Mithu Sanyal über "Sturmhöhe" von Emily Brontë

„Man begegnet diesem Roman immer wieder neu"

10:52 Minuten
Mithu Sanyal, Kulturwissenschaftlerin, blickt in die Kamera. Sie trägt ein dunkles, bunt gepunktetes Oberteil, sie hat lange, schwarze Haare.
Mithu Sanyal fühlte sich auf Anhieb mit der Hauptfigur Heathcliff in Emily Brontës Roman "Wuthering Heights" verwandt. © picture alliance / dpa / Georg Wendt
Mithu Sanyal im Gespräch mit Andrea Gerk |
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In einer neuen KiWi-Reihe schreiben Autoren über Bücher, die sie zutiefst geprägt haben. Die Schriftstellerin Mithu Sanyal begleitet Emily Brontës "Wuthering Heights" durchs Leben - für sie ein "postmigrantischer Roman".
„Als Volker Weidermann gefragt hat, war ich mir sicher, ich nenne jetzt Hanif Kureishi oder einen anderen postmigrantischen Autor", erinnert sich Mithu Sanyal. "Stattdessen kam völlig selbstverständlich Emily Brontë aus mir raus.“ Sanyals Auseinandersetzung mit Brontës „Wuthering Heights“, auf deutsch "Sturmhöhe", bildet nun den Auftakt einer neuen Reihe des Verlags Kiepenheuer & Witsch.
Weidermann, Literaturkritiker und „Zeit“-Redakteur, gibt die Reihe „Bücher meines Lebens“ heraus. Es gehe "um die lebensverändernde Kraft von Büchern und darum, welche Romane herausragende Autorinnen und Autoren zu den Menschen gemacht haben, die sie sind", erläutert er auf der Webpräsenz des Verlags.

Die Hauptfigur ist schwarz - oder zumindest nicht weiß

„Eigentlich ist 'Wuthering Heights' für mich ein postmigrantischer Roman“, sagt die Kulturwissenschaftlerin, Journalistin und Romanautorin Sanyal: „Die Hauptfigur Heathcliff wird als schwarz beschrieben.“
„Schwarz hieß damals alles, da haben auch Leute aus Indien reingepasst“, sagt Sanyal, selbst Tochter einer Polin und eines Inders.
Heathcliff ist ein Findelkind, das ein Gutsherr in Yorkshire annimmt. Die Geschichte dieser Gutsherrenfamilie im stürmischen Hochmoor, eng verwoben über Hochzeiten mit einer anderen im fruchtbaren Tal, erzählt Emily Brontë über drei Generationen.
Nach dem Tod des Patriarchen wird Heathcliff von dessen Sohn Hindley gedemütigt. Und die Tochter des Patriarchen, Catherine, heiratet den Sohn der Familie aus dem fruchtbaren Tal - und damit den Wohlstand, obwohl sie und Heathcliff sich näher stehen als alle anderen.
„Heathcliff war der erste Held, der mir in einem Roman der Weltliteratur begegnet ist, der Rassismuserfahrungen hat“, macht Sanyal die Bedeutung des Buches für sie deutlich. „Nun ging es mir nicht so schlecht wie ihm im Yorkshire-Hochmoor. Aber ich habe mich zum ersten Mal wirklich von einer Figur der Weltliteratur erkannt gefühlt oder mich verwandt gefühlt.“

Die Empathie jedes Mal neu vergeben

Sanyal verdeutlicht in ihrem Buch, dass es viele verschiedene Lesarten von „Wuthering Heights“ gibt. „Man begegnet diesem Roman immer wieder neu", sagt sie. „Und er sagt einem auch immer wieder etwas Neues.“
Emily Brontë auf einem Bild ihres Bruders Branwell. Die abgebildete Frau sitzt mit schulterfreiem Oberteil im Profil, sie hat lange, dunkle Haare.
Emily Brontë (1818 - 1848): "Wuthering Heights", zu deutsch "Sturmhöhe", ist der einzige Roman der Dichterin und Autorin und ein Klassiker der englischen Literatur. Brontë wuchs mit zwei Schwestern in einem Pfarrhaus auf, unter männlichem Pseudonym veröffentlichten sie Gedichte.© picture alliance / Design Pics / Ken Welsh
Man könne durch die Generationen gehen und seinen Empathieschwerpunkt jedes Mal neu vergeben, sagt Sanyal, die mit ihrem Roman „Identitti“ einen großen Erfolg gelandet und sich intensiv mit dem Thema Identität befasst hat. „Ich glaube, jeder Roman der Weltliteratur ist ein Roman über Identität", sagt die Autorin.

Unbedingtes Verlangen nach Liebe

"Für mich ist es ein Roman über Liebe", erklärt Sanyal zu Brontës Klassiker. Das sei das Geheimnis von Heathcliff gewesen. "Der ist aus Rasse- und Klassegründen völlig entrechtet. Aber er sagt: Ich habe ein Recht darauf, geliebt zu werden."
Er verlange das in einer Welt, in der seine Gefühle eigentlich nicht zählten. "Er zwingt die Welt, ihn wahrzunehmen. Und er nimmt sich selbst darin so unglaublich ernst. Man fragt sich immer: Wo hat er diesen unverletzlichen Kern her? Ansonsten ist es ein hochtraumatisierter Charakter, aber an dem Punkt schwankt er niemals, durch das ganze Buch nicht."
Sanyal schätzt den Willen von Heathcliff, der standhaft seine Perspektive vertrete: "Eure Liebesökonomie ist falsch und meine ist die richtige - obwohl ihr alle mir sagt, ich habe Unrecht."
(mfu)

Mithu Sanyal: "Über Emily Brontë"
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2022
160 Seiten, 20 Euro

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