Mit Schulkindern philosophieren
Kinder philosophieren sowieso, sagt Julian Nida-Rümelin, der gemeinsam mit seiner Frau Nathalie Weidenfeld den Beweis vorlegt. In ihrem Buch "Der Sokrates-Club" kann man Gespräche, die die beiden in Grundschulen geführt haben, nachlesen.
Matthias Hanselmann: Wir alle wissen: Kinder sind neugierig und sie stellen manchmal urplötzlich Fragen, die uns regelrecht verlegen machen. Fragen nach unserer Existenz, Fragen, die schon große Philosophen versucht haben zu beantworten. Julian Nida-Rümelin ist ehemaliger Kulturstaatsminister und hat den Lehrstuhl für Philosophie an der Ludwig-Maximilians-Universität München inne. Seine Frau arbeitet dort auch, sie unterrichtet an derselben Uni Theaterwissenschaften, Nathalie Weidenfeld. Jetzt legen die beiden ein gemeinsames Buch vor: "Der Sokrates-Club. Philosophische Gespräche mit Kindern". Ich habe mich mit Julian Nida-Rümelin unterhalten und wollte zunächst wissen, was die Initialzündung, der Auslöser für dieses Buch war?
Julian Nida-Rümelin: Also, noch bevor ich selber ein Kind in die Welt gesetzt habe zusammen mit meiner Frau, war ich mal eingeladen zu einer Veranstaltung an der Universität, nämlich Vorlesungen für Kinder, Kinder-Uni nennt sich diese Initiative. Und das war eine sehr schöne Erfahrung, diese mehrere Hundert, 250 auf jeden Fall, Kinder waren sehr aufmerksam, es war ein gutes Gespräch, was wir dann am Ende hatten. Und von daher habe ich mir gedacht, na ja, vielleicht unterfordern wir Kinder, wenn wir denen nicht doch sehr frühzeitig auch philosophische Fragen stellen.
Hanselmann: Und dann haben Sie diesen Sokrates-Club gegründet, kleinere Gruppen von Kindern zu sich eingeladen und mit ihnen philosophiert. Wie darf ich mir denn diese philosophischen Treffen vorstellen, wie spielen die sich ab?
Nida-Rümelin: Also, die meisten finden nicht bei uns zu Hause statt, sondern in Schulen. Meine Grundschule lädt zwei oder sogar drei Klassen ein, an einem philosophischen Gespräch teilzunehmen, die Zeit ist eine Stunde. Ich gebe das Thema vor, zum Beispiel – das ist auch ein Kapitel in diesem Buch –, warum wir nicht alles dürfen, was wir wollen. Eine schwierige Frage, was sind eigentlich die Gründe, die dagegen sprechen, alles zu tun, was man gerade will? Ich stelle diese Frage, reagiere dann auf die Stellungnahmen oder auch Gegenfragen, aber meistens sind Stellungnahmen von Kindern, lasse das kommen.
Das heißt, die Kinder entwickeln ihre eigenen Vorstellungen, so ganz in der philosophischen Tradition von Sokrates eben, maieutiké hat er das genannt, Hebammenkunst, seine Mutter war ja Hebamme. Das heißt, man bringt etwas hervor, was schon angelegt ist, was schon da ist, man oktroyiert nicht etwas auf.
Und das ist dann oft sehr lebhaft, die Kinder wollen zu Wort kommen, konkurrieren miteinander, wer jetzt zu Wort kommt. Das geht dann von sehr persönlichen Bemerkungen bis hin zu ganz abstrakten Überlegungen, dass man zum Beispiel auch deswegen nicht lügen sollte, weil eine Gesellschaft, in der alle Menschen immer lügen würden, wenn sie einen daraus einen Vorteil erwarteten, solche Gesellschaft nicht wünschenswert ist, das ist ja das Zentrum der Kantischen Philosophie. Und das von einem vielleicht neunjährigen Mädchen – schon beachtlich!
Hanselmann: Zu hören, worüber Kinder sinnieren, nachdenken, was sie sich fragen, ist die eine Sache. Aber worauf kommt es Ihnen selbst an, also, was wollen Sie bei Ihren philosophischen Gesprächen mit den Kindern erreichen?
