Das Mädchen im roten Mantel
Ein großer Platz im Stadtteil Podgorze. Eine große, weit ausladende Brücke über die Weichsel. Sie verbindet die imposante Krakauer Altstadt mit diesem Stadtteil, der mit einem Denkmal beginnt. Auf dem Platz stehen unzählige graue, überdimensionierte, leere Stühle. Sie sollen zeigen, die Menschen sind verschwunden, verschleppt, ermordet. Krakaus Juden sind fast alle von den Nazis ermordet. Wenige haben überlebt. In Steven Spielbergs Film "Schindlers Liste" wird das Mädchen im roten Mantel getötet. Ein Mädchen im roten Mantel hat es wirklich gegeben: Roma Ligocka. Sie hat überlebt. Kehrt an den Ort des Schreckens, der Verbrechen zurück.
"Das bin ich, ja. Das Kind hat sich also selbstständig gemacht nach meinem Buch und das ist vielleicht die Befreiung, dass das Kind so ein bisschen ein eigenes Leben hat. Es ist in mir und wird immer in mir sein. Aber, mir ist klar, es lebt auch ohne mich. Und das befreit mich ein bisschen von dieser Last, dem Kind meine Stimme zu leihen."
"Die Kinder wurden einfach erschossen. Das war das Einfachste, Kinder in einen Haufen zusammen zu tun und, um Munition zu sparen, die einfach zusammen zu erschießen, wie, weiß ich nicht. Ratten oder, nicht mal Ratten behandelt man heute so. Deswegen sind ganz wenige aus meiner Generation geblieben."
"Wir sind jetzt an einem Ort, an dem ich sehr ungern bin. Auch jetzt, nach über 60 Jahren. Das ist der Platz vom Ghetto, wo die Menschen aus allen Stadtteilen, gut gekleidet, mit ihrem Hab und Gut einfach über Nacht ihre Sachen packen mussten. Zu Fuß über die Brücke, über die Weichsel gehen mussten und standen alle an diesem Platz, wurden zwangseingeteilt in Wohnungen, in denen sieben Personen pro Fenster wohnen durften. In einer ganz verkommenen, hässlichen, kaputten Gegend. Und da sind wir jetzt und gucken uns die Reste an, die davon übrig geblieben sind."
Roma Ligocka dreht sich um. Sie hat lange, braune Haare, eine getönte Brille. Über der rechten Schulter hängt eine Tasche, ein brauner Ledermantel. Darunter schaut ein roter Pullover hervor. Der Platz der Ghettohelden Nr. 3. Sie ist viel kleiner als die leeren, hohen Stühle, die so bedrohlich wirken. An unvorstellbares Leid erinnern.
"Ich kann mir das sehr gut vorstellen. Nur seltsamerweise sehe ich das immer schwarz-weiß in meiner Vorstellung. Ich sehe da nie Farbe. Wahrscheinlich weil da tatsächlich durch diese Armut…..die Menschen hatten auch keine neuen Sachen zum Anziehen, das alles war alt und schmutzig, man konnte nicht waschen, man konnte nichts kaufen natürlich. Also wurde das wahrscheinlich immer grau und grauer."
Alles ist grau. Nebel hängt über der Stadt. 65 Tage im Jahr versteckt sich Krakau in ihm. Eine graue, trostlose Straße. Ein paar Schritte nur vom Platz der Ghettohelden entfernt. Geldbraune Hausfassaden. Einstöckig. Graue Fassaden. Zwei Etagen. Enge Fenster. Vergilbte Vorhänge. Vertrocknete Zimmerpflanzen auf den Simsen. Wenige Autos parken am Straßenrand. Schmale Bürgersteige. Graue Fahrbahnen. Ein paar Männer und Frauen gehen hin und wieder vorbei. Niemand schaut hoch grüßt. Keine Kinder spielen. Kein Lachen.
Aus einem kleinen, angelehnten Fenster klingen ein Akkordeon, eine Geige. Herzzerreißend, ganz zart. Verletzt. Roma Ligocka bleibt stehen. Mit verhangenen Augen. Als lese sie im ersten Kapitel ihrer Lebensgeschichte im Krakauer Ghetto Podgorze.
Das Fenster wird zugeklappt. Die Musik verklingt. Es bleiben die Geräusche der Straße. Versonnen lächelt Roma Ligocka. Sie kennt die Musik und sie kennt die Musiker. Es sind Freunde von ihr. Die Gruppe Kroke. Wunderschön.
"Das ist die Josefinskastraße. Als ich das Buch geschrieben habe "Das Mädchen im roten Mantel", bin ich einfach vorbei marschiert und habe ein Haus gesucht, das mir was sagt."
Das Haus Nummer 19. Roma Ligocka davor. Die Zeit bleibt stehen. Der Eingang. Eine morsche, braune Holztür. Die graue Hauswand. Der Putz fällt herunter. Rote Backsteine. Ein niedriges Fenster. Der Rahmen ist grau. Die Scheiben sind klein. Der Fußweg entlang des zerfallenen Hauses Nr. 19, grobe Steinplatten. Grau. Keine Farben. Keine Helligkeit. Keine Fröhlichkeit. Irgendwie ist in Podgorze immer Herbst.
Roma Ligocka steht vor ihrer Kindheit im Ghetto.
"Ich kann sogar vermuten, dass das das Haus ist. Das sah so aus. Hier war ich mit meiner Großmutter oft. Die hat auf mich aufgepasst während meine Mutter die Toiletten von den Nazis geputzt hat."
