Mit Wahrheitskommissionen "Menschen zum Reden bringen"
Er befürchtet ein Fiasko, sollten die KZ-Aufseher tatsächlich freigesprochen werden: Der Historiker Thomas Weber warnt vor neuen Auschwitz-Prozessen. Stattdessen fordert er Wahrheitskommissionen. Denn was getan worden sei, sei mittlerweile gut erforscht - das Warum sei oft die größere Frage.
Katrin Heise: Im Jahr 2011, da wurde der frühere KZ-Aufseher John Demjanjuk wegen Beihilfe zum Mord in 20.000 Fällen vom Münchner Landgericht zu fünf Jahren Haft verurteilt. Bevor das Urteil allerdings rechtskräftig wurde, starb Demjanjuk, der Revision eingelegt hatte. Nun will die zentrale Stelle der Justizverwaltung zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen gegen weitere 50 ehemalige KZ-Aufseher Ermittlungen einleiten. Der Vorwurf lautet Beihilfe zum Mord.
Die Behörde beruft sich dabei auf das Münchner Urteil, nach dem die Tätigkeit in einem Vernichtungslager ausreicht für eine solche Anklage. Das findet der Historiker Thomas Weber problematisch. Warum, das erklärt er uns jetzt, ich konnte ihn vor der Sendung in Harvard sprechen, wo er zurzeit an der Universität lehrt, und fragte ihn, ob seiner Meinung nach etwas gegen die Einleitung der Ermittlungen gegen die 50 ehemaligen KZ-Aufseher spricht.
Thomas Weber: Meines Erachtens ja. Es ist natürlich grundsätzlich alles sehr löblich, aber die große Gefahr ist, dass ein solches Verfahren in einem großen Fiasko enden würde. Und der Grund dafür ist, dass das Urteil gegen Demjanjuk ja nicht rechtskräftig geworden war. Und es weiß keiner, ob in neuen Verfahren die Landgerichte, die dann urteilen würden, dieser Rechtsauffassung folgen würden, und ob auch, wenn dann Urteile in höhere Instanz gehen würden, ob dann zum Beispiel der Bundesgerichtshof oder das Bundesverfassungsgericht, der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte so ein Urteil wieder aufheben würde und sagen würde, nee, so geht es nicht. Und ich glaube, wenn dann auf einmal Auschwitz-KZ-Aufseher freigesprochen werden würden, wäre die Wirkung ganz fatal.
Heise: Also das Verlassen auf dieses Urteil, das sehen Sie auf jeden Fall überhaupt nicht weiter. Die andere Sache ist ja die, dass die Verdächtigen eine eventuelle Strafe antreten müssen – das ist ob ihres Alters ja sehr unwahrscheinlich. Auch, ob sie durch alle Instanzen den Ausgang eines Prozesses überhaupt erleben. Wie sieht bei so einer Ausgangssituation eigentlich die juristische Grundlage so eines Prozesses aus?
Weber: Die juristische Grundlage ist natürlich erst mal, zu sagen, Mord verjährt nicht, und hier geht es ja nur um Mord. Alle anderen Sachen, selbst Totschlag wäre schon verjährt, muss eingeleitet werden unabhängig vom Gesundheitszustand der Täter. Aber in der allgemeinen Diskussion um die Idee, neue Auschwitz-Verfahren zu haben, wird ja jetzt gesagt, na ja, wenn die hinterher nicht mehr verurteilt werden, ist es ja gar nicht so schlimm. Es ist ja schon viel dadurch gewonnen, dass sie vor Gericht stehen, dass darüber gesprochen wird, dass dadurch Bildung betrieben wird, und dass dadurch auch der Lebensabend dieser KZ-Aufseher zur Hölle gemacht wird. Und das halte ich auch für ganz problematisch.
Also, kann ich natürlich menschlich gut nachvollziehen. Aber zum einen ist es nicht Aufgabe vom Gericht, Bildung durchzuführen, sondern Recht zu sprechen. Aber der wichtigere Punkt ist ja derjenige, dass auch bei diesen KZ-Aufsehern erst mal eine Unschuldsvermutung besteht, auch wenn wir das unangenehm finden. Aber das ist nun mal halt einfach so. Und wenn wir dann von vornherein sagen, wir wissen ja, dass es gar nicht mehr zur letzten Instanz kommen wird, aber wir machen es trotzdem, weil wir diesen KZ-Aufsehern das Leben zur Hölle machen wollen, das finde ich dann juristisch sehr problematisch.
