie recht bald nach ihrer Ankunft in einem der renommierten Salons kennen gelernt haben. Der Autor der Menschlichen Komödie pflegte zu starken emanzipierten Frauen bekanntlich ein ambivalentes Verhältnis zu haben.
Balzac: "Schrecklicher Blaustrumpf. Vorgestern empfing sich mich mit Tintenklecksen auf ihrem Kleid."
… gab er naserümpfend zu Protokoll. Die politische Verve Cristinas, der Prinzessin Schönlustig, wie er scherzhaft ihren Namen übersetzte, muss ihn doch beeindruckt haben. Er machte sie nicht nur zur Heldin einer Novelle, er widmete ihr auch die Pariser Erzählung Gaudissart.
Die stärkste Faszination übte Cristinas Erscheinung allerdings auf einen Seelenverwandten aus: Heinrich Heine, der ungefähr zur gleichen Zeit wie sie als politischer Flüchtling nach Paris gekommen war, und natürlich ebenfalls von Metternichs Leuten beschattet wurde.
Heine: "Nie kommt mir dieses Gesicht aus dem Gedächtnisse. Es war eines jener Gesichter, die mehr dem Traumreich der Poesie als der rohen Wirklichkeit des Lebens zu gehören scheinen; Konturen, die an Da Vinci erinnern, jenes edle Oval mit den naiven Wangengrübchen und dem sentimental spitz zulaufenden Kinn der lombardischen Schule."
Brombert: "Eine Traumgestalt. In den Französischen Zuständen, in vielen Gedichten, wenn man weiß, wer sie ist und die Briefe kennt, findet man die Echos. Sie hat immer Züge einer Traumgestalt, sehr früh schon, bevor er nach Paris kam, beschreibt er in der Italienischen Reise eine Szene in der Kirche. Da schon hat er dieses Bild der italienischen Schönheit... Er sagte selbst, er macht einen Kult um sie, und so war es. Sie ist Teil eines poetischen Konstrukts, wie Laura, Beatrice. Traumfiguren, wenn sie als Idealprojektionen funktionieren sollen, müssen unerreichbar sein. Das erzeugt eine poetische Erregung, diese Vorstellung eines unerreichbaren Geschöpfs."
1836, nach Freigabe ihres Vermögens, zieht Cristina um in ein elegantes Palais in der Rue d‘Anjou. Hier eröffnet sie ihren neuen Salon, der in den folgenden Jahren zu den interessantesten in Paris gehören sollte. Die Personen, die sich hier trafen, machten politisch und literarisch Geschichte, die Konzerte, die hier aufgeführt wurden, gingen in die Musikgeschichte ein. Bei Cristina ging es betont leger zu. Man diskutierte hier die sozialrevolutionären Ideen von einer befreiten und gerechten Gesellschaft mit völliger Gleichberechtigung der Frauen, wie sie in den neugegründeten feministischen Zeitschriften dieses Jahrzehnts proklamiert wurde. Ständiges Thema der Emigranten waren natürlich die desolaten Verhältnisse in ihrem Lande.
Brombert: "Eins der berühmtesten Events in ihrem Salon fand im März 1837 statt. Das war ein Benefiz-Basar, für die italienischen Emigranten. Sie hat sogar erreicht, dass Mitglieder der Königsfamilie, zum Beispiel die Töchter von Louis Philippe sich daran beteiligten.
Schriftsteller spendierten Manuskripte, Bilder wurden eingesandt, es kam eine Menge Geld zusammen. Am letzten Tag gab es ein Konzert, die Eintrittskarten waren sofort ausverkauft, wegen Liszt und Thalberg, die Rücken an Rücken spielten."
Anfang der Vierzigerjahre, nach 10-jährigem Exil, kann Cristina Belgioioso nach einer Generalamnestie erstmals wieder in ihr Heimatland Italien zurück. In den kommenden Jahren pendelt sie zwischen Paris und Mailand, wo sie ein Landgut in Locate besitzt. Es entsteht in dieser Zeit eine Reihe großer Geschichtswerke, die ihren Ruf als erste Historikerin Italiens begründen. Zunächst ein 4-bändiges Werk über den Ursprung des christlichen Dogmas. Ohne die Autorität der Kirche prinzipiell untergraben zu wollen, stellt sie deren Unfehlbarkeitsanspruch infrage.
Brombert: "Die Dinge historisch anzugehen heißt, da gab es eine Zeit vorher. Das Dogma ist nicht ungeschichtlich, von Gott gegeben sozusagen. Das war das Ketzerische daran. Das hat auch eine politische Implikation. Der Absolutismus, ob in religiöser oder politischer Hinsicht, wurde hier infrage gestellt. Sie hatte den Mut dazu, den wohl kaum eine Frau damals gehabt hätte.
Was mich erstaunte, sie stimmte mit Origines, dem Kirchenvater darin überein, die Erbsünde zu leugnen, das ist bemerkenswert. Gut möglich, daß ihr eigenes unglückliches Gewissen- die Trennung von ihrem Mann - sie sensibilisierte, eine Rechtfertigung zu suchen, sich mutiger, freier den Glaubensfragen zu nähern.
Das Buch konnte natürlich nur in Frankreich erscheinen, sicher wusste damals in Italien niemand davon. "
Ihre ketzerischen Thesen erregten Aufsehen. Das Buch kam sofort auf den Index. Ihre unorthodoxe Art, mit der sie den Argumenten der Kirchenväter ohne jegliche scholastische Verrenkungen zu leibe rückte, fand unter aufgeklärteren Zeitgenossen viele Bewunderer. Der bedeutende Historiker Alexis de Tocqueville, Autor des Buches "Die Demokratie in Amerika" :
"...wahrlich ein Meisterwerk. Ihre Sprache ist so einfach und doch so elegant, kaum einer unserer Zeitgenossen besitzt einen solchen Stil."