Roma Ligocka geht die Josefinkska in Richtung Uliza Krakusa. Die Großmutter. Neben ihrer Mutter die große Heldin ihrer Kindheit.
"Meine Großmutter war eine tapfere Frau, die mit ungefähr 30 Jahren Witwe geworden ist mit vier kleinen Söhnen. Sie hat ihr Leben nur gearbeitet und sich um ihre Kinder gekümmert. Da war sie eine ältere Frau und war auf einmal mit ihrem Sohn, meinem Vater, meiner Mutter und mir in einem kleinen Zimmer im Ghetto. Sie hat sich um mich gekümmert, hat gekocht, versucht, zu kochen, hat mir mein rotes Mäntelchen genäht, weil sie Schneiderin von Beruf war oder genäht hat, um die Kinder zu ernähren."
1943 bis 1945. Das Ghetto Podgorze in Krakau. Der Vorhof der Konzentrationslager. Der Verlust der Großmutter. Roma Ligocka ist fünf Jahre alt.
"Und eines Tages kamen die und haben sie heraus gerissen aus der Wohnung und abtransportiert, so in einem Viehwaggon zum Krematorium nach Beljetcz. Es sind nur ihre Hausschuhe zu Hause geblieben."
Sie ist erschüttert, bleibt kurz stehen, schöpft Luft, lehnt sich an eine Hauswand. Ich gehe hier nicht wieder her, sagt sie. Das war das Letzte Mal. Dann zeigt sie auf einen Platz.
"Auf diesen Umschlagplatz wurden jeden Tag Menschen rausgejagt. Und man hatte ausgesucht nach einem Muster, das nie jemand verstanden hat: Einmal junge Männer, die wurden nach Paschow gebracht, einmal hat man Kinder auf die Lastwagen transportiert, wahrscheinlich irgendwo erschossen. Mal alte Menschen. Man stand da und wartete, wer heute dran ist."
Über den Platz der Ghettohelden fahren Straßenbahnen. Der Lärm klingt herüber. Roma Ligocka sagt dann noch, die Nazis haben während der Besetzung in Polen eineinhalb Millionen Kinder erschossen. Sie müssen sich das so vorstellen: Die Mütter werden auf dem Platz verladen zum Abtransport. Die Kinder weinen und laufen hinterher, werden eingesammelt und später auch erschossen…..wir gehen zurück in die feuchten, engen, dunklen Zimmer und versuchen uns vor den Ratten zu schützen.
Roma Ligocka steht unmittelbar am Heldenplatz neben dem Eingang einer Apotheke und erklärt. Das ist die berühmte Apotheke Unter dem Adler, wo ein nichtjüdischer, also ein katholischer polnischer Apotheker arbeiten durfte im Ghetto. Das war unsere Zentrale für Informationen, auch für Medikamente und für Gift. Für Gift.
Roma Ligocka zieht ihr Buch "das Mädchen im roten Mantel" aus der Tasche, schlägt es auf und liest…..
"Meine Mutter sucht mit den Augen nach einem Versteck. Es gibt keins. Der Raum ist leer. Doch, da steht ein hölzerner Zuber in der ecke. Wir kauern uns hinter den Zuber. Er ist viel zu klein, um uns wirklich Schutz zu bieten. Meine Mutter ist jetzt in Panik. Sie nestelt an ihrem Mantel, an ihrer Bluse. Zieht einen kleinen Beutel darunter hervor. Ich habe ihn schon öfter bemerkt und gefragt, was drin ist. Sie hat es mir nie sagen wollen. Hier, stößt sie leise hervor und reicht mir die Kapsel, die sie in dem Beutel hatte. Hier, nimm das in die Hand, halt das ganz fest und schlucke es herunter, wenn ich es dir sage. Ich starre die Kapsel an. Das ist kein Stück Brot und auch kein gelber Schleim. Das ist bitterer Ernst. Was ist das…..Zyankali? Tu, was ich dir sage."
Sie ist erschöpft. Lehnt sich gegen die Wand der Apotheke. Die ist heute das Museum des Ghettos. Besucher kommen, erkennen Roma Ligocka begrüßen sie, beglückwünschen sie zu ihren Büchern. Zu ihrer Arbeit, die die Erinnerung an jene schrecklichen Zeiten wach halten soll.
"Heute gibt es 200 Menschen in der jüdischen Gemeinde in Krakau.. Wenn man sich vorstellt, dass noch, als ich zur Welt kam, am Anfang des Krieges und vor dem Krieg, 60 000 Juden in Krakau gab auf ungefähr 200 000 Einwohner. Das heißt, ein Viertel der Einwohner waren Juden. Das werden sie sehen bei jedem Schritt in Krakau, vor allem im jüdischen Viertel, aber nicht nur da. Da gab es jüdische Geschäfte und jüdische Schulen, jüdische Theater, jüdische Clubs. Es war eine richtige jüdische Gemeinde hier, Gemeinschaft, ein Teil der Bevölkerung, der sehr wichtig war auch für die Kultur."