Heise: Das Leben zur Hölle machen wollen, ist sicherlich kein Argument von Kurt Schrimm, dem Staatsanwalt und Leiter der Zentralstelle der NS-Verbrechen in Ludwigsburg. Der sieht nämlich einerseits die Arbeit seiner Behörde als eine historische, weil in den meisten Fällen eben auch niemand mehr angeklagt werden kann. Aber erst in den letzten 20 Jahren haben sich die Archive geöffnet, die vorher hinter dem Eisernen Vorhang lagen, beispielsweise, und nun Informationen eben freigeben. Und jetzt ist eben tatsächlich der wirklich allerallerletzte Zeitpunkt, noch Beteiligte zu finden. Das rechtfertigt doch eigentlich schon die verstärkten Anstrengungen, oder?
Weber: Absolut. Und mir geht es jetzt auch gar nicht darum, die Stelle in Ludwigsburg zu kritisieren. Ich finde das ganz hervorragend, was die machen. Ich frage mich nur, ob ein klassisches Gerichtsverfahren noch der beste Weg ist, um diese Vergangenheit juristisch aufzuarbeiten oder ob es da nicht bessere Wege gibt. Bei der dann auch nicht der Gesundheitszustand der Täter im Mittelpunkt stehen würde, sondern tatsächlich die Taten, um die es geht.
Heise: Sie, Herr Weber, haben ja schon seit Längerem eine Art Wahrheitskommission angeregt, eben als eigentlich das bessere Verfahren, um, wie jetzt häufig gesagt wird, Aufklärung zu betreiben nach wie vor und Erinnerungen wachzuhalten. Wie soll eine solche Wahrheitskommission funktionieren, die NS-Verbrechen aufarbeiten soll?
Weber: Eine solche Wahrheitskommission würde mögliche Täter, potenzielle Täter vor die Wahl stellen, entweder in einem klassischen Gerichtsverfahren aufzutreten oder vor einer Wahrheitskommission. Und das ist, glaube ich, gerade bei NS-Verbrechen vielversprechend, weil es dann tatsächlich halt wie gesagt nicht darum gehen wird um Gesundheitszustand, weil es nicht im genuinen Interesse der Angeklagten stehen würde, sich als möglichst krank darzustellen oder möglichst herauszureden, sondern wirklich Leute zum Reden zu bringen. Und da glaube ich, ist auch wiederum die Gefahr dieser neuen Verfahren: Diese Idee, dass es ausreichend ist, dass man im KZ gewesen ist. Dass man nicht individuell beweisen muss, dass jemand eine konkrete Tat vollbracht hat. Dadurch bringt man wirklich, glaube ich, Leute zum Schweigen.
Und ich glaube, dass Wahrheitskommissionen Menschen zum Reden bringen würden. Es gibt natürlich auch große Risiken bei solchen Wahrheitskommissionen, aber ich glaube, dass die Risiken bei den Wahrheitskommissionen geringer sind als bei weiteren Gerichtsverfahren.
Heise: Der Historiker Thomas Weber hält eine Aufarbeitung der NS-Verbrechen durch Wahrheitskommissionen für sinnvoll. Herr Weber, Sie sprechen eben selber die Risiken an – welche sind das?
Weber: Na ja, ein Risiko ist natürlich, dass dann jemand sagt, ja gut, dann spreche ich halt vor der Wahrheitskommission, finde ich ja ganz toll, und vor der Wahrheitskommission stellt sich dann jemand hin und sagt, ich war ja eigentlich auch ein Opfer und kein richtiger Täter, ich wollte das ja eigentlich gar nicht und ich hab nur Befehle befolgt. Das wäre zum Beispiel ein mögliches Risiko. Aber ich glaube, dass, selbst wenn nur wenige Leute wirklich anfangen, offen zu sprechen, wäre damit schon viel getan. Ich glaube auch, wenn alte Greise die Wahl haben, entweder ihre letzten Lebensmonate und Lebensjahre vor Gericht zu verbringen oder offen zu sprechen, glaube ich, dass sie auch vor ihren eigenen Kindern und Enkeln besser da stehen.