Nida-Rümelin: Also, jedenfalls nicht philosophisches Buchwissen vermitteln, Personen. Ich nenne mal den alten Platon oder mal den Immanuel Kant oder mal Aristoteles oder vielleicht mal Wittgenstein. Aber das ist nicht, um ein Wissen zu vermitteln, was viel zu früh wäre, weil wir bei Kindern, wir reden jetzt von Kindern, nicht von Jugendlichen. Sondern es geht darum, dass das philosophische Interesse, was bei Kindern zweifellos da ist, dass man dies ernst nimmt. Oft machen Kinder die Erfahrung, dass ihre philosophischen Fragen im Grunde nicht auf rechte Resonanz stoßen, weil die Eltern oder älteren Geschwister oder Lehrer darauf gar nicht vorbereitet sind, das dann abtun, und dann gewöhnen sie sich das ab, dieses Nachfragen. Und das soll ein Gegengewicht sein.
Hanselmann: An einer Stelle in Ihrem Buch erwähnen Sie den kindlichen Animismus. Kinder sagen zum Beispiel, der Wind ist böse, also, er hat eine Seele. Sie meinen, ein philosophisches Gespräch mit Kindern könne dazu beitragen, diesen Animismus zu überwinden. Warum lässt man ihnen nicht einfach den Glauben an eine Seele des Windes, die Entzauberung und damit ja auch die Enttäuschung erfolgt doch sowieso irgendwann, ähnlich wie beim Osterhasen?
Nida-Rümelin: Na ja, das hängt jetzt davon ab, in welchem Alter man sich da bewegt. Also, ein achtjähriges Kind, was immer noch diese animistische Weltinterpretation hat, das wird Schwierigkeiten haben, sich so unter den modernen Bedingungen von Naturwissenschaft und Technik zurechtzufinden. Das muss ohnehin irgendwann überwunden werden. Und das ist eine gewisse Enttäuschung, kann man sagen, die Welt ist nicht so, wie ich sie mir vorgestellt habe. Aber das gehört zum Bildungsprozess dazu.
Hanselmann: Wir haben ja jetzt auch den pädagogischen Ansatz Ihrer Arbeit noch mal herausgearbeitet. Deutschlandradio Kultur, das "Radiofeuilleton", wir sprechen mit dem ehemaligen Kulturstaatsminister Julian Nida-Rümelin, der den Lehrstuhl für Philosophie an der Ludwig-Maximilians-Universität München innehat und gerade zusammen mit seiner Frau Nathalie Weidenfeld das Buch "Der Sokrates-Club. Philosophische Gespräche mit Kindern" veröffentlich hat. Herr Nida-Rümelin, das Philosophieren ist ja für viele erwachsene Menschen mit der Vorstellung von großen geistigen Anstrengungen verbunden. Warum kann oder sollte man das Philosophieren auch schon Kindern zumuten oder zutrauen?
Nida-Rümelin: Weil Kinder philosophische Fragen haben, Fragen, die die Philosophie seit Jahrhunderten oder seit Jahrtausenden beschäftigt haben. Weil man sie ernst nehmen sollte, weil im Bildungsprozess das Selbst-Denken viel wichtiger ist als das Lernen von Sachverhalten, von Fakten.
Wir haben insofern eine Schieflage im Bildungswesen, ist auch übrigens eine Schieflage, dass gerade in Deutschland, das in den letzten 300 Jahren ein Gutteil der philosophischen Literatur weltweit beigetragen hat, dass gerade in Deutschland die Philosophie an Schulen kaum eine Rolle spielt, ganz anständig.
Also, warum sollte man philosophieren? Weil es ein Bedürfnis ist von Kindern, zu philosophieren. Sie philosophieren selbst, sie stellen philosophische Fragen. Nur ist es ganz gut, wenn man ein bisschen Handwerkszeug mitbringt, das heißt, sich mit bestimmten Argumenten – nicht so sehr mit großen Theorien, nicht mit dicken Büchern –, aber mit Argumenten, die in der Philosophie eine wichtige Rolle spielen, vertraut gemacht hat. Und so ist das Buch ja auch aufgebaut. Das heißt, wir dokumentieren immer ein Gespräch und dann versuche ich, in sehr knapper Form und nicht voraussetzungsreich, sondern sehr voraussetzungsarm die wichtigsten philosophischen Antworten auf diese Frage zu skizzieren.