In den folgenden Jahren schreibt sie noch eine Reihe größerer Abhandlungen, die ihren Ruf als ernstzunehmende Historikerin auch nach dem Urteil des damaligen Kritikerpapstes Sainte-Beuve festigen. Darunter eine neuere Geschichte der Lombardei unter österreichischer Fremdherrschaft. Hierin geht sie mit beiden, den Gegnern wie einigen prominenten Anführern des Risorgimento wie Confalonieri und Mazzini hart ins Gericht. Letzere haben in ihren Augen entweder durch zu zögerliches oder kopfloses Agieren viele Chancen verspielt. Obwohl sie mit den republikanischen Ideen Mazzinis sympathisiert, hält sie deren Verwirklichung in dem rückständigen und zersplitterten Italien für verfrüht, zumal sie noch keinen Rückhalt in der breiten Bevölkerung haben.
Cristina gründet mehrere politische Zeitschriften. In ihren Artikeln setzt sie sich für eine liberale konstitutionelle Monarchie nach englischem Vorbild ein. Doch erstes und oberstes Ziel sei vorerst die Befreiung und nationalstaatliche Einigung Italiens.
Im Revolutionsjahr 1848 brodelt es in ganz Europa. Wie ein Lauffeuer breiten sich die Unruhen auch in Oberitalien aus. In Rom ruft Mazzini die Republik aus, nachdem der Papst, der sich der Einigung widersetzt, geflohen ist. Vor dem Ansturm bewaffneter Bürgerwehren müssen sich die Österreicher vorübergehend aus der Lombardei zurückziehen. Auch Cristina Belgioioso, die diesen Tag herbeigesehnt und jahrelang für ihn publizistisch die Trommel gerührt hat, kämpft an der Spitze eines neapolitanischen Freicorps, an vorderster Front mit. Graf Hübner, ein österreichischer Diplomat, war bei Cristinas Ankunft in Mailand zufällig zugegen:
Graf Hübner: "In Mailand herrscht unendlicher Jubel. Etwa eine gewonnene Schlacht? Nein, das Freudengeschrei galt der Fürstin Belgioioso ... Eine dreifarbige Fahne in der Hand marschierte sie gravitätisch an der Spitze ihrer giovanni napolitani. Von den Balkonen und Fenstern wogten unzählige Taschentücher, und die Luft erscholl von dem Gebrüll des Vivat rufenden Publikums."
Doch die allgemeine Euphorie war wieder einmal verfrüht. Konfusion und Uneinigkeit unter den Aufständischen und die konzertierte Übermacht des Gegners führten dazu, daß schon nach wenigen Monaten die alten Machtverhältnisse wieder hergestellt waren. Das Schlimmste daran war für Cristina Belgioioso jedoch der Verrat von Louis Napoleon, der einst in seiner Carbonari-Zeit zugesichert hatte, Italien befreien zu helfen. Jetzt als der neue "Präsident der Franzosen" zögert er nicht, Rom unter tagelangem Blutvergießen in die Hände des Papstes zurück zu geben.
Giorgio Causarelli: "Und die Belgioioso hat Spitale für die Verwundete organisiert, die hat auch politische Erziehung gemacht, das war die Folge von der Teilnahme an dem Aufstand in Milano im Jahr vorher, das heißt 1848 gemacht hat."
Cristina bleibt wieder nur die Flucht ins Exil. Frankreich kommt als Zufluchtsort für sie jedoch nicht mehr infrage:
Belgioso: "Zwischen Frankreich und mir liegt ein Meer von Blut. Ohne triftigen Grund kann ich das Land nie wieder betreten."
Brombert: "Man hatte sie gewarnt. Sie stand auf einer Liste von gefährlichen Personen. Sie musste über Nacht mit ihrer Tochter und dem Kindermädchen fliehen und nahm ein Schiff in die Türkei."
Die nächsten sechs Jahre verbringt Cristina Belgioioso fernab von den Schauplätzen ständiger Niederlagen in einer abgelegenen Provinz in der Türkei.
Eine kurze Zeit hält sie sich in Konstantinopel auf. 200 km nördlich von Ankara kauft sie im Oktober 1850 das Landgut ›tchifflik‹ in Ciaq-Maq-Oglou.
Brombert: "Sie hatte die Idee, nach Art der Fourieristen eine Art Phalanstère zu gründen, eine Gemeinschaft, in der jeder mitarbeitet ... Eine Art Kommune. Sie dachte an etwas Ähnliches wie ihre Farm, die sie schon bei sich zuhause in Locate betrieben hatte."
In Locate hatte sie dafür gesorgt, dass den Kindern der Pächter und Bauern, Grundkenntnisse in Lesen und Schreiben beigebracht wurden. Sie hatte eine Küche für Bedürftige und Schlafplätze für Obdachlose organisiert, und die medizinische Grundversorgung ihrer Gemeinde - ein großes Projekt, das zeigt, dass sie es mit ihren sozialreformerischen Ideen ernst meinte. In Ciaq-Maq-Oglou ging es ihr vor allem darum, ihre italienischen Exilanten versorgen zu können, die auf dem Gut lebten.
Belgioso: "Ich habe Vieh und landwirtschaftliche Geräte, Weizen und Gerste gekauft, und eine Art Gemeindehaus bauen lassen, alles auf Kredit .. Die ersten drei Monate habe ich hier ohne einen Sou verbracht. Ali Pascha, der Minister, mein Beschützer aus Konstantinopel, hat dem hiesigen Gouverneur geschrieben, er soll keine Steuern für die ersten Monate verlangen. Der Gouverneur hat geantwortet, er werde in den nächsten sechs Jahren nichts von mir fordern, solange die Bevölkerung sich nicht beschwert. Die Gastfreundschaft, vor allem den Frauen gegenüber, ist hier fürwahr außergewöhnlich."
Über ihre Erlebnisse im vorderen Orient, die Reisen, die sie in diesen Jahren bis nach Jerusalem unternahm, berichtete sie für die Revue des Deux Mondes, für die sie früher schon geschrieben hatte. Viele Schriftsteller- wie Flaubert oder Lamartine und Nerval, hatten mit ihren Orientreiseberichten ein großes Publikum erreicht. Der Bedarf an Geschichten aus fernen Ländern war enorm. Für Korrespondenten aus Europa gehörte mindestens ein Harembesuch zum Pflichtprogramm.