Von daher kann ich mir schon gut vorstellen, dass es da einige Leute geben wird, die wirklich offen darüber sprechen würden und dass dadurch auch mehr Augenmerk darauf gesetzt würde, wie eigentlich die Täter zu diesen Taten gekommen sind. Das haben mir auch in letzter Zeit Holocaust-Überlebende gesagt, dass dort wirklich noch viel im Unklaren ist. Also was für Taten es gegeben hat, wissen wir im Großen und Ganzen, aber wieso viele Täter gehandelt haben, wissen wir nach wie vor in vielen Fällen noch nicht so richtig. Und von daher, finde ich, könnten da Wahrheitskommissionen ganz stark eine Diskussion in Gang bringen.
Heise: Wahrheitskommissionen, die aber, um dann Menschen, die jetzt seit sieben Jahrzehnten schweigen, doch zum Reden zu bringen, doch auch einen gewissen Druck ausüben müssen. Woraus soll der bestehen?
Weber: Der Druck ist zum einen natürlich ein moralischer Druck. Der Druck kann natürlich auch ein juristischer Druck sein. Zum einen, dass man erst mal sagt, wenn ihr nicht mitmacht und wenn ihr auch nicht vernünftig mitmacht, dann steht ihr vor einem normalen Gericht. Also von daher ist es ja nicht nur, als ob es nur einen moralischen Druck gibt. Und es ist ja auch nicht so, als ob es Wahrheitskommissionen noch nie gegeben hat. Wahrheitskommissionen hat es ja in vielen afrikanischen und lateinamerikanischen Staaten gegeben, und in manchen Fällen hat es gut funktioniert, in anderen Fällen hat es weniger gut funktioniert. Und wofür ich plädiere, ist, dass man ernsthaft versucht, die Lehren von diesen Wahrheitskommissionen auf den europäischen Kontext anzuwenden.
Heise: Ein wichtiger Aspekt ist ja immer, dass den Opfern und ihren Angehörigen oder Hinterbliebenen es nicht nur um das Wachhalten der Erinnerung ankommt, sondern eben auch um das juristische Feststellen von Schuld durchaus und auch auf Gerechtigkeit ankommt. Wie sieht die Idee Ihrer Wahrheitskommission diesen Aspekt?
Weber: Wahrheitskommissionen können ja auch – und das haben ja auch wiederum lateinamerikanische und afrikanische Beispiele gezeigt – können ja durchaus über Schuld und Sühne urteilen. Also von daher könnte gerade Wahrheitskommission und in diesem Kontext sehr gut funktionieren. Weil so eine Sache natürlich auch schneller über die Bühne gehen könnte. Denn das Problem ist ja, im klassischen juristischen Verfahren, bis alle Instanzen durchlaufen sind, sind höchstwahrscheinlich alle der jetzt noch lebenden KZ-Aufseher aus Auschwitz und anderswo tot. Sodass letztlich, letztinstanzlich eben keine Schuld oder Unschuld festgestellt wird. Und ich glaube, dass das Wahrheitskommissionen noch machen könnten.
Heise: Aber auch einer Wahrheitskommission läuft natürlich inzwischen die Zeit davon. Wie weit ist Ihre Idee eigentlich schon gediehen?
Weber: Da haben Sie vollkommen recht, ich habe da auch große Sorge, dass so eine Sache nicht mehr schnell genug funktionieren würde. Ich betreibe trotzdem die Sache mit aller Kraft, und es wird jetzt im Juni im deutsch-italienischen Zentrum in der Villa Vigoni ein Treffen von 20 Forschern, Juristen, Holocaust-Überlebenden, Nazi-Jägern, Leuten aus dem politischen Bereich und Journalisten stattfinden, um zu diskutieren, wie diese Idee weitergedacht werden kann und wie sie vielleicht auch umgesetzt werden kann.