Hanselmann: Das Buch ist damit – so habe ich es jedenfalls gelesen – auch eine kleine Einführung in die Geschichte der Philosophie. Die Statements der Kinder, werden – Sie sagen es – mit Querverweisen versehen und man kann einige Seiten später nachlesen, welcher Philosoph welcher Richtung darüber auch schon nachgedacht hat beziehungsweise sich geäußert hat. Wenn die einfachen Fragen von Kindern zum Teil auch die Fragen sind, die in der Geschichte der Philosophie seit Sokrates gestellt wurden, kann man den Umkehrschluss machen und sagen, na ja, die Philosophie beschäftigt sich schon lange überwiegend mit den einfachen Fragen?
Nida-Rümelin: Na ja, sie beschäftigt sich immer wieder mit den gleichen Fragen. Das kann man ja auch kritisch sehen und sagen, die kommen offenbar nicht voran. Man kann das positiv wenden und sagen, na ja, das sind die Fragen unseres Selbstverständnisses, wie sehen wir uns als Menschen, wie sehen wir uns in der Welt, wie sehen wir die Welt als ganze, wie sehen wir unsere Verantwortung?
Das heißt, das sind Fragen, die sich jede Generation wieder neu stellen muss, und die Philosophie trägt dazu bei, dann das zu beantworten. Insofern kann man auch sagen, die Philosophie vermittelt zwischen dem Lebensweltlichen, also dem, was uns aus dem Alltag vertraut ist, und der Wissenschaft.
Hanselmann: Ich möchte gerne noch zwei Beispiele aus Ihrem Buch nehmen, und zwar einmal: Warum ich die Wahrheit sagen und trotzdem lügen kann, ist ein Kapitel überschrieben, war also auch eine Frage eines solchen Sokrates-Treffens. Ich kann mir vorstellen, dass das für die Kinder eine ziemlich harte Nuss war, oder?
Nida-Rümelin: Ja, aber das ist ja ein Zitat von einem Kind selbst. Also, die Kinder merken, dass sie Leute in die Irre führen können selbst dann, wenn sie die Wahrheit sagen. Also, wenn sie zum Beispiel gefragt werden, wo hast du denn jetzt deinen Rucksack liegen gelassen, und das Kind antwortet, na ja, im Wohnzimmer oder vielleicht doch im Schlafzimmer, dann ist die Antwort wahr, wenn das im Wohnzimmer ist. Aber wenn das Kind das wusste, dass der Rucksack im Wohnzimmer ist, dann ist es eigentlich eine Irreführung, weil der Zuhörer denkt, das Kind weiß nicht, wo er es gelassen hat.
Das ist die Wahrheitstheorie, Wissenstheorie, die gegenwärtig wieder aufblüht. Die war mal bei Platon schon in großer Blüte, dann wieder im 19. und frühen 20. Jahrhundert, und spielt jetzt auch wieder eine große Rolle. Also, die Frage ist: Was ist eigentlich Wissen? Die Postmoderne sagt ja, Wissen, na ja, das ist immer wieder was anderes, das hängt von der Kultur ab, was jeweils als Wissen gilt, ist dann Wissen, wir können das nicht unterscheiden. Das ist aber eigentlich nicht das Ergebnis der philosophischen Analyse, sondern Wahrheit und Wissen hängen eng miteinander zusammen: Wenn A etwas weiß, dann ist das auch wahr, sonst weiß er es nicht, sondern vermutet es nur, nimmt es an, aber irrtümlicherweise.
Hanselmann: Warum man dem Kuschel-Dino im Blumentopf mit Gleichmut begegnen muss, ist die Frage, die in Ihrem Buch zu einem der ältesten Themen der Philosophie gestellt wird, nämlich: Was ist Glück? Wie konnten Sie mit Kindern über Glück reden und was hat das mit dem Kuschel-Dino zu tun?