Ueckmann: "Wenn man sich anguckt, was Flaubert oder Nerval geschrieben haben, …"
Natascha Ueckmann, Dozentin an der Universität Bremen
"... dann sind das doch, ja so könnte man sagen, ja verharmlosend gesagt, es gibt so ein erotisches Begegnungsmotiv zwischen europäischem Mann und orientalischer Frau. Man kann es auch anders nennen : Die Frauen stehen zur Verfügung als... Und das machen die Autorinnen einfach nicht.
Das ist wirklich die Dekonstruktion der femme fatale in so einen - vom Wunschtraum zum Alptraum. Das ist schon sehr sehr anders. Das ist auch verständlich, weil der Harem so ein textuelle Leerstelle in der Literatur war, wo die Frauen sich drauf stürzen konnten: so da haben wir jetzt einmal die Definitionsmacht. Da können wir jetzt einmal etwas zu sagen ..."
Brombert: "Sie beschreibt die Dinge, ohne sie beleidigend erscheinen zu lassen. Allerdings entsprachen diese Harems nicht den Vorstellungen, die man in Europa davon hatte."
Belgioso: "Man hatte uns von den Paradiesen der Schönheit und der Liebe berichtet : wir glaubten daran, so unwahrscheinlich und geschönt diese Beschreibungen auch sein mochten, und hofften an diesen verborgenen Orten den Inbegriff von Luxus, Raffinement, Schönheit und Wollust zu entdecken. Doch weit gefehlt.
Man stelle sich geschwärzte und rissige Wände vor, mit Löchern übersäte und mit Staub und Spinnweben überzogene Holzdecken, aufgeplatzte und schmutzige Sofas, zerfetzte Vorhänge, Lampenöl und Fett überall. Ich war schockiert, doch die Damen des Hauses nahmen keine Notiz davon. Sie selbst fühlen sich dort wohl. Sie putzen sich heraus, wann immer sich die Gelegenheit bietet. Da es aber nur wenige Spiegel gibt, können sie nicht sehen, wie bizarr das Ergebnis ist.
Sich grundlos ärgern, ohne Verstand sein, ständig dummes Zeug plappern, ... Geld ausgeben, ... sich krank stellen und ständig herumjammern, das sind ihre Privilegien."
Cristina setzt sich auch ausführlich mit dem Islam auseinander, was in dieser Zeit ungewöhnlich war für eine Frau.
Ueckmann: "Bei den Frauen, die ich gelesen habe, da taucht der Islam nicht wirklich auf als etwas, mit dem man sich auseinanderzusetzen hat. Die fangen nicht an den Koran zu lesen. Ganz selten, dass einmal eine Frau, eine orientalische Frau die Stimme bekommt und sich selbst repräsentieren kann."
Belgioso: "Viele Jahre trennen mich von der Epoche, in der ich den Koran zum ersten Mal las. Mich frappierten die bizarren Seiten dieses Buches. Ich konnte einfach nicht verstehen, wie diese Doktrinen so viele Seelen einfangen .. konnten. Ich wundere mich heute nicht mehr. Ich habe den Orient gesehen. Und das Christentum ausgenommen, glaube ich, so ist Mohammeds Lehre allem was vorher da war, überlegen. (...) Mohammeds Ziel war es, ein Heer gehorsamer Untertanen zusammenzustellen, das den Anforderungen eines großen militärischen Unternehmens gewachsen war ...."
Cusatelli: "Wir müssen vermeiden, sagt die Belgioioso, daß dieser Streit zwischen Mohammedanern und Katholiken gefährlich werde. Der Friede muss sich etablieren durch Toleranz. Das liest sich wie ein Buch von heute. "
1852 unternimmt Cristina Belgioioso eine lange 11 Monate dauernde Pilgerreise nach Jerusalem. Mit Pferd und Esel geht es über Kappadokien, Syrien nach Palästina ins Heilige Land. Und von da, nach einem längeren Aufenthalt und Streifzügen zu den heiligen Stätten, über Damaskus, Aleppo wieder in die Türkei zurück.
Wie die legendäre Isabelle Eberhardt, suchte auch Cristina Belgioioso im Orient das Abenteuer radikaler Selbsterfahrung, das bekanntlich nur unter Extrembedingungen möglich ist:
Ueckmann: "So eine wie Isabelle Eberhardt, die Anfang des 20. Jahrhunderts nach Algerien gereist ist, das war wirklich Reisen als Selbstversuch, Reisen, um an die eigene Grenze zu kommen, um sich auszuprobieren. Die hat sich als Mann verkleidet, die ist zum Islam übergetreten, ist in eine Bruderschaft aufgenommen worden, die ist mit 27 ums Leben gekommen unter sehr mysteriösen Umständen, die hat wirklich die Isolation in der Wüste gesucht. Das war eine Art Selbstversuch, wie weit kann man ich mit mir gehen."
Und wie Isabelle Eberhardt wollte auch Cristina nicht auf eine konventionelle Rolle fixiert werden. Eben das wurde ihr bis in ihre posthume Rezeption nicht verziehen. Als eine starke und unangepasste Persönlichkeit hatte sie das Unglück, Neid und Häme von Männern wie von Frauen auf sich zu ziehen. Vor ihrer Rückkehr 1855 nach Europa kommt es auf ihrem Landgut in Anatolien zu einer Affekttat. Ihrem alten Pariser Freund Thierry berichtet sie davon :
Belgioso: "Ja es ist wahr, man hat versucht mich umzubringen, mit sieben Dolchstichen. Der eine in die linke Seite, der andere ins Rückenmark und ein dritter in die linke Brust. Die Verletzungen am Oberschenkel und an der Hand sind im Vergleich dazu nichts. Der Täter ist weder Türke noch Araber, noch Grieche, weder Armenier, Kurde oder Asiate. Es ist ein Italiener aus Bergamo, der bei mir ...als Lagerverwalter angestellt war. - Ja, gibt‘s das? - Als er hier anfing, zog er sich eine lange schwere Erkrankung zu. Ich pflegte ihn gesund. Warum hat er diese fürchterliche Tat begangen. Ich weiß es nicht, wenn es nicht einfach Jähzorn war. Er ist jetzt in den Händen der Justiz, die ihn verdächtigt, von den Österreichern gedungen zu sein. Wir werden sehen, was dabei herauskommt. Nach meiner Überzeugung ist er nur den Eingebungen seiner schrecklichen Natur gefolgt ..."