Sie geht hinein in die frühere Apotheke des Ghettos. Stimmengewirr. Wieder wird sie erkannt. Begrüßt. Beglückwünscht. Sie kuckt freundlich. Voller Zuneigung. Erleidet das Leben und kann es genießen und nicht vergessen. Ein heller Raum mit vielen Fotografien aus der Ghettozeit, Dokumenten. Der alte Tresen, knapp hüfthoch, braunes, schweres Holz, der alte Schreibtisch des Apothekers Tadeusz Pankiewicz in einer Ecke. Der Mann überlebt die Nazis und erzählt immer wieder, bis ins hohe Alter, er hat das nur gemacht, weil er geglaubt hat, es sei seine Pflicht gewesen, den Juden zu helfen. Roma Ligockas Vater überlebt das KZ. Zu Ghettozeiten begegnen sich die beiden Männer…
"Der Vater überlebt die Nazis. Ein Mann 38, 39 Jahre alt, kommt. Von dem Gedanken getragen, er will zurück. Er will nach seiner Frau und seinem Kind sehen. Er kam von Auschwitz zur Fuß nach Krakau, ohne zu wissen, ob irgendjemand von seiner Familie noch lebt. Er hat uns gefunden, wie weiß ich bis heute nicht. Ich weiß nur, als er bei uns an kam in der Wohnung, in der wir damals zusammen mit anderen Leuten gewohnt haben, war er barfuss, mit einem riesigen schwarzen Bart, in Lumpen gekleidet. Und meine Mutter hat ihn nicht erkannt, wollte ihn nicht reinlassen. Und ich bin schreiend unters Bett gekrochen."
Einige Besucher in der ehemaligen Apotheke bleiben stehen, hören zu, erinnern sich an Roma Ligockas Buch. Sie schreibt über die Geschichte ihres Vaters, sie erkennen ihn wieder, er baut der Familie eine Existenz auf, wird von den Kommunisten in Polen als Kollaborateur beschuldigt. Er soll mit den Deutschen zusammen gearbeitet haben. Hat er nicht, erwidert er. Er wird verhaftet, verschleppt. Wieder.
"Ich will nur sagen, als wir meinen Vater zurück bekamen, war er nach einem Schlaganfall, ein Mann von 39 Jahren, völlig grau, mit grauen Haaren, konnte nicht reden, todkranker Mann. Wir haben ihn noch gepflegt, meine Mutter und ich. Vor allem ich, weil ich so sehr in seiner Nähe sein wollte. Und im November 1946 ist er gestorben. Zwei Wochen später kam vom Gericht das Urteil. Er wurde frei gesprochen. Er hat nichts getan."
Es wird ruhig während sie erzählt. Ganz ohne Zorn oder Wut, mit einer tiefen Traurigkeit. Da ist sie wieder, diese Musik der Gruppe Kroke, die aus den kleinen, versteckten Lautsprechern des Museums erklingt. Es sind Freunde von mir, sagt Roma Ligocka.
Der Weg durch die Uliza Josefinska zur Uliza Targowa. Was für ein Geruch hängt zwischen den niedrigen, verfallenden Häusern. Die engen, grauen Straßen halten ihn fest. Eine Mischung aus Benzin und Kohlenstaub, Rauch und Moder, Nässe und Kot. Es riecht nach Armut. Löchrige Dächer. Wegrutschende Bürgersteige. Freiliegende Bleirohre auf dem abplatternden Putz. Gerisse Abwasserleitungen.
"Am Ende von diesem Ghetto, aber das ist ein bisschen weit, gibt es so einen kleinen Felsen, so eine Grünanlage auf einem Felsen. Und da war diese berühmte Szene von dem Film "Schindlers Liste", wo der Schindler steht mit seiner Freundin auf einem Pferd und unten auf das Ghetto guckt. Und lustigerweise an dieser Stelle hat in der Ghettozeit meine Familie, bevor sie umgebracht worden ist, noch ein Familienfoto gemacht. Und das Familienfoto ist in meinem Buch."
Sie fühlt sich nicht gut, sagt sie und zögert bei der Frage, ob sie in das nahe gelegene Auschwitz gehen könnte. Will sie eigentlich gar nicht beantworten. Richtet sich ein wenig auf, schaut unendlich traurig…..
"Ich denke, wenn ich nach Auschwitz gehen sollte, wo meine ganze Familie umgekommen ist, würde ich wahrscheinlich nicht lebendig zurückkommen. Und ich habe eine Aufgabe hier noch auf dieser Welt, denke ich."
Sie geht durch die Josefinskastraße zurück zum Platz der Helden. Vorbei an den großen, grauen, leeren Stühlen hin zur Weichselbrücke. Sie erinnert sich, wie die Nazis ihre Familie über die Brücke in das Ghetto treiben, das sie nur verlässt in Richtung Altstadt, einem architektonischen und kunsthistorischen Kleinod. So nahe bei Podgorze und so weit weg.
Der Markt. Gleich in der Nähe ihres Verlages. Roma liebt es durch die Stände zu streifen. Erinnerungen an die Jahre vor der Besetzung durch die Deutsche Wehrmacht. An eine glückliche Kindheit. Sie bleibt stehen, blickt den Weg zwischen den Marktständen zurück…
"Hier bin ich als Kind noch mit meiner Mutter hin gegangen und da hat man, damals gab es natürlich keine solche Auswahl, keine Südfrüchte oder so. Aber gerade Käse oder Bauernpilze, Butter, das alles hat man hier gekauft. Immer probiert, immer gefragt, aus welchem Dorf das kommt und so. Das musste man alles wissen, ob es frisch ist.
Und noch vorher, bevor ich auf die Welt kam, war hier so eine Dienstmädchenbörse. Hier standen so irgendwelche Dorfschönheiten und die wollten Arbeit haben, also im Haushalt. Wenn man da irgendwie Personal gebraucht hat, ist man hierher gegangen und hat sich da jemanden engagiert sozusagen."
