Mittelalterliche Sagen aus dem hohen Norden

Trotz Kinozeitalter, Fernsehen und Internet werden in Island mittelalterliche Sagen immer noch erzählt. Die Hörbuch-Edition "Die Saga-Aufnahmen" aus dem Berliner Supposé-Verlag stellt jene Geschichten auch erzählend vor.
Und da wäre die Geschichte von Thórdur Kakali aus dem 13. Jahrhundert. Zu Zeiten eines Bürgerkriegs auf Island. Flashback in die Vergangenheit.

Kristof Magnusson übersetzt Einar Kárason: "Und dieser Thórdur hatte einen Bruder, und man nahm an, dass dieser Bruder aus diesem Bruder hervorgehen könnte als der Haupt-Häuptling, und da Thórdur eben nicht im Schatten dieses Bruder sein wollte, hat er eben beschlossen, er geht nach Norwegen und heuert bei so einer Art Eliteeinheit. Ja, wahrscheinlich bei so einer Art mittelalterlicher GSG-9 oder so."

Man braucht gegenüber einem Isländer eine Saga nur zu erwähnen, bemerken Thomas Böhm und Klaus Sander im Booklet der Edition, und schon löst man ... Erzählen aus. Denn die Saga-Figuren wie Thórdur Kakali sind in Island quasi gute Bekannte; ihre Geschichten, die zu Beginn der isländischen Gesellschaft zwischen 930 und 1030 spielen, werden seit jeher mündlich tradiert. Auf den vier CDs der Edition "Die Saga-Aufnahmen" vollziehen Thomas Böhm und Klaus Sander davor eine tiefe Verbeugung, zusammen mit den deutsch sprechenden Isländern, die Sagas vortragen, und einigen Wissenschaftlern, die Hintergründe der Saga-Zeit erläutern. Julia Zernack, die Frankfurter Skandinavistik-Professorin:

"Saga kommt von ´Seija´. Saga bedeutet das Erzählte, das Gesagte, aber auch ´Geschichte´. Es ist genau so doppeldeutig, wie das deutsche Wort ´Geschichte´ doppeldeutig ist. Was ja heißt, das, was historisch sich ereignet hat, und die Geschichte die erzählt wir. Genauso doppeldeutig ist ´Saga´ auch."

Kristof Magnusson: "Also, was ich so unglaublich finde an den Sagas, ist diese Mischung aus etwas, was komplex rätselhaft ist und mir total aus einer ganz anderen Zeit zu kommen scheint. Und auf der anderen Seite aber auch etwas ganz Modernes daran."

Der in Berlin lebende deutsch-isländische Schriftsteller Kristof Magnusson.

Kristof Magnusson: "Also, es gibt Stellen, die haben eine Form von zynischem Humor. Es gibt in der ´Schwurbrüder-Saga´ so eine Episode, wo die so durch die Gegend ziehen, und auf einmal nimmt einer von denen sein Schwert und haut jemanden um, der am Wegesrand steht. Ja, dann fragen die anderen, warum hast du das gemacht. Und dann sagt er, der stand da gerade so gut."

Wenn man sich auf den Erzählfluss der CD-Edition einzulassen beginnt, auf diese Geschichten voller Liebe und Hass, Mythen und übernatürlicher Dinge, Geister und Dämonen, dann entsteht langsam der Eindruck, als ob ein Vorhang weggezogen wird. Es ist wie ein Eintauchen in ewig Vergangenes, aber in Island noch sehr Lebendiges - wie die Schriftstellerin Kristín Steinsdóttir erzählt, Mitte der 1940er-Jahre aufgewachsen an einem einsamen Fjord im Osten Islands. Im Winter kam man nie über die Berge, so hatte man viel Zeit, Bücher zu lesen oder zu erzählen - Sagas zu erzählen, erinnert sich Kristín Steinsdóttir:

"Meine Mutter war eine sagenhafte Erzählerin. Sie hat niemals ein Buch für uns gelesen, sie hat immer nur erzählt. Und das hat sie immer gemacht, während sie was anderes machte. Den Abwasch, in der Küche. Dann hockten wir da so rum. Die Küche bei meiner Mutter war sozusagen Kindergarten. Da waren meine Freunde und die Freunde meines Bruders und die Nachbarkinder. Und da wurde erzählt in einer Tour."

Dass solche oral tradierte Geschichte in Europa immer noch vorhanden ist, kann man sich im Zeitalter der audiovisuellen Überwältigung aus zentraleuropäischer Perspektive kaum verstellen. Und doch vermittelt sich die Lebendigkeit mündlicher Erzählkunst eindrucksvoll, wenn Thomas Böhm und Klaus Sander ihre deutsch sprechenden isländischen Protagonisten an den Originalschauplätzen der Sagas frei erzählen lassen. Arthúr Björgvin Bollason positioniert sich für die Saga von Njáll:

"Hier oberhalb der Südküste Islands, etwa 20 Kilometer vom Meer entfernt, am Fluss Rangá, steht ein Hof mit dem Namen Völlur."

Sigrún Valbergsdóttir: "Wir stehen hier vor einem Hof auf der westlichen Seite von Island."

Sigrún Valbergsdóttir beginnt mit der Erzählung der Saga von den Leuten aus dem Lachsflusstal.

Sigrún Valbergsdóttir: "Dieser Hof heisst Quandír. Hier ist ein sehr bedeutender Mann geboren worden im Jahre 1179. Aber von ihm will ich nicht berichten, sondern ich will weiter zurückgehen. Ich will noch bis zum Jahr etwa 890 zurückgehen."

Sigrún Valbergsdóttir erzählt weiter und Arthúr Björgvin Bollason ebenso, und die Geschichten über die Lachsflusstal-Leute oder die am Fluss Rangá mäandern durch die Zeiten und durch Täler und über die Hügel. Mit dem SAGA-Projekt hat Klaus Sander das Konzept seines supposé-Audio-Verlags konsequent fortgeführt.

Supposé hat bisher Hörbücher vorgelegt, in denen Wissenschaftler oder Schriftsteller von Einstein über Heisenberg bis Dieter Wellershoff von ihrem Metier erzählen, frei erzählen, fabulieren, schnacken, anschaulich reden. "Wissenschaftsgeschichte im Originalton" heisst beispielsweise eine Rubrik im Programm dieses Ein-Mann-Verlages. Die wunderbar deutsch erzählenden Isländer, an den alten Orten, in den alten Landschaften, sie holen in den "Saga-Aufnahmen" etwas hervor aus den virtuellen Archiven der mündlich übertragenen Kulturgeschichte Europas. Ja, ´wunderbar´, dieses Erzählen.

Besprochen von Hartwig Tegeler

Die Saga-Aufnahmen
4 CDs mit Booklet
Konzeption, Dramaturgie, Regie: Thomas Böhm & Klaus Sander - Produktion: supposé 2011


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