Obwohl sich politisch nach ihrer Rückkehr in die Lombardei dort vieles zum Besseren gewandelt hatte, war die soziale Lage insbesondere der Frauen in Italien nach wie vor bedrückend. Der Unterschied zwischen den Kulturen in puncto Abhängigkeit vom Mann in ihren Augen nur graduell. Deshalb forderte sie eine grundlegende Reformierung des Bildungswesens.
Brombert: "Das war ihre primäre Forderung, auch Frauen, jungen Mädchen eine Schulbildung zu gewähren. Was sie schreibt, klingt schon wie aus der Zeit nach der women's liberation - Bewegung. Sie forderte kostenlose Schulbildung und gleiche Berufschancen für Frauen. Wobei sie schon sehr genau das damit verbundene Problem vorhersah, dass Frauen, die von dem traditionellen Frauenbild abweichen, sich dem Vorwurf aussetzen, ihre natürlichen Pflichten als Ehefrau und Mutter zu vernachlässigen."
Cristina gründete noch in ihren letzten Lebensjahren eine politische Zeitung, in der sie sich für die liberale Politik Cavours einsetzt, dessen diplomatischem Geschick Italien nicht zuletzt seine Befreiung und Einigung verdankt. Noch vor ihrem Tod 1871 sah sie dieses Ziel, für das sie ein Leben lang gekämpft hatte, für ganz Italien Wirklichkeit werden.
Brombert: "Sie war die erste professionelle Schriftstellerin, Historikerin und Publizistin Italiens. Sie war lange bevor sie starb eine berühmte Figur. Aber eine sehr kontroverse Figur. In Frankreich war sie wirklich berühmt. In Italien wurde sie sicherlich eher widerwillig respektiert als bewundert. Es gab da noch immer Vorurteile Frauen gegenüber in einer Domäne, die als unweiblich galt. Wäre sie bloß eine Schriftstellerin und Dichterin geblieben, wäre das in Ordnung gewesen. Aber die Tatsache, dass sie sich in die Politik einmischte, war einfach inakzeptabel. .. Italien hat sich wirklich nicht um ihren Nachruhm verdient gemacht, ohne Frankreich hätte es nie geklappt. "
Cusatelli: "Sie war eine Ausnahme im Panorama des 19. Jahrhunderts. Sie war eine dynamische Frau bis zum letzten Moment ihres Lebens."
Brombert: "Es ist unglaublich, diese Frau, die vor 200 Jahren geboren wurde, ist wirklich ein Emblem der modernen Frau von heute."
Die amerikanische Belgioioso-Biographin Beth Archer Brombert:
"In Frankreich, wo die Gleichberechtigung auf einem Level war wie sonst nirgends in Europa, wurde sie sehr schnell eine Symbolfigur der Emanzipation, selbst bei Leuten, die sie noch nie gesehen hatten."
Giorgio Cusatelli: "Die Belgioioso war eine legendenhafte Figur. Als Erstes: Eine Heldin des Risorgimento, eine Frau, die inmitten der Männer ihren Kampf geführt hat, die war Mithelferin, die war Bewerberin und so weiter."
Giorgio Cusatelli, Literaturwissenschaftler und Ordinarius an der Universitat Pavia:
"Sie können kein Buch über das Risorgimento lesen, wo die Belgioioso nicht erwähnt wird. Dann, zweite Interpretation der Moderne, besonders in den letzten Jahrzehnten. Das war eine Heldin, nicht eigentlich der feministischen Bewegung, sondern eine Verteidigerin der Rechte der Frau der modernen Welt.., die natürlich heute bedeutender ist als die vom Risorgimento."
Wer war diese aufregende 23-jährige, die von der österreichischen Geheimpolizei jahrzehntelang verfolgt wurde? Sie entstammt einem sehr alten lombardischen Adelsgeschlecht, der Familie Trivulzio. Aufgewachsen in einem Klima äußerster politischer Repression, wurden ihre patriotischen Instinkte schon früh geweckt. Ganz Norditalien war nach dem Zusammenbruch der napoleonischen Herrschaft wieder von den Habsburgern besetzt, die ein rigides Regiment führten.
In allen Schichten der Bevölkerung regte sich Widerstand. Auch Cristinas Familie, in Mailand ansässig, gehörte den aristokratischen Widerstandszirkeln an. Mit dreizehn musste sie erleben wie ihr Stiefvater abgeholt wurde und für Jahre im Kerker verschwand.
Bereits mit sechzehn Jahren heiratete Cristina den Prinzen Emilio di Belgioioso, einen notorischen Playboy.
Balzac: "....da hatte er ihr in aller Ruhe gesagt, sie solle sich doch auf die Suche nach einem primo cavaliere servente machen und ihr mehrere zur Auswahl angeboten. Die Prinzessin hatte geweint, der Prinz sie verlassen."
So überliefert Honoré de Balzac uns das unrühmliche Ende dieser erst frisch geschlossenen Ehe in seiner Novelle Massimilla Doni. Nach vier Jahren zieht sie den Schlussstrich für sich, und beschließt Mailand, den Schauplatz ihrer Demütigen zu verlassen. Die neugewonnene Freiheit wird sie kein zweites Mal mehr aufs Spiel setzen, auch nicht um den Preis gesellschaftlicher Diffamierung.
Die gerade 20-jährige schließt sich den Aktivisten der Freiheitsbewegung an, die ein konspiratives Netz quer durch Italien und im benachbarten Ausland geknüpft hatten.
