Politiker des Jahres
Sigmar Gabriel ist es gelungen, die verwundete Identität seiner Partei zu heilen, kommentiert Stephan Detjen. Auch deshalb werde das Mitgliedervotum, der Sozialdemokraten noch lange nachhallen.
… und der Politiker des Jahres ist: Sigmar Gabriel. Am Ende einer - gelinde gesagt - komplizierten Wegstrecke, an der die SPD mehr als einmal in den Abgrund ihrer politischen Existenz blickte, hat er die breite Mehrheit der Partei heute in Stolz und Jubel hinter sich gebracht.
Vor der im Wortsinne "Post"-romantischen Kulisse eines ehemaligen Paketverteilzentrums in Berlin, in dem seit dem frühen Morgen die Stimmen ausgezählt worden waren, wurde Gabriel heute gefeiert, als er hätte er nicht ein Mitgliedervotum, sondern die Bundestagswahl gewonnen. Die Partei, deren Gemütslage noch vor wenigen Wochen zwischen Schock, Depression und Obstruktion schwankte, feiert den Eintritt in die Große Koalition.
Die Sozialdemokraten haben ihre Führungsfigur gefunden
Nach der Wahl schien es, als solle sich die SPD widerwillig unter die Herrschaft Angelas Merkels fügen. Heute ist klar: die Sozialdemokarten haben ihre eigene Führungsfigur gefunden. Die Entscheidung, das Schicksal der Großen Koalition und damit auch das eigene politische Schicksal in die Hände der Mitglieder zu legen, war unmittelbar nach der Bundestagswahl riskant, wenn nicht gar waghalsig. Gabriels kühnes Kalkül ist aufgegangen. Eine so mutige und so erfolgreiche politische Führungsleistung hat man in Deutschland seit langem nicht gesehen.
Drei Aspekte dieses Tages werden lange nachwirken: Erstens ist es Gabriel gelungen, die verwundete Identität seiner Partei zu heilen. Als der Wahlkampf im Frühsommer dieses Jahres schon tief im Schlamm steckte, fand der Vorsitzende bei den Feiern zum 150. Parteijubiläum den Ton und die Botschaften, mit denen er die SPD jetzt aufgerichtet hat und in die Regierung führt: Die SPD als die Partei, die sich in schwierigen Zeiten immer ihrer Verantwortung gestellt hat, auch dann, wenn es schmerzt und die Seele der Partei zu zerreißen droht.
Gabriel hat damit ein Identifikationsangebot formuliert, dass die große Mehrheit der Mitglieder in Stolz annehmen konnte. Es ist ein Selbstverständnis, dass es Gabriel auch in Zukunft erlauben wird, seiner Partei nicht nur aus kaltem Machtstreben oder Pragmatismus, sondern mit der Berufung auf eine politische Ethik Opfer, Kompromissbereitschaft und Engagement abzuverlangen.
Mitgliedervotum wird Partei prägen
Zweitens wird das Mitgliedervotum nicht nur die SPD, sondern die Parteiendemokratie insgesamt weit über diesen Tag hinaus prägen. Die innerparteiliche Mobilisierung, die der SPD in den letzten Wochen gelang, die Mitgliederbeteiligung von fast 78 Prozent, die Diskussionen auf Regionalkonferenzen, die Welle von Eintritten ist in Zeiten wachsender Parteienverdrossenheit eine Sensation. Die Sorge, dass solche Mitgliedervoten die eigentliche Wahlentscheidung überlagern könnten, ist unbegründet. Denn bei Bundestags- oder Landtagswahlen werden in der jetzigen Parteienlandschaft meist ohnehin nur noch Ausgangskonstellationen für vielfältige Koalitionsoptionen hergestellt. Mitgliedervoten wie das der SPD sind vor diesem Hintergrund ein Mittel, die Mitwirkungsmöglichkeiten engagierter Bürger zu erweitern und die Politik zu beleben. Politische Führung wird deswegen keineswegs überflüssig. Auch das hat Sigmar Gabriel bewiesen.
Denn schließlich und drittens öffnet dieses Mitgliedervotum dem SPD Chef eine chancenreiche Zukunft. Als Vizekanzler und Wirtschaftsminister mit der Zuständigkeit für die Energiewende übernimmt er die Verantwortung für eine der wichtigsten aber auch kompliziertesten Aufgaben der neuen Regierung. Gabriel zeigt, dass er das Selbstverständnis, das er der Partei abverlangt, auch für sich selbst verinnerlicht.
Glückt ihm das Regieren in den nächsten Jahren so, wie in den letzten Monaten die Führung der Partei, muss sich die SPD um ihren nächsten Kanzlerkandidaten keine Sorgen machen. Gabriel steht heute auf dem vorläufigen Zenit einer politischen Karriere, die weit über das nächste Wahljahr hinausreichen könnte. Wenn Angela Merkel am Dienstag im Bundestag zum dritten Mal zur Kanzlerin gewählt wird, steht auch sie auf dem Zenit ihrer Karriere. Am politischen Horizont aber dämmert dann auch schon deren Ende heran. Das ist der Unterschied.