Sie spricht mit der Händlerin, fragt nach den Preisen für Pilze. Ein Kilo sieben Euro, heißt es. Wieder erkennen sie Passanten. Schütteln Ihr die Hand. Klopfen ihr auf die Schulter. Auf dem Markt ist das Ghetto weit weg.
"Hier, wo wir stehen, ist es mir passiert, dass eine Leserin aus einer Straßenbahn, die hier vorbei fährt, raus gesprungen ist, weil sie mich gesehen hat und hat mich umarmt und geküsst. Mitten auf der Straße. Und ich habe gesagt, liebe Frau, alles, aber gehen wir der Straßenbahn aus dem Weg, sonst werden wir gleich tot sein. So ist das in Krakau.
Natürlich, ich genieße Berlin, diese totale Anonymität. Ich kann ja in Turnhosen und totalen ohne Gesicht und Maske herum laufen.
Hier, wenn ich irgendwie nicht ordentlich aussehe oder nicht gut, dann kommen welche und sagen, ja sind sie krank? Haben sie etwas? Unsere Schriftstellerin sieht so blass aus. Also muss ich hier den Filmstar spielen."
Auf dem Weg über den Großen Platz mit seinen alten Gebäuden. Krakau ist eine Stadt voller junger Menschen. Die versammeln sich in den allein rund um diesen Platz gelegenen 600 Restaurants. Roma Ligocka liebt diese Atmosphäre. Bleibt vor einem Buchladen stehen und zeigt auf ihr letztes Buch "Alles aus Liebe", weist stolz auf das große Plakat, das sie mit ihrem neuesten Werk zeigt. Geht weiter.
Die Stimmung ist gut in der Stadt. Nicht nur in ihrem Zentrum. Wie überhaupt in den meisten Teilen Polens. Das hat mit dem Ausgang der Parlamentswahlen zu tun.
"Ja, ja, das sowieso. Irgendwie ist der Alptraum vorbei. Dieser Druck. Diese düstere Stimmung, die vorher da war. Die Leute sind freundlicher, sie sind offener. Ich stehe der Regierung ziemlich nahe. Für mich ist das wie, als hätte ich tausend Luftballone um mich, die mich hoch tragen. Aber ich glaube, gerade in dieser Stadt, in Krakau, in dieser Kulturstadt, wäre die Stimmung nicht viel anders, weil die Leute gerade in solchen Zeiten, wenn es düster aussieht, in der Kultur tatsächlich Befreiung und Befriedigung suchen."
Sie ist auf dem Weg in die Karmalitczastraße. Geht über den Platz vorbei an den mittelalterlichen und barocken Gebäuden der Jagellan-Universität in jene Straße, die ihr so viel bedeutet. Die für sie bis heute bestimmend ist. Hier findet sie ihre neue Wohnung in Krakau. Hell mit großen Räumen und einer offenen Küche in einem von außen nicht sehr gut erhaltenen Jugendstilgebäude. Die Universität ist um die Ecke. Das Zentrum einen knappen Kilometer entfernt.
"Wissen Sie, ich staune immer noch, wie das Schicksal so spielt mit dem Menschenleben. Die Kirche, die Karmaliterkirche in der Karmalitastraße, die habe ich beschrieben in meinem Buch "Das Mädchen im roten Mantel". Das war die Straße, in der wir in der Wohnung von Leuten waren, die uns versteckt haben. Also, hier um die Ecke haben mutige, nette polnische Menschen gewohnt, die uns, meine Mutter und mich als Kind, einfach aufgenommen haben uns über die schlimmsten Kriegsjahre einfach versteckt haben – unter…"
Die Menschen riskieren ihr Leben zu jener Zeit. Mutter und Tochter Roma entkommen mit gefälschten Papieren aus dem Ghetto, fliehen in die Karmaliterstraße. Das Mädchen im roten Mantel ist an den Ort seines Überlebens zurückgekehrt.
"Das Kind, das Mädchen im roten Mantel, hat überlebt. Hat einen Weg durch die Welt, durch die Emigration, durch das Menschenleben gemacht. Und als etwas verändertes, älteres Mädchen, auch manchmal im roten Mantel, ist es an den Ort zurückgekehrt. Glücklich, zufrieden und vor allem einigermaßen sicher."
Sie ist auf dem Weg in die Kirche. Sie ist ihr Schutz und Erinnerung. Sie geht hinein. Wendet sich nach links. Nimmt auf einer Bank an der langen Wand des Kirchenschiffs Platz. Es ist ganz still. Nur die Heizungsanlage bläst in diesen langsam kälter werdenden vorweihnachtlichen Tagen. Die Vergangenheit holt sie ein. Weihnachten 1943. Versteckt nach der Flucht aus dem Ghetto. Ständig die Angst, von der SS entdeckt zu werden. Angst vor den Stiefeltritten auf der Straße.
Noch einmal holt sie an diesem Tag ihr Buch hervor. Schlägt es auf:
"Der Weihnachtsbaum ist das Schönste, das ich in meinem Leben je gesehen habe. Es funkelt über und über und ist mit handgemachtem Spielzeug, bunten Engelchen, Sternen, Paradiesvögeln, Pferdchen und kleinen Schlitten aus Holz, Glasperlen und Porzellan geschmückt. Dazwischen hängen bunt umwickelte kleine Bonbons und winzige rote Äpfel. Ich darf die kostbaren glitzernden Sachen berühren. Es ist wie im Märchen."
Roma Ligocka schaut hoch. Neigt den Kopf. Freut sich auf das Konzert ihrer Lieblingsgruppe Kroke. Die jetzt in der Kirche probt. Und sie ist erleichtert, dass das alles solange zurück liegt.