Man darf sich das Risorgimento nicht als eine einheitliche Bewegung vorstellen. Der Geheimbund der Carbonari, der Kohlenbrenner zählte ebenso dazu wie der Kreis um den Republikaner Mazzini und viele kleinere sektiererische Gruppierungen, die alle nur in dem einen Ziel einig waren : der Vertreibung der Österreicher.
In den Kreisen dieser bunt gemischten Resistance lebt Cristina sichtlich auf. Sie schreibt Pamphlete, besorgt Pässe und ist als geheime Botin unterwegs. Von der österreichischen Geheimpolizei wird sie von nun an Tag und Nacht beschattet.
Im November 1830 flieht sie nach Frankreich. In Lyon trommelt sie ein Heer aus Freiwilligen zusammen, das die Lombardei von den Österreichern befreien soll. Doch das Unternehmen scheitert, da Frankreich seine Unterstützung auf Betreiben Metternichs im letzten Moment zurückzieht. Die restaurativen Kräfte hatten wieder einmal gesiegt.
In Paris, der ökonomisch expandierenden Metropole, dieser modernen Ellbogengesellschaft unter dem Bürgerkönig Louis Philippe, mit ihren Spekulanten und Emporkömmlingen, sah sie sich mit ganz neuen Problemen konfrontiert.
Belgioso: "Ich war absolut weltfremd. Ich konnte malen, Klavier spielen und singen, aber wie man ein Ei oder Fleisch kocht, wusste ich nicht."
Gegenüber der Madeleine mietet sie eine kleine Mansardenwohnung, mehr erlauben ihre Verhältnisse nicht. Ihr Vermögen hatte man beschlagnahmt. Durch Zeichenunterricht, Übersetzungen und politische Artikel zur ›questione italiana‹ hält sie sich über Wasser. Dank der väterlichen Freundschaft des 75-jährigen General La Fayette, des »Freiheitshelden der Alten und Neuen Welt", findet sie schnell Zugang zur Pariser Gesellschaft.
Brombert: "La Fayette war in den ersten Jahren ihres Pariser Exils zweifellos die wichtigste Person für Cristina. Er war überhaupt einer der wichtigsten Menschen in ihrem Leben. Er unterstützte sie, als die italienischen Aufständischen, die in österreichischen Gefängnissen saßen, auf ihre Hilfe angewiesen waren. Er nahm sie auch mit in die Deputiertenkammer, wo sie ihr Anliegen persönlich vortragen konnte."
La Fayette bringt sie auch mit den führenden Köpfen der Juli-Revolution zusammen. In diesem Kreis bekommt die spätere Historikerin entscheidende Anregungen, vor allem durch den Historiker François Mignet, mit dem sie ein Verhältnis einging, und der vermutlich der Vater ihrer 1838 geborenen Tochter Maria war. Im Theater sei sie höchst selten zu sehen, dafür regelmäßig in den Sitzungen der Deputiertenkammer, hieß es in einer österreichischen Aktennotiz. Balzac muss sie recht bald nach ihrer Ankunft in einem der renommierten Salons kennen gelernt haben. Der Autor der Menschlichen Komödie pflegte zu starken emanzipierten Frauen bekanntlich ein ambivalentes Verhältnis zu haben.
Balzac: "Schrecklicher Blaustrumpf. Vorgestern empfing sich mich mit Tintenklecksen auf ihrem Kleid."
… gab er naserümpfend zu Protokoll. Die politische Verve Cristinas, der Prinzessin Schönlustig, wie er scherzhaft ihren Namen übersetzte, muss ihn doch beeindruckt haben. Er machte sie nicht nur zur Heldin einer Novelle, er widmete ihr auch die Pariser Erzählung Gaudissart.
Die stärkste Faszination übte Cristinas Erscheinung allerdings auf einen Seelenverwandten aus: Heinrich Heine, der ungefähr zur gleichen Zeit wie sie als politischer Flüchtling nach Paris gekommen war, und natürlich ebenfalls von Metternichs Leuten beschattet wurde.
Heine: "Nie kommt mir dieses Gesicht aus dem Gedächtnisse. Es war eines jener Gesichter, die mehr dem Traumreich der Poesie als der rohen Wirklichkeit des Lebens zu gehören scheinen; Konturen, die an Da Vinci erinnern, jenes edle Oval mit den naiven Wangengrübchen und dem sentimental spitz zulaufenden Kinn der lombardischen Schule."
Brombert: "Eine Traumgestalt. In den Französischen Zuständen, in vielen Gedichten, wenn man weiß, wer sie ist und die Briefe kennt, findet man die Echos. Sie hat immer Züge einer Traumgestalt, sehr früh schon, bevor er nach Paris kam, beschreibt er in der Italienischen Reise eine Szene in der Kirche. Da schon hat er dieses Bild der italienischen Schönheit... Er sagte selbst, er macht einen Kult um sie, und so war es. Sie ist Teil eines poetischen Konstrukts, wie Laura, Beatrice. Traumfiguren, wenn sie als Idealprojektionen funktionieren sollen, müssen unerreichbar sein. Das erzeugt eine poetische Erregung, diese Vorstellung eines unerreichbaren Geschöpfs."
1836, nach Freigabe ihres Vermögens, zieht Cristina um in ein elegantes Palais in der Rue d‘Anjou. Hier eröffnet sie ihren neuen Salon, der in den folgenden Jahren zu den interessantesten in Paris gehören sollte. Die Personen, die sich hier trafen, machten politisch und literarisch Geschichte, die Konzerte, die hier aufgeführt wurden, gingen in die Musikgeschichte ein. Bei Cristina ging es betont leger zu. Man diskutierte hier die sozialrevolutionären Ideen von einer befreiten und gerechten Gesellschaft mit völliger Gleichberechtigung der Frauen, wie sie in den neugegründeten feministischen Zeitschriften dieses Jahrzehnts proklamiert wurde. Ständiges Thema der Emigranten waren natürlich die desolaten Verhältnisse in ihrem Lande.