Nida-Rümelin: Also, Kinder sind sehr daran interessiert, dass es ihnen gut geht. Allerdings auch an anderen Dingen interessiert, dass sie ihren Willen durchsetzen. Und jetzt, wenn man einmal Kinder fragt, was versteht ihr eigentlich unter Glück, dann zum Beispiel sagen die einen, na ja, Glück ist, wenn das Schicksal mir wohl gesonnen ist. Das heißt, Glück ist dann ein glücklicher Umstand, ein glücklicher Zufall, das ist genau die alte Vorstellung von Glück, eutychia haben sie das in Griechenland dann, im klassischen Griechenland genannt. Das ist aber noch nicht das anspruchsvollere Glück.
Jetzt ist die Frage: Worin besteht eigentlich Glück? Und in erster Näherung sagt man, dass es mir gut geht. Das ist auch das, was die meisten Erwachsenen heutzutage sagen, dass es mir gut geht. Merkwürdigerweise sagen aber die meisten Philosophen, dass das nicht ausreicht, sondern was anderes. Bei Aristoteles ist das zum Beispiel die Überzeugung, dass das Glück, die eudaimonia in einer Praxis besteht, die die eigenen Fähigkeiten zur vollen Entfaltung bringt. Das ist so etwa die Definition der Nikomachischen Ethik bei Aristoteles.
Und wenn man Kinder dann damit konfrontiert, reagieren sie erstaunlich offen, sagen, ja, genau, also, das, was ich kann, das gibt mir gewissermaßen auch eine Erfüllung, da macht das mir dann auch Spaß, weil ich es kann, meine Fähigkeiten zur vollen Entfaltung zu bringen. Das ist es eigentlich, um was es geht.
Hanselmann: Sind eigentlich bei der Arbeit mit den Kindern eigene Gewissheiten des Julian Nida-Rümelin ins Wanken geraten?
Nida-Rümelin: Also, das betrifft eher die Einschätzung des kindlichen Denkens. Also, was mich doch überrascht hat – und das sind ja jetzt viele, viele Gespräche, ist ja nur ein kleiner Teil hier dokumentiert –, ist das extrem breite Spektrum. Viele Kinder tun sich schwer mit abstraktem Denken und kommen im Grunde immer wieder auf das, was sie gerade erlebt haben, zurück. Und andere Kinder im selben Alter sind schon in der Lage, ein ernsthaftes philosophisches Argument zu entwickeln. Diesen Unterschied hatte ich so groß nicht erwartet.
Hanselmann: Vielen herzlichen Dank, Julian Nida-Rümelin! Ihnen und Ihrer Frau und Ihren Kindern ein weiterhin möglichst glückliches Leben, machen Sie es gut!
Nida-Rümelin: Danke schön, wünsche ich Ihnen auch!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Julian Nida-Rümelin: Also, noch bevor ich selber ein Kind in die Welt gesetzt habe zusammen mit meiner Frau, war ich mal eingeladen zu einer Veranstaltung an der Universität, nämlich Vorlesungen für Kinder, Kinder-Uni nennt sich diese Initiative. Und das war eine sehr schöne Erfahrung, diese mehrere Hundert, 250 auf jeden Fall, Kinder waren sehr aufmerksam, es war ein gutes Gespräch, was wir dann am Ende hatten. Und von daher habe ich mir gedacht, na ja, vielleicht unterfordern wir Kinder, wenn wir denen nicht doch sehr frühzeitig auch philosophische Fragen stellen.
Hanselmann: Und dann haben Sie diesen Sokrates-Club gegründet, kleinere Gruppen von Kindern zu sich eingeladen und mit ihnen philosophiert. Wie darf ich mir denn diese philosophischen Treffen vorstellen, wie spielen die sich ab?
Nida-Rümelin: Also, die meisten finden nicht bei uns zu Hause statt, sondern in Schulen. Meine Grundschule lädt zwei oder sogar drei Klassen ein, an einem philosophischen Gespräch teilzunehmen, die Zeit ist eine Stunde. Ich gebe das Thema vor, zum Beispiel – das ist auch ein Kapitel in diesem Buch –, warum wir nicht alles dürfen, was wir wollen. Eine schwierige Frage, was sind eigentlich die Gründe, die dagegen sprechen, alles zu tun, was man gerade will? Ich stelle diese Frage, reagiere dann auf die Stellungnahmen oder auch Gegenfragen, aber meistens sind Stellungnahmen von Kindern, lasse das kommen.