"Das spielt im Jahre 43, 1943. Als ich als Kind aus dem Ghetto, das nichts außer Hunger, Keller, Not, Schießerei und Blut gesehen hatte, auf einmal bei einer katholischen Familie aufgenommen ist und Weihnachten feiert. Die ersten und schönsten Weihnachten meines Lebens."
Dann steht sie auf. Strebt dem Kirchenausgang zu. Dreht sich nicht mehr um. Geht die Karmeliterstraße entlang, die Straße ihres Lebens, zurück zu ihrer Wohnung.
"Die Kinder wurden einfach erschossen. Das war das Einfachste, Kinder in einen Haufen zusammen zu tun und, um Munition zu sparen, die einfach zusammen zu erschießen, wie, weiß ich nicht. Ratten oder, nicht mal Ratten behandelt man heute so. Deswegen sind ganz wenige aus meiner Generation geblieben."
"Wir sind jetzt an einem Ort, an dem ich sehr ungern bin. Auch jetzt, nach über 60 Jahren. Das ist der Platz vom Ghetto, wo die Menschen aus allen Stadtteilen, gut gekleidet, mit ihrem Hab und Gut einfach über Nacht ihre Sachen packen mussten. Zu Fuß über die Brücke, über die Weichsel gehen mussten und standen alle an diesem Platz, wurden zwangseingeteilt in Wohnungen, in denen sieben Personen pro Fenster wohnen durften. In einer ganz verkommenen, hässlichen, kaputten Gegend. Und da sind wir jetzt und gucken uns die Reste an, die davon übrig geblieben sind."
Roma Ligocka dreht sich um. Sie hat lange, braune Haare, eine getönte Brille. Über der rechten Schulter hängt eine Tasche, ein brauner Ledermantel. Darunter schaut ein roter Pullover hervor. Der Platz der Ghettohelden Nr. 3. Sie ist viel kleiner als die leeren, hohen Stühle, die so bedrohlich wirken. An unvorstellbares Leid erinnern.
"Ich kann mir das sehr gut vorstellen. Nur seltsamerweise sehe ich das immer schwarz-weiß in meiner Vorstellung. Ich sehe da nie Farbe. Wahrscheinlich weil da tatsächlich durch diese Armut…..die Menschen hatten auch keine neuen Sachen zum Anziehen, das alles war alt und schmutzig, man konnte nicht waschen, man konnte nichts kaufen natürlich. Also wurde das wahrscheinlich immer grau und grauer."
Alles ist grau. Nebel hängt über der Stadt. 65 Tage im Jahr versteckt sich Krakau in ihm. Eine graue, trostlose Straße. Ein paar Schritte nur vom Platz der Ghettohelden entfernt. Geldbraune Hausfassaden. Einstöckig. Graue Fassaden. Zwei Etagen. Enge Fenster. Vergilbte Vorhänge. Vertrocknete Zimmerpflanzen auf den Simsen. Wenige Autos parken am Straßenrand. Schmale Bürgersteige. Graue Fahrbahnen. Ein paar Männer und Frauen gehen hin und wieder vorbei. Niemand schaut hoch grüßt. Keine Kinder spielen. Kein Lachen.
Aus einem kleinen, angelehnten Fenster klingen ein Akkordeon, eine Geige. Herzzerreißend, ganz zart. Verletzt. Roma Ligocka bleibt stehen. Mit verhangenen Augen. Als lese sie im ersten Kapitel ihrer Lebensgeschichte im Krakauer Ghetto Podgorze.
Das Fenster wird zugeklappt. Die Musik verklingt. Es bleiben die Geräusche der Straße. Versonnen lächelt Roma Ligocka. Sie kennt die Musik und sie kennt die Musiker. Es sind Freunde von ihr. Die Gruppe Kroke. Wunderschön.
"Das ist die Josefinskastraße. Als ich das Buch geschrieben habe "Das Mädchen im roten Mantel", bin ich einfach vorbei marschiert und habe ein Haus gesucht, das mir was sagt."
Das Haus Nummer 19. Roma Ligocka davor. Die Zeit bleibt stehen. Der Eingang. Eine morsche, braune Holztür. Die graue Hauswand. Der Putz fällt herunter. Rote Backsteine. Ein niedriges Fenster. Der Rahmen ist grau. Die Scheiben sind klein. Der Fußweg entlang des zerfallenen Hauses Nr. 19, grobe Steinplatten. Grau. Keine Farben. Keine Helligkeit. Keine Fröhlichkeit. Irgendwie ist in Podgorze immer Herbst.
Roma Ligocka steht vor ihrer Kindheit im Ghetto.
"Ich kann sogar vermuten, dass das das Haus ist. Das sah so aus. Hier war ich mit meiner Großmutter oft. Die hat auf mich aufgepasst während meine Mutter die Toiletten von den Nazis geputzt hat."
Roma Ligocka geht die Josefinkska in Richtung Uliza Krakusa. Die Großmutter. Neben ihrer Mutter die große Heldin ihrer Kindheit.
"Meine Großmutter war eine tapfere Frau, die mit ungefähr 30 Jahren Witwe geworden ist mit vier kleinen Söhnen. Sie hat ihr Leben nur gearbeitet und sich um ihre Kinder gekümmert. Da war sie eine ältere Frau und war auf einmal mit ihrem Sohn, meinem Vater, meiner Mutter und mir in einem kleinen Zimmer im Ghetto. Sie hat sich um mich gekümmert, hat gekocht, versucht, zu kochen, hat mir mein rotes Mäntelchen genäht, weil sie Schneiderin von Beruf war oder genäht hat, um die Kinder zu ernähren."
