Mitgefühl der Menschenaffen

Rezensiert von Gabriele Killert |
In "Der Affe in uns. Warum wir sind, wie wir sind" beschreibt der niederländische Primatologe Frans de Waal das Verhalten von Menschenaffen. Er vergleicht insbesondere die aggressiven Schimpansen und die friedliebenden Bonobos. Bei de Waals plastischen Beschreibungen drängen sich dem Leser Analogien zu menschlichen Verhaltungsweisen auf.
In zoologischen Gärten kommt es gelegentlich zu fatalen Unfällen. Vor Jahren fiel im BrookfieldZoo in Chicago ein dreijähriges Kind fünf Meter tief ins Primatengehege. Die Gorillafrau Binti Jua eilte herbei und schnappte sich das Kind.

"Sie setzte sich auf einen Baumstamm in einem Wasserlauf, wiegte den Jungen im Schoß und gab ihm ein paar zärtliche Klapse auf den Rücken; schließlich brachte sie ihn den bereits wartenden Zoomitarbeitern."

Der Primatologe Frans de Waal kolportiert diesen Vorfall in seinem neuen Buch "Der Affe in uns" nicht zum ersten Mal, wobei ihn immer wieder die Tatsache irritiert, dass man einem Menschenaffen so viel Mitgefühl nicht zutraut. Der Leiter der Feldforschungsstation des Yerkes National Primate Research Center nahe Atlanta hat von seinem Panoramafenster aus zahllose Beispiele spontanen Helfens und Tröstens bei Primaten beobachtet. Es gibt auch erstaunliche experimentelle Beobachtungen.

"Ein Affe zog fünf Tage und ein anderer zwölf nicht mehr an einem Griff, um Fressen zu bekommen, nachdem sie mitbekommen hatten, dass jedes Mal, wenn sie das taten, ein Gefährte einen Stromschlag erhielt. Die Affen hungerten buchstäblich, um zu vermeiden, dass anderen Schmerzen zugefügt wurde."

De Waal wertet diese Neigung zum Mitgefühl und Mitleiden als Vorformen der Moralität, die über einen sehr langen Zeitraum evolviert wurden. Sie haben einen enormen Überlebenswert in sozialen Gemeinschaften, die auf wechselseitigen Altruismus angewiesen sind.

In ihrer Fähigkeit zur Empathie und der Neigung zur Gewalt zeigen Primaten allerdings große Unterschiede. Glücklicherweise sind wir mit zwei sehr engen Artverwandten gesegnet, die verschiedener nicht sein könnten und Frans de Waal ist ein versierter Kenner beider Spezies.

"Der eine ist ein bärbeißiger, in Aggressionsbewältigungsangelegenheiten ambitionierter Geselle. Der andere ein egalitärer Anhänger eines lockeren Lebenswandels. Den Schimpansen kennt jeder. Ich habe genug Blutvergießen unter Schimpansen gesehen, um zuzugeben, dass sie zur Gewalt neigen. Aber wir dürfen auch unseren anderen engen Verwandten, den Bonobo, nicht vergessen."

Der Autor vergleicht die beiden Spezies in punkto Macht, Es, Gewalt und Sanftmut. Schimpansen sind notorische Raufbolde, die sich mit Fremden schlagen und ihre Weibchen an der kurzen Leine halten. Ansonsten sind sie ganz nette Kerle, die sich auch wieder vertragen. Bei den Bonobos ist es genau umgekehrt. Sie sind die Sanftmut in Person, hängen am Rockzipfel ihrer Mütter, die bei den Bonobos absolut das Sagen haben und spielen wahrscheinlich ab und zu den Macho, um ihren Müttern zu imponieren.

Sie haben viel Sex, den ihnen die Weibchen freigiebig gewähren, das Hauptzahlungsmittel, Sex gegen Essen und Konfliktlösungsmittel Nummer eins. Bei dem Lebenswandel werden diese "Kamasutra-Primaten" in Frieden alt. Schimpansen sind zu sehr von ihren Rivalitätskämpfen beansprucht, dem Zwang, sich durchzuboxen, um viel Zeit für Sex zu haben. Und kaum sind sie oben, rücken auch schon die halbstarken Jahrgänge nach, um sie zu entmachten.

De Waal erzählt sehr plastisch von dramatischen Kämpfen, denen auch sein Lieblingsschimpanse zum Opfer fiel. Man fühlt sich in alte Epen versetzt, Hagen erschlägt Gunter, oder in Shakespeares Intrigenwelt. In ihren Kämpfen verausgaben sie sich völlig und sterben selten friedlich in ihrem Schlafnest.

Wenn wir uns im Spiegel dieser beiden betrachten, will einem der zarte, auch zarter gebaute Bonobo als eine liebenswürdige Splitterpartei nach Art der Grünen erscheinen. Beim Schimpansen, diesem wahrhaften zoon politicon dagegen kommt einem sehr vieles bekannt vor. Auch dem Forscher drängen sich Analogien auf. Der abgesetzte Alpha-Mann erinnert in seiner melancholischen Zerknirschtheit etwa an Präsident Nixon nach dessen Entmachtung. Oder die Bush-Administration in ihrer selbstherrlichen Irakpolitik an einen despotischen Schimpansenboss, der im Begriff ist, von einer Koalition schwächerer Männchen isoliert und davon gejagt zu werden.

Was der Autor dennoch nicht müde wird, den Menschenaffen zu attestieren, Empathie, zeichnet ihn als Forscher selbst in hohem Maße aus. Er ist alles andere als ein kalter Beobachter. Als friedliebender Holländer, den es ins gewaltverliebte Amerika unter gewaltverliebte Affen verschlagen hat, macht de Waal kein Hehl daraus, für welche Spezies sein Herz höher schlägt. Ein Hintertürchen zur Utopie möchte er doch gern offenlassen.

"Statt sich auf menschliche Aggressivität als das Problem zu konzentrieren und auf den Schimpansen als die Spezies, richte ich meine Aufmerksamkeit auf einen weniger brutalen Menschenaffen am Spielfeldrand dieser Debatte. Und das Verhalten dieses Affen lässt eine ganz andere Befähigung erkennen: die zum Frieden."

Frans de Waal: Der Affe in uns. Warum wir sind, wie wir sind
Aus dem Amerikanischen von Hartmut Schickert
Hanser Verlag, München 2006
366 Seiten, 24.90 Euro