Das heißt, die Kinder entwickeln ihre eigenen Vorstellungen, so ganz in der philosophischen Tradition von Sokrates eben, maieutiké hat er das genannt, Hebammenkunst, seine Mutter war ja Hebamme. Das heißt, man bringt etwas hervor, was schon angelegt ist, was schon da ist, man oktroyiert nicht etwas auf.
Und das ist dann oft sehr lebhaft, die Kinder wollen zu Wort kommen, konkurrieren miteinander, wer jetzt zu Wort kommt. Das geht dann von sehr persönlichen Bemerkungen bis hin zu ganz abstrakten Überlegungen, dass man zum Beispiel auch deswegen nicht lügen sollte, weil eine Gesellschaft, in der alle Menschen immer lügen würden, wenn sie einen daraus einen Vorteil erwarteten, solche Gesellschaft nicht wünschenswert ist, das ist ja das Zentrum der Kantischen Philosophie. Und das von einem vielleicht neunjährigen Mädchen – schon beachtlich!
Hanselmann: Zu hören, worüber Kinder sinnieren, nachdenken, was sie sich fragen, ist die eine Sache. Aber worauf kommt es Ihnen selbst an, also, was wollen Sie bei Ihren philosophischen Gesprächen mit den Kindern erreichen?
Nida-Rümelin: Also, jedenfalls nicht philosophisches Buchwissen vermitteln, Personen. Ich nenne mal den alten Platon oder mal den Immanuel Kant oder mal Aristoteles oder vielleicht mal Wittgenstein. Aber das ist nicht, um ein Wissen zu vermitteln, was viel zu früh wäre, weil wir bei Kindern, wir reden jetzt von Kindern, nicht von Jugendlichen. Sondern es geht darum, dass das philosophische Interesse, was bei Kindern zweifellos da ist, dass man dies ernst nimmt. Oft machen Kinder die Erfahrung, dass ihre philosophischen Fragen im Grunde nicht auf rechte Resonanz stoßen, weil die Eltern oder älteren Geschwister oder Lehrer darauf gar nicht vorbereitet sind, das dann abtun, und dann gewöhnen sie sich das ab, dieses Nachfragen. Und das soll ein Gegengewicht sein.
Hanselmann: An einer Stelle in Ihrem Buch erwähnen Sie den kindlichen Animismus. Kinder sagen zum Beispiel, der Wind ist böse, also, er hat eine Seele. Sie meinen, ein philosophisches Gespräch mit Kindern könne dazu beitragen, diesen Animismus zu überwinden. Warum lässt man ihnen nicht einfach den Glauben an eine Seele des Windes, die Entzauberung und damit ja auch die Enttäuschung erfolgt doch sowieso irgendwann, ähnlich wie beim Osterhasen?
Nida-Rümelin: Na ja, das hängt jetzt davon ab, in welchem Alter man sich da bewegt. Also, ein achtjähriges Kind, was immer noch diese animistische Weltinterpretation hat, das wird Schwierigkeiten haben, sich so unter den modernen Bedingungen von Naturwissenschaft und Technik zurechtzufinden. Das muss ohnehin irgendwann überwunden werden. Und das ist eine gewisse Enttäuschung, kann man sagen, die Welt ist nicht so, wie ich sie mir vorgestellt habe. Aber das gehört zum Bildungsprozess dazu.
Hanselmann: Wir haben ja jetzt auch den pädagogischen Ansatz Ihrer Arbeit noch mal herausgearbeitet. Deutschlandradio Kultur, das "Radiofeuilleton", wir sprechen mit dem ehemaligen Kulturstaatsminister Julian Nida-Rümelin, der den Lehrstuhl für Philosophie an der Ludwig-Maximilians-Universität München innehat und gerade zusammen mit seiner Frau Nathalie Weidenfeld das Buch "Der Sokrates-Club. Philosophische Gespräche mit Kindern" veröffentlich hat. Herr Nida-Rümelin, das Philosophieren ist ja für viele erwachsene Menschen mit der Vorstellung von großen geistigen Anstrengungen verbunden. Warum kann oder sollte man das Philosophieren auch schon Kindern zumuten oder zutrauen?