1943 bis 1945. Das Ghetto Podgorze in Krakau. Der Vorhof der Konzentrationslager. Der Verlust der Großmutter. Roma Ligocka ist fünf Jahre alt.
"Und eines Tages kamen die und haben sie heraus gerissen aus der Wohnung und abtransportiert, so in einem Viehwaggon zum Krematorium nach Beljetcz. Es sind nur ihre Hausschuhe zu Hause geblieben."
Sie ist erschüttert, bleibt kurz stehen, schöpft Luft, lehnt sich an eine Hauswand. Ich gehe hier nicht wieder her, sagt sie. Das war das Letzte Mal. Dann zeigt sie auf einen Platz.
"Auf diesen Umschlagplatz wurden jeden Tag Menschen rausgejagt. Und man hatte ausgesucht nach einem Muster, das nie jemand verstanden hat: Einmal junge Männer, die wurden nach Paschow gebracht, einmal hat man Kinder auf die Lastwagen transportiert, wahrscheinlich irgendwo erschossen. Mal alte Menschen. Man stand da und wartete, wer heute dran ist."
Über den Platz der Ghettohelden fahren Straßenbahnen. Der Lärm klingt herüber. Roma Ligocka sagt dann noch, die Nazis haben während der Besetzung in Polen eineinhalb Millionen Kinder erschossen. Sie müssen sich das so vorstellen: Die Mütter werden auf dem Platz verladen zum Abtransport. Die Kinder weinen und laufen hinterher, werden eingesammelt und später auch erschossen…..wir gehen zurück in die feuchten, engen, dunklen Zimmer und versuchen uns vor den Ratten zu schützen.
Roma Ligocka steht unmittelbar am Heldenplatz neben dem Eingang einer Apotheke und erklärt. Das ist die berühmte Apotheke Unter dem Adler, wo ein nichtjüdischer, also ein katholischer polnischer Apotheker arbeiten durfte im Ghetto. Das war unsere Zentrale für Informationen, auch für Medikamente und für Gift. Für Gift.
Roma Ligocka zieht ihr Buch "das Mädchen im roten Mantel" aus der Tasche, schlägt es auf und liest…..
"Meine Mutter sucht mit den Augen nach einem Versteck. Es gibt keins. Der Raum ist leer. Doch, da steht ein hölzerner Zuber in der ecke. Wir kauern uns hinter den Zuber. Er ist viel zu klein, um uns wirklich Schutz zu bieten. Meine Mutter ist jetzt in Panik. Sie nestelt an ihrem Mantel, an ihrer Bluse. Zieht einen kleinen Beutel darunter hervor. Ich habe ihn schon öfter bemerkt und gefragt, was drin ist. Sie hat es mir nie sagen wollen. Hier, stößt sie leise hervor und reicht mir die Kapsel, die sie in dem Beutel hatte. Hier, nimm das in die Hand, halt das ganz fest und schlucke es herunter, wenn ich es dir sage. Ich starre die Kapsel an. Das ist kein Stück Brot und auch kein gelber Schleim. Das ist bitterer Ernst. Was ist das…..Zyankali? Tu, was ich dir sage."
Sie ist erschöpft. Lehnt sich gegen die Wand der Apotheke. Die ist heute das Museum des Ghettos. Besucher kommen, erkennen Roma Ligocka begrüßen sie, beglückwünschen sie zu ihren Büchern. Zu ihrer Arbeit, die die Erinnerung an jene schrecklichen Zeiten wach halten soll.
"Heute gibt es 200 Menschen in der jüdischen Gemeinde in Krakau.. Wenn man sich vorstellt, dass noch, als ich zur Welt kam, am Anfang des Krieges und vor dem Krieg, 60 000 Juden in Krakau gab auf ungefähr 200 000 Einwohner. Das heißt, ein Viertel der Einwohner waren Juden. Das werden sie sehen bei jedem Schritt in Krakau, vor allem im jüdischen Viertel, aber nicht nur da. Da gab es jüdische Geschäfte und jüdische Schulen, jüdische Theater, jüdische Clubs. Es war eine richtige jüdische Gemeinde hier, Gemeinschaft, ein Teil der Bevölkerung, der sehr wichtig war auch für die Kultur."
Sie geht hinein in die frühere Apotheke des Ghettos. Stimmengewirr. Wieder wird sie erkannt. Begrüßt. Beglückwünscht. Sie kuckt freundlich. Voller Zuneigung. Erleidet das Leben und kann es genießen und nicht vergessen. Ein heller Raum mit vielen Fotografien aus der Ghettozeit, Dokumenten. Der alte Tresen, knapp hüfthoch, braunes, schweres Holz, der alte Schreibtisch des Apothekers Tadeusz Pankiewicz in einer Ecke. Der Mann überlebt die Nazis und erzählt immer wieder, bis ins hohe Alter, er hat das nur gemacht, weil er geglaubt hat, es sei seine Pflicht gewesen, den Juden zu helfen. Roma Ligockas Vater überlebt das KZ. Zu Ghettozeiten begegnen sich die beiden Männer…
"Der Vater überlebt die Nazis. Ein Mann 38, 39 Jahre alt, kommt. Von dem Gedanken getragen, er will zurück. Er will nach seiner Frau und seinem Kind sehen. Er kam von Auschwitz zur Fuß nach Krakau, ohne zu wissen, ob irgendjemand von seiner Familie noch lebt. Er hat uns gefunden, wie weiß ich bis heute nicht. Ich weiß nur, als er bei uns an kam in der Wohnung, in der wir damals zusammen mit anderen Leuten gewohnt haben, war er barfuss, mit einem riesigen schwarzen Bart, in Lumpen gekleidet. Und meine Mutter hat ihn nicht erkannt, wollte ihn nicht reinlassen. Und ich bin schreiend unters Bett gekrochen."
