Mitlauf-Theater im Rotlichtmilieu

Von Christian Gampert |
Das Frankfurter Schauspiel will den Zuschauern ein paar Orte zumuten, an die man sich sonst selten verirrt. Der Ausflug durch das Rotlichtmilieu im Bahnhofsviertel endet in einem Nachtklub. Dort wird dann tatsächlich Theater gespielt.
Mit unseren lieben Schauspielkünstlern waren wir schon überall: im Hafen und bei der Zollbehörde in Basel, in Mietshäusern, Supermärkten und verschwiegenen Hotelzimmern in Zürich, in Mannheim im Arbeitsamt und in einem stillgelegten Spaßbad. Das Mitlauftheater ist schwer in Mode: Einer rennt voran, die anderen trotten hinterher.

In Frankfurt hat man jetzt eine neue Spielwiese entdeckt: das Rotlichtmilieu. Liegt ja auch gleich neben dem Schauspielhaus. Theater und Rotlicht haben viel gemeinsam: bei beiden geht es um die Illusion, um ein zeitlich befristetes Wegtauchen aus dem Alltag, um Lug und Betrug, um das Kaufen (und Verkaufen) von Gefühlen und Körpern. Das würde sicher auch René Pollesch so sehen, von dem der Regisseur des Abends, Pedro Martins Beja, einiges abgeguckt hat.

Das Rotlicht hat allerdings auch eine Kehrseite: Hier sammelt sich das reale soziale Elend, und wer durch das Frankfurter Bahnhofsviertel läuft, der stolpert über die Fixer und Drogenabhängigen, die auf der Straße meist mehr liegen als sitzen und mit den Nadeln in ihren Venen stochern.

Der Anblick ist kaum auszuhalten, aber das Frankfurter Schauspiel will den Zuschauern ein paar Orte zumuten, an die man sich sonst selten verirrt. Und es will die Wahrnehmung dann wieder artifiziell brechen. Im Kassenfoyer bekommen wir einen Kopfhörer aufgesetzt, aus dem uns eine Wegbeschreibung entgegenschallt - und die Mitteilung, dass wir uns im Jahr 2042 und in einer künstlichen Welt befinden. Eine Computerfirma habe das Frankfurter Bahnhofsviertel detailgenau nachgebaut; die darin befindlichen Nutten und Junkies sind angeblich Androide, menschenähnliche Roboter.

Wir werden also in die Gosse gestoßen - und gleichzeitig wird die Realität weit weggerückt, sagt Regisseur Pedro Martins Beja:

"Normalerweise, wenn man so rumhängt wie wir, wir haben ja viel Zeit im Bahnhofsviertel verbracht, entsteht ja auch so ein Gewöhnungseffekt, man guckt sich das wie so eine Bildfläche an. Wie so'n Film, der an einem vorbeiläuft. Und wir versuchen durch ein künstliches Setting, die Sachen realer zu machen und die Menschen und die Orte und alles, was hier passiert, aus der Leinwand wieder rauszureißen."

Unser Rundgang beginnt am Willy-Brandt-Platz, wo Aktivisten der Occupy-Bewegung in der Kälte vor den grauen Hochhaustürmen der Großbanken campieren. Und dieser Gegensatz zwischen extremer Armut und extremem Reichtum ist mindestens so obszön wie das Rotlicht-Milieu. Die Occupy-Leute sind, so sagt es uns die Stimme aus dem Kopfhörer, "Digitalverweigerer", die zurück zum Analogen wollen, zum Menschlichen, zu den wahren Gefühlen.

Unser Ausflug, vorbei an Bordellen, Sexshops, Peepshows und Fixerstuben, endet im Nachtklub "Pique Dame". Dort wird dann tatsächlich Theater gespielt, von Schauspielern, Statisten und Persönlichkeiten aus dem Milieu.

Der Besitzer des Nachtklubs - Sébastien Jacobi gibt ihn als smarten Conférencier - ist eine Gestalt, die sämtliche Wünsche künstlich erfüllt wissen will: kein ekelhafter Austausch realer Körpersäfte mehr, sondern Befriedigung an digitalen Frauen-Maschinen, bitte. Im Keller wohnt sein Widerpart, ein Digitalverweigerer (gespielt von Benedikt Greiner), der das analoge, das biologische Glück sucht und wirkliche Berührung will. Die Computerwelt, die Ökonomie, das Geld, das sogenannte "Liquidsystem" sind für ihn nur Kontrolle und Bedrohung.

Benedikt Greiner: "Das Problem am Liquidsystem ist, dass deine Bedürfnisse, deine Sehnsüchte ... dass alles öffentlich wird, alles wird liquid, was du in das System einspeist. Und sie benutzen das."

Dann bietet man noch eine Reihe von Damen auf, die an der Stange erotische Gymnastik treiben (wir sagen nur: Lorena ... .) oder barbusig ins Séparée bitten (das macht eine gewisse Bambi Lovedoll). Es gibt auch einen weiblichen Cyborg, also einen kybernetisch veränderten Organismus, der hin- und hergerissen ist zwischen den Vorzügen fleischlicher Genüsse und sauberer Digitalität.

Das Publikum ist aufgefordert, teilzunehmen an der Suche nach Emotion, nach dem "wahren Moment", den man sich mit Geld kaufen kann. Zum Beispiel bei einem farbigen Voodoo-Tänzer im Keller, der sich in Extase strampelt.

Die Auseinandersetzung zwischen dem Digital-Showmaster Sébastien und dem Bio-orientierten Occupy-Aktivisten Benne ist auf Dauer allerdings ein wenig redundant, da helfen alle erotischen Angebote für das Publikum nix. Am unterhaltsamsten ist es noch, wenn man ironische Songs über das vollökonomisierte Deutschland singt. Da kommen diese liebenswerten Schauspiel-Jugendlichen, die sich ins Milieu verirrt haben, wieder zu sich selbst.

" "Und dann fällt dir wieder ein, wie das war/ als du immer nur gedacht hast, wie schön das Leben doch und Desirée ist ... / wie schön das Leben von Lorena ist, und wie schön das Leben mit Bambi ist, und wie schön das Leben doch in Deutschland ist, in der Bundesrepublik (Kirchenorgel) "


Schauspiel Frankfurt: Red Light, Red Heat