Brombert: "Eins der berühmtesten Events in ihrem Salon fand im März 1837 statt. Das war ein Benefiz-Basar, für die italienischen Emigranten. Sie hat sogar erreicht, dass Mitglieder der Königsfamilie, zum Beispiel die Töchter von Louis Philippe sich daran beteiligten.
Schriftsteller spendierten Manuskripte, Bilder wurden eingesandt, es kam eine Menge Geld zusammen. Am letzten Tag gab es ein Konzert, die Eintrittskarten waren sofort ausverkauft, wegen Liszt und Thalberg, die Rücken an Rücken spielten."
Anfang der Vierzigerjahre, nach 10-jährigem Exil, kann Cristina Belgioioso nach einer Generalamnestie erstmals wieder in ihr Heimatland Italien zurück. In den kommenden Jahren pendelt sie zwischen Paris und Mailand, wo sie ein Landgut in Locate besitzt. Es entsteht in dieser Zeit eine Reihe großer Geschichtswerke, die ihren Ruf als erste Historikerin Italiens begründen. Zunächst ein 4-bändiges Werk über den Ursprung des christlichen Dogmas. Ohne die Autorität der Kirche prinzipiell untergraben zu wollen, stellt sie deren Unfehlbarkeitsanspruch infrage.
Brombert: "Die Dinge historisch anzugehen heißt, da gab es eine Zeit vorher. Das Dogma ist nicht ungeschichtlich, von Gott gegeben sozusagen. Das war das Ketzerische daran. Das hat auch eine politische Implikation. Der Absolutismus, ob in religiöser oder politischer Hinsicht, wurde hier infrage gestellt. Sie hatte den Mut dazu, den wohl kaum eine Frau damals gehabt hätte.
Was mich erstaunte, sie stimmte mit Origines, dem Kirchenvater darin überein, die Erbsünde zu leugnen, das ist bemerkenswert. Gut möglich, daß ihr eigenes unglückliches Gewissen- die Trennung von ihrem Mann - sie sensibilisierte, eine Rechtfertigung zu suchen, sich mutiger, freier den Glaubensfragen zu nähern.
Das Buch konnte natürlich nur in Frankreich erscheinen, sicher wusste damals in Italien niemand davon. "
Ihre ketzerischen Thesen erregten Aufsehen. Das Buch kam sofort auf den Index. Ihre unorthodoxe Art, mit der sie den Argumenten der Kirchenväter ohne jegliche scholastische Verrenkungen zu leibe rückte, fand unter aufgeklärteren Zeitgenossen viele Bewunderer. Der bedeutende Historiker Alexis de Tocqueville, Autor des Buches "Die Demokratie in Amerika" :
"...wahrlich ein Meisterwerk. Ihre Sprache ist so einfach und doch so elegant, kaum einer unserer Zeitgenossen besitzt einen solchen Stil."
In den folgenden Jahren schreibt sie noch eine Reihe größerer Abhandlungen, die ihren Ruf als ernstzunehmende Historikerin auch nach dem Urteil des damaligen Kritikerpapstes Sainte-Beuve festigen. Darunter eine neuere Geschichte der Lombardei unter österreichischer Fremdherrschaft. Hierin geht sie mit beiden, den Gegnern wie einigen prominenten Anführern des Risorgimento wie Confalonieri und Mazzini hart ins Gericht. Letzere haben in ihren Augen entweder durch zu zögerliches oder kopfloses Agieren viele Chancen verspielt. Obwohl sie mit den republikanischen Ideen Mazzinis sympathisiert, hält sie deren Verwirklichung in dem rückständigen und zersplitterten Italien für verfrüht, zumal sie noch keinen Rückhalt in der breiten Bevölkerung haben.
Cristina gründet mehrere politische Zeitschriften. In ihren Artikeln setzt sie sich für eine liberale konstitutionelle Monarchie nach englischem Vorbild ein. Doch erstes und oberstes Ziel sei vorerst die Befreiung und nationalstaatliche Einigung Italiens.
Im Revolutionsjahr 1848 brodelt es in ganz Europa. Wie ein Lauffeuer breiten sich die Unruhen auch in Oberitalien aus. In Rom ruft Mazzini die Republik aus, nachdem der Papst, der sich der Einigung widersetzt, geflohen ist. Vor dem Ansturm bewaffneter Bürgerwehren müssen sich die Österreicher vorübergehend aus der Lombardei zurückziehen. Auch Cristina Belgioioso, die diesen Tag herbeigesehnt und jahrelang für ihn publizistisch die Trommel gerührt hat, kämpft an der Spitze eines neapolitanischen Freicorps, an vorderster Front mit. Graf Hübner, ein österreichischer Diplomat, war bei Cristinas Ankunft in Mailand zufällig zugegen:
Graf Hübner: "In Mailand herrscht unendlicher Jubel. Etwa eine gewonnene Schlacht? Nein, das Freudengeschrei galt der Fürstin Belgioioso ... Eine dreifarbige Fahne in der Hand marschierte sie gravitätisch an der Spitze ihrer giovanni napolitani. Von den Balkonen und Fenstern wogten unzählige Taschentücher, und die Luft erscholl von dem Gebrüll des Vivat rufenden Publikums."
Doch die allgemeine Euphorie war wieder einmal verfrüht. Konfusion und Uneinigkeit unter den Aufständischen und die konzertierte Übermacht des Gegners führten dazu, daß schon nach wenigen Monaten die alten Machtverhältnisse wieder hergestellt waren. Das Schlimmste daran war für Cristina Belgioioso jedoch der Verrat von Louis Napoleon, der einst in seiner Carbonari-Zeit zugesichert hatte, Italien befreien zu helfen. Jetzt als der neue "Präsident der Franzosen" zögert er nicht, Rom unter tagelangem Blutvergießen in die Hände des Papstes zurück zu geben.
Giorgio Causarelli: "Und die Belgioioso hat Spitale für die Verwundete organisiert, die hat auch politische Erziehung gemacht, das war die Folge von der Teilnahme an dem Aufstand in Milano im Jahr vorher, das heißt 1848 gemacht hat."