Einige Besucher in der ehemaligen Apotheke bleiben stehen, hören zu, erinnern sich an Roma Ligockas Buch. Sie schreibt über die Geschichte ihres Vaters, sie erkennen ihn wieder, er baut der Familie eine Existenz auf, wird von den Kommunisten in Polen als Kollaborateur beschuldigt. Er soll mit den Deutschen zusammen gearbeitet haben. Hat er nicht, erwidert er. Er wird verhaftet, verschleppt. Wieder.
"Ich will nur sagen, als wir meinen Vater zurück bekamen, war er nach einem Schlaganfall, ein Mann von 39 Jahren, völlig grau, mit grauen Haaren, konnte nicht reden, todkranker Mann. Wir haben ihn noch gepflegt, meine Mutter und ich. Vor allem ich, weil ich so sehr in seiner Nähe sein wollte. Und im November 1946 ist er gestorben. Zwei Wochen später kam vom Gericht das Urteil. Er wurde frei gesprochen. Er hat nichts getan."
Es wird ruhig während sie erzählt. Ganz ohne Zorn oder Wut, mit einer tiefen Traurigkeit. Da ist sie wieder, diese Musik der Gruppe Kroke, die aus den kleinen, versteckten Lautsprechern des Museums erklingt. Es sind Freunde von mir, sagt Roma Ligocka.
Der Weg durch die Uliza Josefinska zur Uliza Targowa. Was für ein Geruch hängt zwischen den niedrigen, verfallenden Häusern. Die engen, grauen Straßen halten ihn fest. Eine Mischung aus Benzin und Kohlenstaub, Rauch und Moder, Nässe und Kot. Es riecht nach Armut. Löchrige Dächer. Wegrutschende Bürgersteige. Freiliegende Bleirohre auf dem abplatternden Putz. Gerisse Abwasserleitungen.
"Am Ende von diesem Ghetto, aber das ist ein bisschen weit, gibt es so einen kleinen Felsen, so eine Grünanlage auf einem Felsen. Und da war diese berühmte Szene von dem Film "Schindlers Liste", wo der Schindler steht mit seiner Freundin auf einem Pferd und unten auf das Ghetto guckt. Und lustigerweise an dieser Stelle hat in der Ghettozeit meine Familie, bevor sie umgebracht worden ist, noch ein Familienfoto gemacht. Und das Familienfoto ist in meinem Buch."
Sie fühlt sich nicht gut, sagt sie und zögert bei der Frage, ob sie in das nahe gelegene Auschwitz gehen könnte. Will sie eigentlich gar nicht beantworten. Richtet sich ein wenig auf, schaut unendlich traurig…..
"Ich denke, wenn ich nach Auschwitz gehen sollte, wo meine ganze Familie umgekommen ist, würde ich wahrscheinlich nicht lebendig zurückkommen. Und ich habe eine Aufgabe hier noch auf dieser Welt, denke ich."
Sie geht durch die Josefinskastraße zurück zum Platz der Helden. Vorbei an den großen, grauen, leeren Stühlen hin zur Weichselbrücke. Sie erinnert sich, wie die Nazis ihre Familie über die Brücke in das Ghetto treiben, das sie nur verlässt in Richtung Altstadt, einem architektonischen und kunsthistorischen Kleinod. So nahe bei Podgorze und so weit weg.
Der Markt. Gleich in der Nähe ihres Verlages. Roma liebt es durch die Stände zu streifen. Erinnerungen an die Jahre vor der Besetzung durch die Deutsche Wehrmacht. An eine glückliche Kindheit. Sie bleibt stehen, blickt den Weg zwischen den Marktständen zurück…
"Hier bin ich als Kind noch mit meiner Mutter hin gegangen und da hat man, damals gab es natürlich keine solche Auswahl, keine Südfrüchte oder so. Aber gerade Käse oder Bauernpilze, Butter, das alles hat man hier gekauft. Immer probiert, immer gefragt, aus welchem Dorf das kommt und so. Das musste man alles wissen, ob es frisch ist.
Und noch vorher, bevor ich auf die Welt kam, war hier so eine Dienstmädchenbörse. Hier standen so irgendwelche Dorfschönheiten und die wollten Arbeit haben, also im Haushalt. Wenn man da irgendwie Personal gebraucht hat, ist man hierher gegangen und hat sich da jemanden engagiert sozusagen."
Sie spricht mit der Händlerin, fragt nach den Preisen für Pilze. Ein Kilo sieben Euro, heißt es. Wieder erkennen sie Passanten. Schütteln Ihr die Hand. Klopfen ihr auf die Schulter. Auf dem Markt ist das Ghetto weit weg.
"Hier, wo wir stehen, ist es mir passiert, dass eine Leserin aus einer Straßenbahn, die hier vorbei fährt, raus gesprungen ist, weil sie mich gesehen hat und hat mich umarmt und geküsst. Mitten auf der Straße. Und ich habe gesagt, liebe Frau, alles, aber gehen wir der Straßenbahn aus dem Weg, sonst werden wir gleich tot sein. So ist das in Krakau.