Ich habe allerdings tatsächlich Sorge, dass nicht mehr genug Zeit zumindest für die Aufarbeitung des Holocaust da ist, aber es gibt ja leider auch viele andere dunkle Kapitel der europäischen Vergangenheit, die noch nicht so weit zurückliegen, und ich bin zumindest hoffnungsvoll, dass es zumindest für den Fall noch genug Zeit da ist, um solche Wahrheitskommissionen einzusetzen.
Heise: Sagt der Historiker Thomas Weber. Er schlägt Wahrheitskommissionen vor zur Aufarbeitung von NS-Verbrechen. Herr Weber, ich danke Ihnen ganz herzlich für diese Informationen!
Weber: Herzlichen Dank!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Die Behörde beruft sich dabei auf das Münchner Urteil, nach dem die Tätigkeit in einem Vernichtungslager ausreicht für eine solche Anklage. Das findet der Historiker Thomas Weber problematisch. Warum, das erklärt er uns jetzt, ich konnte ihn vor der Sendung in Harvard sprechen, wo er zurzeit an der Universität lehrt, und fragte ihn, ob seiner Meinung nach etwas gegen die Einleitung der Ermittlungen gegen die 50 ehemaligen KZ-Aufseher spricht.
Thomas Weber: Meines Erachtens ja. Es ist natürlich grundsätzlich alles sehr löblich, aber die große Gefahr ist, dass ein solches Verfahren in einem großen Fiasko enden würde. Und der Grund dafür ist, dass das Urteil gegen Demjanjuk ja nicht rechtskräftig geworden war. Und es weiß keiner, ob in neuen Verfahren die Landgerichte, die dann urteilen würden, dieser Rechtsauffassung folgen würden, und ob auch, wenn dann Urteile in höhere Instanz gehen würden, ob dann zum Beispiel der Bundesgerichtshof oder das Bundesverfassungsgericht, der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte so ein Urteil wieder aufheben würde und sagen würde, nee, so geht es nicht. Und ich glaube, wenn dann auf einmal Auschwitz-KZ-Aufseher freigesprochen werden würden, wäre die Wirkung ganz fatal.
Heise: Also das Verlassen auf dieses Urteil, das sehen Sie auf jeden Fall überhaupt nicht weiter. Die andere Sache ist ja die, dass die Verdächtigen eine eventuelle Strafe antreten müssen – das ist ob ihres Alters ja sehr unwahrscheinlich. Auch, ob sie durch alle Instanzen den Ausgang eines Prozesses überhaupt erleben. Wie sieht bei so einer Ausgangssituation eigentlich die juristische Grundlage so eines Prozesses aus?
Weber: Die juristische Grundlage ist natürlich erst mal, zu sagen, Mord verjährt nicht, und hier geht es ja nur um Mord. Alle anderen Sachen, selbst Totschlag wäre schon verjährt, muss eingeleitet werden unabhängig vom Gesundheitszustand der Täter. Aber in der allgemeinen Diskussion um die Idee, neue Auschwitz-Verfahren zu haben, wird ja jetzt gesagt, na ja, wenn die hinterher nicht mehr verurteilt werden, ist es ja gar nicht so schlimm. Es ist ja schon viel dadurch gewonnen, dass sie vor Gericht stehen, dass darüber gesprochen wird, dass dadurch Bildung betrieben wird, und dass dadurch auch der Lebensabend dieser KZ-Aufseher zur Hölle gemacht wird. Und das halte ich auch für ganz problematisch.
Also, kann ich natürlich menschlich gut nachvollziehen. Aber zum einen ist es nicht Aufgabe vom Gericht, Bildung durchzuführen, sondern Recht zu sprechen. Aber der wichtigere Punkt ist ja derjenige, dass auch bei diesen KZ-Aufsehern erst mal eine Unschuldsvermutung besteht, auch wenn wir das unangenehm finden. Aber das ist nun mal halt einfach so. Und wenn wir dann von vornherein sagen, wir wissen ja, dass es gar nicht mehr zur letzten Instanz kommen wird, aber wir machen es trotzdem, weil wir diesen KZ-Aufsehern das Leben zur Hölle machen wollen, das finde ich dann juristisch sehr problematisch.