Cristina bleibt wieder nur die Flucht ins Exil. Frankreich kommt als Zufluchtsort für sie jedoch nicht mehr infrage:
Belgioso: "Zwischen Frankreich und mir liegt ein Meer von Blut. Ohne triftigen Grund kann ich das Land nie wieder betreten."
Brombert: "Man hatte sie gewarnt. Sie stand auf einer Liste von gefährlichen Personen. Sie musste über Nacht mit ihrer Tochter und dem Kindermädchen fliehen und nahm ein Schiff in die Türkei."
Die nächsten sechs Jahre verbringt Cristina Belgioioso fernab von den Schauplätzen ständiger Niederlagen in einer abgelegenen Provinz in der Türkei.
Eine kurze Zeit hält sie sich in Konstantinopel auf. 200 km nördlich von Ankara kauft sie im Oktober 1850 das Landgut ›tchifflik‹ in Ciaq-Maq-Oglou.
Brombert: "Sie hatte die Idee, nach Art der Fourieristen eine Art Phalanstère zu gründen, eine Gemeinschaft, in der jeder mitarbeitet ... Eine Art Kommune. Sie dachte an etwas Ähnliches wie ihre Farm, die sie schon bei sich zuhause in Locate betrieben hatte."
In Locate hatte sie dafür gesorgt, dass den Kindern der Pächter und Bauern, Grundkenntnisse in Lesen und Schreiben beigebracht wurden. Sie hatte eine Küche für Bedürftige und Schlafplätze für Obdachlose organisiert, und die medizinische Grundversorgung ihrer Gemeinde - ein großes Projekt, das zeigt, dass sie es mit ihren sozialreformerischen Ideen ernst meinte. In Ciaq-Maq-Oglou ging es ihr vor allem darum, ihre italienischen Exilanten versorgen zu können, die auf dem Gut lebten.
Belgioso: "Ich habe Vieh und landwirtschaftliche Geräte, Weizen und Gerste gekauft, und eine Art Gemeindehaus bauen lassen, alles auf Kredit .. Die ersten drei Monate habe ich hier ohne einen Sou verbracht. Ali Pascha, der Minister, mein Beschützer aus Konstantinopel, hat dem hiesigen Gouverneur geschrieben, er soll keine Steuern für die ersten Monate verlangen. Der Gouverneur hat geantwortet, er werde in den nächsten sechs Jahren nichts von mir fordern, solange die Bevölkerung sich nicht beschwert. Die Gastfreundschaft, vor allem den Frauen gegenüber, ist hier fürwahr außergewöhnlich."
Über ihre Erlebnisse im vorderen Orient, die Reisen, die sie in diesen Jahren bis nach Jerusalem unternahm, berichtete sie für die Revue des Deux Mondes, für die sie früher schon geschrieben hatte. Viele Schriftsteller- wie Flaubert oder Lamartine und Nerval, hatten mit ihren Orientreiseberichten ein großes Publikum erreicht. Der Bedarf an Geschichten aus fernen Ländern war enorm. Für Korrespondenten aus Europa gehörte mindestens ein Harembesuch zum Pflichtprogramm.
Ueckmann: "Wenn man sich anguckt, was Flaubert oder Nerval geschrieben haben, …"
Natascha Ueckmann, Dozentin an der Universität Bremen
"... dann sind das doch, ja so könnte man sagen, ja verharmlosend gesagt, es gibt so ein erotisches Begegnungsmotiv zwischen europäischem Mann und orientalischer Frau. Man kann es auch anders nennen : Die Frauen stehen zur Verfügung als... Und das machen die Autorinnen einfach nicht.
Das ist wirklich die Dekonstruktion der femme fatale in so einen - vom Wunschtraum zum Alptraum. Das ist schon sehr sehr anders. Das ist auch verständlich, weil der Harem so ein textuelle Leerstelle in der Literatur war, wo die Frauen sich drauf stürzen konnten: so da haben wir jetzt einmal die Definitionsmacht. Da können wir jetzt einmal etwas zu sagen ..."
Brombert: "Sie beschreibt die Dinge, ohne sie beleidigend erscheinen zu lassen. Allerdings entsprachen diese Harems nicht den Vorstellungen, die man in Europa davon hatte."
Belgioso: "Man hatte uns von den Paradiesen der Schönheit und der Liebe berichtet : wir glaubten daran, so unwahrscheinlich und geschönt diese Beschreibungen auch sein mochten, und hofften an diesen verborgenen Orten den Inbegriff von Luxus, Raffinement, Schönheit und Wollust zu entdecken. Doch weit gefehlt.
Man stelle sich geschwärzte und rissige Wände vor, mit Löchern übersäte und mit Staub und Spinnweben überzogene Holzdecken, aufgeplatzte und schmutzige Sofas, zerfetzte Vorhänge, Lampenöl und Fett überall. Ich war schockiert, doch die Damen des Hauses nahmen keine Notiz davon. Sie selbst fühlen sich dort wohl. Sie putzen sich heraus, wann immer sich die Gelegenheit bietet. Da es aber nur wenige Spiegel gibt, können sie nicht sehen, wie bizarr das Ergebnis ist.
Sich grundlos ärgern, ohne Verstand sein, ständig dummes Zeug plappern, ... Geld ausgeben, ... sich krank stellen und ständig herumjammern, das sind ihre Privilegien."
Cristina setzt sich auch ausführlich mit dem Islam auseinander, was in dieser Zeit ungewöhnlich war für eine Frau.
Ueckmann: "Bei den Frauen, die ich gelesen habe, da taucht der Islam nicht wirklich auf als etwas, mit dem man sich auseinanderzusetzen hat. Die fangen nicht an den Koran zu lesen. Ganz selten, dass einmal eine Frau, eine orientalische Frau die Stimme bekommt und sich selbst repräsentieren kann."