Nida-Rümelin: Weil Kinder philosophische Fragen haben, Fragen, die die Philosophie seit Jahrhunderten oder seit Jahrtausenden beschäftigt haben. Weil man sie ernst nehmen sollte, weil im Bildungsprozess das Selbst-Denken viel wichtiger ist als das Lernen von Sachverhalten, von Fakten.
Wir haben insofern eine Schieflage im Bildungswesen, ist auch übrigens eine Schieflage, dass gerade in Deutschland, das in den letzten 300 Jahren ein Gutteil der philosophischen Literatur weltweit beigetragen hat, dass gerade in Deutschland die Philosophie an Schulen kaum eine Rolle spielt, ganz anständig.
Also, warum sollte man philosophieren? Weil es ein Bedürfnis ist von Kindern, zu philosophieren. Sie philosophieren selbst, sie stellen philosophische Fragen. Nur ist es ganz gut, wenn man ein bisschen Handwerkszeug mitbringt, das heißt, sich mit bestimmten Argumenten – nicht so sehr mit großen Theorien, nicht mit dicken Büchern –, aber mit Argumenten, die in der Philosophie eine wichtige Rolle spielen, vertraut gemacht hat. Und so ist das Buch ja auch aufgebaut. Das heißt, wir dokumentieren immer ein Gespräch und dann versuche ich, in sehr knapper Form und nicht voraussetzungsreich, sondern sehr voraussetzungsarm die wichtigsten philosophischen Antworten auf diese Frage zu skizzieren.
Hanselmann: Das Buch ist damit – so habe ich es jedenfalls gelesen – auch eine kleine Einführung in die Geschichte der Philosophie. Die Statements der Kinder, werden – Sie sagen es – mit Querverweisen versehen und man kann einige Seiten später nachlesen, welcher Philosoph welcher Richtung darüber auch schon nachgedacht hat beziehungsweise sich geäußert hat. Wenn die einfachen Fragen von Kindern zum Teil auch die Fragen sind, die in der Geschichte der Philosophie seit Sokrates gestellt wurden, kann man den Umkehrschluss machen und sagen, na ja, die Philosophie beschäftigt sich schon lange überwiegend mit den einfachen Fragen?
Nida-Rümelin: Na ja, sie beschäftigt sich immer wieder mit den gleichen Fragen. Das kann man ja auch kritisch sehen und sagen, die kommen offenbar nicht voran. Man kann das positiv wenden und sagen, na ja, das sind die Fragen unseres Selbstverständnisses, wie sehen wir uns als Menschen, wie sehen wir uns in der Welt, wie sehen wir die Welt als ganze, wie sehen wir unsere Verantwortung?
Das heißt, das sind Fragen, die sich jede Generation wieder neu stellen muss, und die Philosophie trägt dazu bei, dann das zu beantworten. Insofern kann man auch sagen, die Philosophie vermittelt zwischen dem Lebensweltlichen, also dem, was uns aus dem Alltag vertraut ist, und der Wissenschaft.
Hanselmann: Ich möchte gerne noch zwei Beispiele aus Ihrem Buch nehmen, und zwar einmal: Warum ich die Wahrheit sagen und trotzdem lügen kann, ist ein Kapitel überschrieben, war also auch eine Frage eines solchen Sokrates-Treffens. Ich kann mir vorstellen, dass das für die Kinder eine ziemlich harte Nuss war, oder?
Nida-Rümelin: Ja, aber das ist ja ein Zitat von einem Kind selbst. Also, die Kinder merken, dass sie Leute in die Irre führen können selbst dann, wenn sie die Wahrheit sagen. Also, wenn sie zum Beispiel gefragt werden, wo hast du denn jetzt deinen Rucksack liegen gelassen, und das Kind antwortet, na ja, im Wohnzimmer oder vielleicht doch im Schlafzimmer, dann ist die Antwort wahr, wenn das im Wohnzimmer ist. Aber wenn das Kind das wusste, dass der Rucksack im Wohnzimmer ist, dann ist es eigentlich eine Irreführung, weil der Zuhörer denkt, das Kind weiß nicht, wo er es gelassen hat.