Heise: Das Leben zur Hölle machen wollen, ist sicherlich kein Argument von Kurt Schrimm, dem Staatsanwalt und Leiter der Zentralstelle der NS-Verbrechen in Ludwigsburg. Der sieht nämlich einerseits die Arbeit seiner Behörde als eine historische, weil in den meisten Fällen eben auch niemand mehr angeklagt werden kann. Aber erst in den letzten 20 Jahren haben sich die Archive geöffnet, die vorher hinter dem Eisernen Vorhang lagen, beispielsweise, und nun Informationen eben freigeben. Und jetzt ist eben tatsächlich der wirklich allerallerletzte Zeitpunkt, noch Beteiligte zu finden. Das rechtfertigt doch eigentlich schon die verstärkten Anstrengungen, oder?
Weber: Absolut. Und mir geht es jetzt auch gar nicht darum, die Stelle in Ludwigsburg zu kritisieren. Ich finde das ganz hervorragend, was die machen. Ich frage mich nur, ob ein klassisches Gerichtsverfahren noch der beste Weg ist, um diese Vergangenheit juristisch aufzuarbeiten oder ob es da nicht bessere Wege gibt. Bei der dann auch nicht der Gesundheitszustand der Täter im Mittelpunkt stehen würde, sondern tatsächlich die Taten, um die es geht.
Heise: Sie, Herr Weber, haben ja schon seit Längerem eine Art Wahrheitskommission angeregt, eben als eigentlich das bessere Verfahren, um, wie jetzt häufig gesagt wird, Aufklärung zu betreiben nach wie vor und Erinnerungen wachzuhalten. Wie soll eine solche Wahrheitskommission funktionieren, die NS-Verbrechen aufarbeiten soll?
Weber: Eine solche Wahrheitskommission würde mögliche Täter, potenzielle Täter vor die Wahl stellen, entweder in einem klassischen Gerichtsverfahren aufzutreten oder vor einer Wahrheitskommission. Und das ist, glaube ich, gerade bei NS-Verbrechen vielversprechend, weil es dann tatsächlich halt wie gesagt nicht darum gehen wird um Gesundheitszustand, weil es nicht im genuinen Interesse der Angeklagten stehen würde, sich als möglichst krank darzustellen oder möglichst herauszureden, sondern wirklich Leute zum Reden zu bringen. Und da glaube ich, ist auch wiederum die Gefahr dieser neuen Verfahren: Diese Idee, dass es ausreichend ist, dass man im KZ gewesen ist. Dass man nicht individuell beweisen muss, dass jemand eine konkrete Tat vollbracht hat. Dadurch bringt man wirklich, glaube ich, Leute zum Schweigen.
Und ich glaube, dass Wahrheitskommissionen Menschen zum Reden bringen würden. Es gibt natürlich auch große Risiken bei solchen Wahrheitskommissionen, aber ich glaube, dass die Risiken bei den Wahrheitskommissionen geringer sind als bei weiteren Gerichtsverfahren.
Heise: Der Historiker Thomas Weber hält eine Aufarbeitung der NS-Verbrechen durch Wahrheitskommissionen für sinnvoll. Herr Weber, Sie sprechen eben selber die Risiken an – welche sind das?
Weber: Na ja, ein Risiko ist natürlich, dass dann jemand sagt, ja gut, dann spreche ich halt vor der Wahrheitskommission, finde ich ja ganz toll, und vor der Wahrheitskommission stellt sich dann jemand hin und sagt, ich war ja eigentlich auch ein Opfer und kein richtiger Täter, ich wollte das ja eigentlich gar nicht und ich hab nur Befehle befolgt. Das wäre zum Beispiel ein mögliches Risiko. Aber ich glaube, dass, selbst wenn nur wenige Leute wirklich anfangen, offen zu sprechen, wäre damit schon viel getan. Ich glaube auch, wenn alte Greise die Wahl haben, entweder ihre letzten Lebensmonate und Lebensjahre vor Gericht zu verbringen oder offen zu sprechen, glaube ich, dass sie auch vor ihren eigenen Kindern und Enkeln besser da stehen.