Belgioso: "Viele Jahre trennen mich von der Epoche, in der ich den Koran zum ersten Mal las. Mich frappierten die bizarren Seiten dieses Buches. Ich konnte einfach nicht verstehen, wie diese Doktrinen so viele Seelen einfangen .. konnten. Ich wundere mich heute nicht mehr. Ich habe den Orient gesehen. Und das Christentum ausgenommen, glaube ich, so ist Mohammeds Lehre allem was vorher da war, überlegen. (...) Mohammeds Ziel war es, ein Heer gehorsamer Untertanen zusammenzustellen, das den Anforderungen eines großen militärischen Unternehmens gewachsen war ...."
Cusatelli: "Wir müssen vermeiden, sagt die Belgioioso, daß dieser Streit zwischen Mohammedanern und Katholiken gefährlich werde. Der Friede muss sich etablieren durch Toleranz. Das liest sich wie ein Buch von heute. "
1852 unternimmt Cristina Belgioioso eine lange 11 Monate dauernde Pilgerreise nach Jerusalem. Mit Pferd und Esel geht es über Kappadokien, Syrien nach Palästina ins Heilige Land. Und von da, nach einem längeren Aufenthalt und Streifzügen zu den heiligen Stätten, über Damaskus, Aleppo wieder in die Türkei zurück.
Wie die legendäre Isabelle Eberhardt, suchte auch Cristina Belgioioso im Orient das Abenteuer radikaler Selbsterfahrung, das bekanntlich nur unter Extrembedingungen möglich ist:
Ueckmann: "So eine wie Isabelle Eberhardt, die Anfang des 20. Jahrhunderts nach Algerien gereist ist, das war wirklich Reisen als Selbstversuch, Reisen, um an die eigene Grenze zu kommen, um sich auszuprobieren. Die hat sich als Mann verkleidet, die ist zum Islam übergetreten, ist in eine Bruderschaft aufgenommen worden, die ist mit 27 ums Leben gekommen unter sehr mysteriösen Umständen, die hat wirklich die Isolation in der Wüste gesucht. Das war eine Art Selbstversuch, wie weit kann man ich mit mir gehen."
Und wie Isabelle Eberhardt wollte auch Cristina nicht auf eine konventionelle Rolle fixiert werden. Eben das wurde ihr bis in ihre posthume Rezeption nicht verziehen. Als eine starke und unangepasste Persönlichkeit hatte sie das Unglück, Neid und Häme von Männern wie von Frauen auf sich zu ziehen. Vor ihrer Rückkehr 1855 nach Europa kommt es auf ihrem Landgut in Anatolien zu einer Affekttat. Ihrem alten Pariser Freund Thierry berichtet sie davon :
Belgioso: "Ja es ist wahr, man hat versucht mich umzubringen, mit sieben Dolchstichen. Der eine in die linke Seite, der andere ins Rückenmark und ein dritter in die linke Brust. Die Verletzungen am Oberschenkel und an der Hand sind im Vergleich dazu nichts. Der Täter ist weder Türke noch Araber, noch Grieche, weder Armenier, Kurde oder Asiate. Es ist ein Italiener aus Bergamo, der bei mir ...als Lagerverwalter angestellt war. - Ja, gibt‘s das? - Als er hier anfing, zog er sich eine lange schwere Erkrankung zu. Ich pflegte ihn gesund. Warum hat er diese fürchterliche Tat begangen. Ich weiß es nicht, wenn es nicht einfach Jähzorn war. Er ist jetzt in den Händen der Justiz, die ihn verdächtigt, von den Österreichern gedungen zu sein. Wir werden sehen, was dabei herauskommt. Nach meiner Überzeugung ist er nur den Eingebungen seiner schrecklichen Natur gefolgt ..."
Obwohl sich politisch nach ihrer Rückkehr in die Lombardei dort vieles zum Besseren gewandelt hatte, war die soziale Lage insbesondere der Frauen in Italien nach wie vor bedrückend. Der Unterschied zwischen den Kulturen in puncto Abhängigkeit vom Mann in ihren Augen nur graduell. Deshalb forderte sie eine grundlegende Reformierung des Bildungswesens.
Brombert: "Das war ihre primäre Forderung, auch Frauen, jungen Mädchen eine Schulbildung zu gewähren. Was sie schreibt, klingt schon wie aus der Zeit nach der women's liberation - Bewegung. Sie forderte kostenlose Schulbildung und gleiche Berufschancen für Frauen. Wobei sie schon sehr genau das damit verbundene Problem vorhersah, dass Frauen, die von dem traditionellen Frauenbild abweichen, sich dem Vorwurf aussetzen, ihre natürlichen Pflichten als Ehefrau und Mutter zu vernachlässigen."
Cristina gründete noch in ihren letzten Lebensjahren eine politische Zeitung, in der sie sich für die liberale Politik Cavours einsetzt, dessen diplomatischem Geschick Italien nicht zuletzt seine Befreiung und Einigung verdankt. Noch vor ihrem Tod 1871 sah sie dieses Ziel, für das sie ein Leben lang gekämpft hatte, für ganz Italien Wirklichkeit werden.
Brombert: "Sie war die erste professionelle Schriftstellerin, Historikerin und Publizistin Italiens. Sie war lange bevor sie starb eine berühmte Figur. Aber eine sehr kontroverse Figur. In Frankreich war sie wirklich berühmt. In Italien wurde sie sicherlich eher widerwillig respektiert als bewundert. Es gab da noch immer Vorurteile Frauen gegenüber in einer Domäne, die als unweiblich galt. Wäre sie bloß eine Schriftstellerin und Dichterin geblieben, wäre das in Ordnung gewesen. Aber die Tatsache, dass sie sich in die Politik einmischte, war einfach inakzeptabel. .. Italien hat sich wirklich nicht um ihren Nachruhm verdient gemacht, ohne Frankreich hätte es nie geklappt. "
Cusatelli: "Sie war eine Ausnahme im Panorama des 19. Jahrhunderts. Sie war eine dynamische Frau bis zum letzten Moment ihres Lebens."
Brombert: "Es ist unglaublich, diese Frau, die vor 200 Jahren geboren wurde, ist wirklich ein Emblem der modernen Frau von heute."