Das ist die Wahrheitstheorie, Wissenstheorie, die gegenwärtig wieder aufblüht. Die war mal bei Platon schon in großer Blüte, dann wieder im 19. und frühen 20. Jahrhundert, und spielt jetzt auch wieder eine große Rolle. Also, die Frage ist: Was ist eigentlich Wissen? Die Postmoderne sagt ja, Wissen, na ja, das ist immer wieder was anderes, das hängt von der Kultur ab, was jeweils als Wissen gilt, ist dann Wissen, wir können das nicht unterscheiden. Das ist aber eigentlich nicht das Ergebnis der philosophischen Analyse, sondern Wahrheit und Wissen hängen eng miteinander zusammen: Wenn A etwas weiß, dann ist das auch wahr, sonst weiß er es nicht, sondern vermutet es nur, nimmt es an, aber irrtümlicherweise.
Hanselmann: Warum man dem Kuschel-Dino im Blumentopf mit Gleichmut begegnen muss, ist die Frage, die in Ihrem Buch zu einem der ältesten Themen der Philosophie gestellt wird, nämlich: Was ist Glück? Wie konnten Sie mit Kindern über Glück reden und was hat das mit dem Kuschel-Dino zu tun?
Nida-Rümelin: Also, Kinder sind sehr daran interessiert, dass es ihnen gut geht. Allerdings auch an anderen Dingen interessiert, dass sie ihren Willen durchsetzen. Und jetzt, wenn man einmal Kinder fragt, was versteht ihr eigentlich unter Glück, dann zum Beispiel sagen die einen, na ja, Glück ist, wenn das Schicksal mir wohl gesonnen ist. Das heißt, Glück ist dann ein glücklicher Umstand, ein glücklicher Zufall, das ist genau die alte Vorstellung von Glück, eutychia haben sie das in Griechenland dann, im klassischen Griechenland genannt. Das ist aber noch nicht das anspruchsvollere Glück.
Jetzt ist die Frage: Worin besteht eigentlich Glück? Und in erster Näherung sagt man, dass es mir gut geht. Das ist auch das, was die meisten Erwachsenen heutzutage sagen, dass es mir gut geht. Merkwürdigerweise sagen aber die meisten Philosophen, dass das nicht ausreicht, sondern was anderes. Bei Aristoteles ist das zum Beispiel die Überzeugung, dass das Glück, die eudaimonia in einer Praxis besteht, die die eigenen Fähigkeiten zur vollen Entfaltung bringt. Das ist so etwa die Definition der Nikomachischen Ethik bei Aristoteles.
Und wenn man Kinder dann damit konfrontiert, reagieren sie erstaunlich offen, sagen, ja, genau, also, das, was ich kann, das gibt mir gewissermaßen auch eine Erfüllung, da macht das mir dann auch Spaß, weil ich es kann, meine Fähigkeiten zur vollen Entfaltung zu bringen. Das ist es eigentlich, um was es geht.
Hanselmann: Sind eigentlich bei der Arbeit mit den Kindern eigene Gewissheiten des Julian Nida-Rümelin ins Wanken geraten?
Nida-Rümelin: Also, das betrifft eher die Einschätzung des kindlichen Denkens. Also, was mich doch überrascht hat – und das sind ja jetzt viele, viele Gespräche, ist ja nur ein kleiner Teil hier dokumentiert –, ist das extrem breite Spektrum. Viele Kinder tun sich schwer mit abstraktem Denken und kommen im Grunde immer wieder auf das, was sie gerade erlebt haben, zurück. Und andere Kinder im selben Alter sind schon in der Lage, ein ernsthaftes philosophisches Argument zu entwickeln. Diesen Unterschied hatte ich so groß nicht erwartet.
Hanselmann: Vielen herzlichen Dank, Julian Nida-Rümelin! Ihnen und Ihrer Frau und Ihren Kindern ein weiterhin möglichst glückliches Leben, machen Sie es gut!
Nida-Rümelin: Danke schön, wünsche ich Ihnen auch!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.