"Je größer der Wohlstand in einer Gesellschaft, desto wichtiger werden auch andere Faktoren."
Bertelsmann-OECD-Studie
Die Mittelschicht wird kleiner - das hat Folgen für die Gesellschaft. © imago images/Ikon Images
Die Mittelschicht schrumpft - was tun?
07:33 Minuten
Um sechs Prozent soll die Mittelschicht in über 20 Jahren geschrumpft sein, so eine Studie. Wer dazugehört, entscheidet nicht allein das Einkommen, sagt der Soziologe Holger Lengfeld. Allerdings: Auch die Abstiegsangst hat sich verringert.
Die deutsche Mittelschicht wird kleiner. Im Jahr 1995 machte sie noch 70 Prozent der Bevölkerung aus, im Jahr 2018 waren es sechs Prozent weniger. Das geht aus einer Studie der Bertelsmann Stiftung und der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) hervor. Allein von 2014 bis 2017 sind rund 22 Prozent der Personen im Alter von 18 bis 64 Jahren in die untere Einkommensschicht gerutscht und waren damit arm oder von Armut bedroht. Durch die Pandemie könnte sich diese Entwicklung weiter fortgesetzt haben, so die Autoren der Studie.
Als Mittelschicht gilt, wer zwischen 75 und 100 Prozent des mittleren Einkommens zur Verfügung hat. Das waren 2018 bei einem Single rund 1.500 bis 2.000 Euro verfügbares Nettoeinkommen, bei Familien mit zwei Erwachsenen und zwei Kindern 3.000 bis 4.000 Euro.
Allein das verfügbare Einkommen als Maßstab zu nehmen, hält der Soziologe Holger Lengfeld von der Universität Leipzig für verkürzt. Die Mittelschicht definiere sich auch über berufliche Qualifikationen. Das Schrumpfen der Mittelschicht ist ihm zufolge seit 2010 im Wesentlichen beendet. Das läge vor allem an der positiven Konjunktur. Es gebe aber auch keine Aufstiege mehr zur Mitte hin, was globalökonomische Ursachen habe.
Viele wollen in die Mitte
Mit der wahrgenommenen Mittelschicht verhält es sich anders. "Die gefühlte Mitte ist größer als die real gemessene", sagt Lengfeld. "Der Großteil der Menschen in Deutschland möchte der Mitte angehören – auch ein Teil aus der oberen Schicht. Mitte klingt nach Stabilität und nach Unauffälligkeit, nicht nach Snobismus."
Die Sorge vor dem sozialem Abstieg stieg bis 2006 und ist seitdem kontinuierlich rückläufig, so Lengfeld. "In den letzten Jahren vor Corona war die Abstiegsangst in Deutschland so niedrig wie noch nie seit der Messung. Die Menschen haben sich mit ökonomischen Risiken – zum Beispiel befristeten Verträgen und neuen Selbständigkeiten – ein Stück weit arrangiert. Man hat eine neue Normalität gefunden und das verängstigt dann nicht mehr so."
Frauen in den Arbeitsmarkt einbeziehen
Viele wollten nicht mehr Vollzeit arbeiten. Diesen Wohlstand habe sich die Gesellschaft erarbeitet. Die größere Problemzone seien allerdings die Menschen, die weniger haben als die Mittelschicht.
Wer einmal aus der Mittelschicht falle, der steige nur schwer wieder auf, so die Studie. Um die Mittelschicht wieder zu stärken, brauche es eine gute Ausbildung und Studium. Es müssten Barrieren auf dem Arbeitsmarkt abgebaut und Frauen stärker einbezogen werden. Sie arbeiteten zwar häufiger als früher, aber oft mit geringer Stundenzahl und in Tätigkeiten, für die sie überqualifiziert seien. Um zur Mittelschicht zu gehören, brauche es zunehmend ein zweites gutes Arbeitseinkommen, so die Analyse der Studie.
(mit dpa)