Europäischer Islam - Wunsch oder Wirklichkeit?
Viel wird zur Zeit über die Institutionalisierung des Islam geredet. Aber muss sich auch die islamische Theologie verändern, um hier anzukommen? Und was heißt das für die Glaubenspraxis der Muslime? Thilo Guschas hat sich auf die Suche nach dem europäischen Islam begeben.
Daniel Abdin: "Momentan sind wir auf einem Stadtteilfest. Da sind ganz viele Stände. Seitens der Politik, Gesellschaft, Sparkassen, der Kirchen. Unter anderem auch unsere Gemeinde hat hier auch einen Stand."
Und manchmal hat diese Gemeinde auch einen schweren Stand. Der Islam bringe viele politische Probleme, bekommt Daniel Abdin von der Nour-Moschee Hamburg immer wieder zu hören.
Passantin: "Ich finde, die Muslime könnten auch mal in ihrem eigenen Land, wer ein bisschen intelligent ist, einfach ein bisschen was reformieren, und einfach da, wo die Steinigung wie im Mittelalter noch ausgeübt wird, da können die Muslime ein bisschen daran arbeiten, nö, wir steinigen hier nichts mehr, weil jeder, der auf die mittelalterliche Sache zurückgreift, der sündigt dann auch wieder."
Daniel Abdin: "Wir richten uns nicht nach Saudi-Arabien, Türkei, Iran oder sonstigen islamischen Ländern, wir sind deutsche Muslime. Wir üben unsere Religion aus, was das Grundgesetz uns zusichert, und dafür respektieren wir das Grundgesetz."
Der Islam hierzulande - ein Produkt unserer Gesellschaft
Der Islam in Deutschland ist anders als in der islamischen Welt – ein Zwiespalt für viele deutsche Muslime. Oder wird ihnen dieser Zwiespalt nur eingeredet? Für viele jedenfalls lassen sich Glaube und Grundgesetz gut vereinbaren – ohne dass sie dabei auf normative Konzepte wie das des Euro-Islam Bezug nehmen, das der Göttinger Islamwissenschaftler Bassam Tibi vor 25 Jahren entworfen hat. "Auf dem Weg zu einem Europäischen Islam – Oder ist dieser womöglich längst Realität?" heißt eine neue Untersuchung im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung. Anders als der Titel vermuten lässt, liefert die Studie keine Beschreibung, wie ein europäischer Islam idealerweise aussehen sollte – sondern eine nüchterne Bestandsaufnahme. Der Islam in Deutschland umfasst demnach liberale und konservative Strömungen ebenso wie den Jihadismus. In all seinen Spielarten sei der Islam hierzulande ein Produkt unserer Gesellschaft. Dies gelte ausdrücklich auch für den so fremd wirkenden Salafismus, sagt die Autorin der Studie Julia Gerlach.
"Das, was europäisch daran ist, an diesen Salafisten, ist, dass das eine Protestkultur ist. Also wenn man heutzutage junger Schüler ist, und man möchte seine Lehrer schocken, dann kann man das nicht machen, indem man eine schwarze Lederjacke anzieht und die Haare im Irokesenschnitt hat, so wie wir das vielleicht früher gemacht haben. Aber wenn man hingeht und sagt 'Ich bin radikaler Islamist und ich will vier Frauen heiraten und ich will in den Jihad ziehen', dann kann man sicher sein, dass die Lehrer geschockt sind, und dass man damit auch Wirkung erzielt."
Salafisten auch als Spielart eines europäischen Islam wahrzunehmen, das weicht spürbar ab von der Sicht, die viele Muslime vertreten. Ein Mitglied der Hamburger Moscheegemeinde.
"Ich finde, dieser Begriff Salafismus, wenn man sich das so betrachtet und anschaut, wer dahinter steht, diese Personen, die sich religiös orientieren, sich dazu entscheiden, sich Gott hinzugeben und den Islam zu praktizieren, nehmen sich falsche Vorbilder, und lernen an diesen falschen Vorbildern. Und üben entsprechend den Islam dann auch falsch aus und finden dann Anhänger und so ist das dann praktisch eine Kettenreaktion, und das artet dann halt aus."