Von daher kann ich mir schon gut vorstellen, dass es da einige Leute geben wird, die wirklich offen darüber sprechen würden und dass dadurch auch mehr Augenmerk darauf gesetzt würde, wie eigentlich die Täter zu diesen Taten gekommen sind. Das haben mir auch in letzter Zeit Holocaust-Überlebende gesagt, dass dort wirklich noch viel im Unklaren ist. Also was für Taten es gegeben hat, wissen wir im Großen und Ganzen, aber wieso viele Täter gehandelt haben, wissen wir nach wie vor in vielen Fällen noch nicht so richtig. Und von daher, finde ich, könnten da Wahrheitskommissionen ganz stark eine Diskussion in Gang bringen.
Heise: Wahrheitskommissionen, die aber, um dann Menschen, die jetzt seit sieben Jahrzehnten schweigen, doch zum Reden zu bringen, doch auch einen gewissen Druck ausüben müssen. Woraus soll der bestehen?
Weber: Der Druck ist zum einen natürlich ein moralischer Druck. Der Druck kann natürlich auch ein juristischer Druck sein. Zum einen, dass man erst mal sagt, wenn ihr nicht mitmacht und wenn ihr auch nicht vernünftig mitmacht, dann steht ihr vor einem normalen Gericht. Also von daher ist es ja nicht nur, als ob es nur einen moralischen Druck gibt. Und es ist ja auch nicht so, als ob es Wahrheitskommissionen noch nie gegeben hat. Wahrheitskommissionen hat es ja in vielen afrikanischen und lateinamerikanischen Staaten gegeben, und in manchen Fällen hat es gut funktioniert, in anderen Fällen hat es weniger gut funktioniert. Und wofür ich plädiere, ist, dass man ernsthaft versucht, die Lehren von diesen Wahrheitskommissionen auf den europäischen Kontext anzuwenden.
Heise: Ein wichtiger Aspekt ist ja immer, dass den Opfern und ihren Angehörigen oder Hinterbliebenen es nicht nur um das Wachhalten der Erinnerung ankommt, sondern eben auch um das juristische Feststellen von Schuld durchaus und auch auf Gerechtigkeit ankommt. Wie sieht die Idee Ihrer Wahrheitskommission diesen Aspekt?
Weber: Wahrheitskommissionen können ja auch – und das haben ja auch wiederum lateinamerikanische und afrikanische Beispiele gezeigt – können ja durchaus über Schuld und Sühne urteilen. Also von daher könnte gerade Wahrheitskommission und in diesem Kontext sehr gut funktionieren. Weil so eine Sache natürlich auch schneller über die Bühne gehen könnte. Denn das Problem ist ja, im klassischen juristischen Verfahren, bis alle Instanzen durchlaufen sind, sind höchstwahrscheinlich alle der jetzt noch lebenden KZ-Aufseher aus Auschwitz und anderswo tot. Sodass letztlich, letztinstanzlich eben keine Schuld oder Unschuld festgestellt wird. Und ich glaube, dass das Wahrheitskommissionen noch machen könnten.
Heise: Aber auch einer Wahrheitskommission läuft natürlich inzwischen die Zeit davon. Wie weit ist Ihre Idee eigentlich schon gediehen?
Weber: Da haben Sie vollkommen recht, ich habe da auch große Sorge, dass so eine Sache nicht mehr schnell genug funktionieren würde. Ich betreibe trotzdem die Sache mit aller Kraft, und es wird jetzt im Juni im deutsch-italienischen Zentrum in der Villa Vigoni ein Treffen von 20 Forschern, Juristen, Holocaust-Überlebenden, Nazi-Jägern, Leuten aus dem politischen Bereich und Journalisten stattfinden, um zu diskutieren, wie diese Idee weitergedacht werden kann und wie sie vielleicht auch umgesetzt werden kann.
Ich habe allerdings tatsächlich Sorge, dass nicht mehr genug Zeit zumindest für die Aufarbeitung des Holocaust da ist, aber es gibt ja leider auch viele andere dunkle Kapitel der europäischen Vergangenheit, die noch nicht so weit zurückliegen, und ich bin zumindest hoffnungsvoll, dass es zumindest für den Fall noch genug Zeit da ist, um solche Wahrheitskommissionen einzusetzen.
Heise: Sagt der Historiker Thomas Weber. Er schlägt Wahrheitskommissionen vor zur Aufarbeitung von NS-Verbrechen. Herr Weber, ich danke Ihnen ganz herzlich für diese Informationen!
Weber: Herzlichen Dank!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.