Natürlich, ich genieße Berlin, diese totale Anonymität. Ich kann ja in Turnhosen und totalen ohne Gesicht und Maske herum laufen.
Hier, wenn ich irgendwie nicht ordentlich aussehe oder nicht gut, dann kommen welche und sagen, ja sind sie krank? Haben sie etwas? Unsere Schriftstellerin sieht so blass aus. Also muss ich hier den Filmstar spielen."
Auf dem Weg über den Großen Platz mit seinen alten Gebäuden. Krakau ist eine Stadt voller junger Menschen. Die versammeln sich in den allein rund um diesen Platz gelegenen 600 Restaurants. Roma Ligocka liebt diese Atmosphäre. Bleibt vor einem Buchladen stehen und zeigt auf ihr letztes Buch "Alles aus Liebe", weist stolz auf das große Plakat, das sie mit ihrem neuesten Werk zeigt. Geht weiter.
Die Stimmung ist gut in der Stadt. Nicht nur in ihrem Zentrum. Wie überhaupt in den meisten Teilen Polens. Das hat mit dem Ausgang der Parlamentswahlen zu tun.
"Ja, ja, das sowieso. Irgendwie ist der Alptraum vorbei. Dieser Druck. Diese düstere Stimmung, die vorher da war. Die Leute sind freundlicher, sie sind offener. Ich stehe der Regierung ziemlich nahe. Für mich ist das wie, als hätte ich tausend Luftballone um mich, die mich hoch tragen. Aber ich glaube, gerade in dieser Stadt, in Krakau, in dieser Kulturstadt, wäre die Stimmung nicht viel anders, weil die Leute gerade in solchen Zeiten, wenn es düster aussieht, in der Kultur tatsächlich Befreiung und Befriedigung suchen."
Sie ist auf dem Weg in die Karmalitczastraße. Geht über den Platz vorbei an den mittelalterlichen und barocken Gebäuden der Jagellan-Universität in jene Straße, die ihr so viel bedeutet. Die für sie bis heute bestimmend ist. Hier findet sie ihre neue Wohnung in Krakau. Hell mit großen Räumen und einer offenen Küche in einem von außen nicht sehr gut erhaltenen Jugendstilgebäude. Die Universität ist um die Ecke. Das Zentrum einen knappen Kilometer entfernt.
"Wissen Sie, ich staune immer noch, wie das Schicksal so spielt mit dem Menschenleben. Die Kirche, die Karmaliterkirche in der Karmalitastraße, die habe ich beschrieben in meinem Buch "Das Mädchen im roten Mantel". Das war die Straße, in der wir in der Wohnung von Leuten waren, die uns versteckt haben. Also, hier um die Ecke haben mutige, nette polnische Menschen gewohnt, die uns, meine Mutter und mich als Kind, einfach aufgenommen haben uns über die schlimmsten Kriegsjahre einfach versteckt haben – unter…"
Die Menschen riskieren ihr Leben zu jener Zeit. Mutter und Tochter Roma entkommen mit gefälschten Papieren aus dem Ghetto, fliehen in die Karmaliterstraße. Das Mädchen im roten Mantel ist an den Ort seines Überlebens zurückgekehrt.
"Das Kind, das Mädchen im roten Mantel, hat überlebt. Hat einen Weg durch die Welt, durch die Emigration, durch das Menschenleben gemacht. Und als etwas verändertes, älteres Mädchen, auch manchmal im roten Mantel, ist es an den Ort zurückgekehrt. Glücklich, zufrieden und vor allem einigermaßen sicher."
Sie ist auf dem Weg in die Kirche. Sie ist ihr Schutz und Erinnerung. Sie geht hinein. Wendet sich nach links. Nimmt auf einer Bank an der langen Wand des Kirchenschiffs Platz. Es ist ganz still. Nur die Heizungsanlage bläst in diesen langsam kälter werdenden vorweihnachtlichen Tagen. Die Vergangenheit holt sie ein. Weihnachten 1943. Versteckt nach der Flucht aus dem Ghetto. Ständig die Angst, von der SS entdeckt zu werden. Angst vor den Stiefeltritten auf der Straße.
Noch einmal holt sie an diesem Tag ihr Buch hervor. Schlägt es auf:
"Der Weihnachtsbaum ist das Schönste, das ich in meinem Leben je gesehen habe. Es funkelt über und über und ist mit handgemachtem Spielzeug, bunten Engelchen, Sternen, Paradiesvögeln, Pferdchen und kleinen Schlitten aus Holz, Glasperlen und Porzellan geschmückt. Dazwischen hängen bunt umwickelte kleine Bonbons und winzige rote Äpfel. Ich darf die kostbaren glitzernden Sachen berühren. Es ist wie im Märchen."
Roma Ligocka schaut hoch. Neigt den Kopf. Freut sich auf das Konzert ihrer Lieblingsgruppe Kroke. Die jetzt in der Kirche probt. Und sie ist erleichtert, dass das alles solange zurück liegt.
"Das spielt im Jahre 43, 1943. Als ich als Kind aus dem Ghetto, das nichts außer Hunger, Keller, Not, Schießerei und Blut gesehen hatte, auf einmal bei einer katholischen Familie aufgenommen ist und Weihnachten feiert. Die ersten und schönsten Weihnachten meines Lebens."
Dann steht sie auf. Strebt dem Kirchenausgang zu. Dreht sich nicht mehr um. Geht die Karmeliterstraße entlang, die Straße ihres Lebens, zurück zu ihrer Wohnung.