Salafismus sei ein falscher Islam – eigentlich gar kein Islam; diese Abwehrstrategie benutzen Muslime häufig. Aber:
"Wenn wir die Salafisten nicht als Teil der Realität der Muslime in Europa sehen, dann verdrängen wir, dass es sie überhaupt gibt."
Mouhanad Khorchide, Theologe an der Universität Münster.
"Und dann verdrängen wir auch die Auseinandersetzung mit dem Salafismus, mit den Ideen des Salafismus, deshalb finde ich auch den Satz 'Salafismus hat mit Islam nichts zu tun', oder 'deren Ideologie – das hat alles nichts mit dem Islam zu tun' - eine eher kontraproduktive Strategie, weil man dann die Auseinandersetzung meidet, mit den Inhalten, mit den Argumenten und gleichzeitig sehen wir, dass sehr viele, die zum Islam konvertieren, zum Salafismus konvertieren. Dass viele, und die Zahlen werden immer mehr, junge Menschen sich angezogen fühlen vom Salafismus – da müssen wir uns mit diesem Phänomen auseinandersetzen."
Doch längst nicht alle Muslime stecken angesichts der Radikalisierung ihrer Glaubensgeschwister den Kopf in den Sand. Viele suchen intensiv nach Wegen, um sich inhaltlich abzugrenzen. Oft ist das produktiv – die Neubestimmung der eigenen Identität führt zu erfrischenden Ergebnissen.
"Ja, mein Name ist Abu Ahmed Yakobi. Ich bin muslimischer Theologe."
Yakobi, studierter Volkswirt und Islamwissenschaftler, kam vor über 45 Jahren von Libyen nach Deutschland. Er vertritt eine scheinbar paradoxe Position: Ein zeitgemäßer Islam solle sich auf die Tradition besinnen.
"In meiner Arbeit möchte ich versuchen, jungen Leuten, Muslimen, bewusst zu machen, dass sie eigentlich einer Tradition angehören. Und dass sie bitteschön versuchen sollten, an eine Tradition wieder anzuknüpfen, und sie wieder modern zu deuten und zu leben. Wir hatten eine Debattierkultur. Das heißt, es geschah oft bei den Palästen von gebildeten Emiren, wir haben die verschiedenen Meinungen geholt und haben die miteinander streiten lassen. Und die genossen das."
Ein Bindemittel zwischen Muslimen und Mehrheitsgesellschaft
In einer Moschee in Hamburg-Bergedorf erteilt Yakobi Koranunterricht. Er bildet Diskussionsgruppen, mit der Vorgabe, kontrovers über den Islam zu debattieren. Eine Neubelebung der Tradition. Konservative Muslime beschimpften ihn dafür schon als "Ketzer". Yakobi sagt, viele junge Leute kämen in seinen Unterricht, weil der Salafismus sie verunsichere. Einfache Antworten habe er nicht. Aber wenn die Jugendlichen mit Fragen nach Hause gingen, sei viel gewonnen. Eine lebendige islamische Theologie kann ein Bindemittel zwischen Muslimen und Mehrheitsgesellschaft sein. Das spüren auch die Moscheegemeinden– besonders seit die neu angekommenen muslimischen Flüchtlinge ihre Angebote nutzen.
Daniel Abdin: "Wir haben jetzt einen sehr großen Zuwachs an Betenden, jeden Freitag, deswegen haben wir das Freitagsgebet in zwei Schichten eingeführt. Wichtig ist, dass wir alle auffangen. Und ich denke auch, dass die Menschen nicht radikalisiert werden, wenn wir das wollen, dann dürfen wir den radikalen Kräften keinen Millimeter Platz geben. Das heißt, wir müssen immer vor Ort sein, die Menschen aufnehmen, mit den Menschen sprechen und sie auffangen.
Theologie wird in Deutschland aber nicht nur in Gotteshäusern betrieben, nicht nur in religiösen Instituten und Akademien, sondern auch an staatlichen Universitäten. Da ist es nur folgerichtig, dass es mittlerweile mehrere Lehrzentren für islamische Theologie in Deutschland gibt.
Mouhanad Khorchide: "Wir können nicht die Theologie so übernehmen, wie sie zum Beispiel in Kuweit, Katar oder in Saudi-Arabien oder in Ägypten dort funktioniert. Wir brauchen eine neue Reflexion hier, wir können nicht einfach den Koran wortwörtlich hier nehmen und sagen: Ja, Körperstrafen, die im Koran vorkommen, die müssen wir auch hier in Deutschland einführen, um fromme Muslime zu sein. Sondern das muss in seinem historischen Kontext des 7. Jahrhunderts verortet werden, solche und andere Verse. Wo man daraus ableitet, die ethischen Prinzipien dahinter, zum Beispiel die Schaffung einer gerechten Gesellschaftsordnung."
Einigen gehen Khorchides historisch-kritische Interpretationen zu weit. Die Islam-Verbände drohten mit einem Austritt aus dem Beirat an Khorchides Institut, das Islamlehrer ausbildet. Beim Tauziehen um theologische Positionen geht es um Deutungsmacht. Einen weiteren Konflikt sieht Khorchide in einer bestimmten politischen Forderung, die immer wieder erhoben wird:
"Mich stört die Situation in Deutschland, dass man versucht, christliche Strukturen auf den Islam zu setzen und zu sagen: 'Liebe Muslime, organisiert Euch zu einer Kirche. Macht Euch so, wie sich das Christentum organisiert. Macht etwas Entsprechendes.' Aber das ist dem Islam an sich fremd, ich würde mir erwarten, dass man den Islam in seiner Andersartigkeit anerkennt, ohne dass er etwas aufgeben muss."
Lage in Österreich
Anders ist die Lage in Österreich. Dort wurde 1912 das Islamgesetz erlassen, das den Islam nach der hanafitischen Rechtsschule als Religionsgemeinschaft anerkennt. Es entstand, als Bosnien-Herzegowina mit seinen 600.000 Muslimen annektiert wurde – und war eine pragmatische Lösung, der keine Aushandlung vorausging. Als das Islamgesetz im Jahr 2015 novelliert wurde, gab es eine breitere Diskussion als hundert Jahre zuvor. Doch auch die neue Gesetzgebung löst nicht alle Schwierigkeiten.
Mouhanad Khorchide: "Die islamische Glaubensgemeinschaft als Körperschaft des öffentlichen Rechts in Österreich – ihre Mitgliederzahlen sind zwischen 15 Prozent und bestenfalls 20 Prozent der Muslime in Österreich. Wir haben dort dasselbe Problem wie hier in Deutschland, dass wir keine repräsentative Institution haben, die im Namen der Muslime oder der Mehrheit der Muslime spricht."
Ein schwieriges Unterfangen. Denn der Islam ist noch vielgestaltiger geworden, wie auch die Untersuchung von Julia Gerlach zeigt. Wesentliche Treiber sind die Institutionalisierung einer modernen Theologie, aber auch die neue Identitätssuche in Abgrenzung zum Salafismus. Kontrovers bleibt die Frage, inwieweit die Diskussion über normative Vorgaben tatsächlich in den Alltag und die religiöse Praxis ausstrahlt. Muslime hätten vielfach eigenständige, pragmatische Wege gefunden, losgekoppelt von theologischen Diskursen, schreibt die Islamwissenschaftlerin Sarah Albrecht in einer ebenfalls neu erstellten Bertelsmann-Untersuchung unter dem Titel "Wie islamisch ist Europa?". Festzuhalten ist, dass der Islam so oder so bunter geworden ist – und dass auch alte Zöpfe abgeschnitten werden.
Julia Gerlach: "Es ist nicht mehr diese sehr, sehr starke Konzentration darauf, den Sheikh zu fragen, was ist erlaubt und darf ich Cola trinken oder darf ich bestimmte Fernsehserien gucken, sondern dass die Leute sich zutrauen, selber nachzudenken und selber Entscheidungen zu treffen. Und das ist auch neu."