Das Abstiegsgespenst
Aufstieg durch Leistung – möglich für alle! Das war das Versprechen der sozialen Marktwirtschaft der alten BRD. Doch es gilt längt nicht mehr. Die Mittelschicht wird immer dünner.
Ein wohlsortiertes Haus: Im Vorderhaus Paare mit Kindern. Im Seitenflügel die ungebundenen. Alle, die mir aufgemacht haben, sind zwischen Anfang 30 und Ende 40 - ausgenommen der arbeitslose Architekt aus London.
Alle, die mir öffneten, sind Akademiker oder Künstler. Keine Geschichte hast du ausgelassen - keine hinzu erfunden. Niemand hat dich hinaus geworfen. Erstaunlich, denn du bist wirklich fremd. Naja, so fremd nun auch wieder nicht.
"So, Feierabend! Ach. Gute Nacht, ihr Neolithen!"
Ein Theaterabend in Berlin - Mitte. Hier im Deutschen Theater geht gerade die Inszenierung "Wodka-Käfer" zu Ende. Die Zuschauer, viele davon jung, urban und gut gekleidet, strömen aus dem Saal ins Foyer und in die Kantine, um noch etwas zu essen oder zu trinken. Im Stück geht es um die Bewohner eines sanierten Hauses im Prenzlauer Berg. Die Autorin Anne Jelena Schulte wollte für "Wodka-Käfer" hinter die schönen Altbau-Fassaden des gentrifizierten Bezirks schauen. Und war überrascht, was sie dort vorfand:
"Also, ich war davon ausgegangen, dass es noch viel gesettletere Leben sein würden, als die, die ich dort letzten Endes angetroffen habe. Ich war ja sowohl im Seitenflügel als auch im Vorderhaus unterwegs. Und im Seitenflügel waren teilweise sogar recht prekäre Existenzen, Und es war eigentlich nur in einer oder vielleicht zwei Wohnungen, wo wirklich so ein komplett abgesichertes Leben geführt wurde, von dem ich eigentlich so ausgegangen war, dass es jetzt Standard wäre. Viele Menschen haben von ihren Ängsten erzählt, dass sie nicht wissen, wie es weitergehen wird. Finanziell, beruflich. Wie lange sie dort noch wohnen bleiben können in diesem Haus, wo es dann hingehen würde… Und dass das so drängend sein würde, also diese Fragen - davon bin ich eigentlich nicht ausgegangen vorher."
"Eine total ausgesiebte Gesellschaft"
Anne Jelena Schulte, Mitte 30, lange dunkle Haare, schmales Gesicht, sitzt in der Kantine, nippt nachdenklich an ihrem Mineralwasser, erzählt, wie sie auf die Idee zu dem Stück kam: Die Journalistin Irina Liebmann hatte Anfang der achtziger Jahre ein Ostberliner Mietshaus besucht und deren damalige Bewohner porträtiert. Heraus kam das Buch "Berliner Mietshaus", eine Art kleiner Mikrokosmos der DDR. In den Gesprächsprotokollen schimmern, wie in einem Bernstein eingeschlossen, die damaligen Sehnsüchte nach Freiheit und Veränderung durch. Anne Jelena Schulte beschloss, dasselbe Haus noch einmal zu besuchen - gut 35 Jahre später. Sie wollte herausfinden, was die Leben der jetzigen Bewohner über die Gegenwart erzählen.
"Also ich finde, wenn man das 'Berliner Mietshaus' von 1980 nimmt und die Gespräche der Gegenwart, dann kann man eigentlich die ganze Entwicklung seit der Wende verfolgen und nachvollziehen. Und es geht eben um eine Trennung der Gesellschaft. Ich finde, in dem Buch von Irina, dass da eben eine ganz andere Bandbreite an Persönlichkeiten da war, dass dort alte Menschen gelebt haben, dass Akademiker in dem Haus gelebt haben, genau wie Arbeiter - das ist komplett anders geworden, das ist eine total ausgesiebte Gesellschaft."
Damit gerechnet, dass sich in den renovierten, oftmals perfekt eingerichteten Wohnungen so viel Unsicherheit und Abstiegsängste verbergen würde, hatte sie nicht. Aber sind die im Künstler- und Akademiker-Biotop Prenzlauer Berg nicht auch ein Stück weit normal? Gehören sie nicht auch zum Leben des kreativen Freiberuflers, der, wenn man das Klischee bemühen will, den ganzen Tag im Café sitzt und am Laptop an spannenden aber schlecht bezahlten Projekten arbeitet?
"Ich glaube, dass das ein Beispiel dafür ist, wie sich die Gesellschaft verändert hat. Tatsächlich, eben dadurch, dass da einfach so ein paar Prozesse, die aber eigentlich gesamtgesellschaftliche Prozesse sind, aber dort irgendwie in einer anderen Radikalität durchgeführt wurden - durch dieses Entmieten, Sanieren, dann wieder neu Menschen hereinsetzen - dass sich da Phänomene ganz besonders scharf betrachten lassen. Die aber für viel, viel mehr stehen als nur für den Prenzlauer Berg."
Das Rückgrat der Gesellschaft
Was für Phänomene sind das genau? Haben heute wirklich so viele gut ausgebildete Menschen aus der Mittelschicht Abstiegsängste, arbeiten so viele von ihnen als prekäre Freiberufler? Einer, der es wissen muss, ist der Ökonom Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung:
"Die deutsche Mittelschicht ist sicherlich durch die steigende Ungleichheit in Deutschland betroffen. Natürlich ist es schwierig erst einmal zu definieren, was ist denn die Mittelschicht, wer gehört dazu? Aber als Fakten gilt festzuhalten: Zum einen steigt die Ungleichheit bei Einkommen, bei Vermögen und vor allem bei Chancen in Deutschland signifikant in den vergangenen Jahrzehnten. Deutschland gehört zu einem der ungleichsten Länder, was Einkommen, Vermögen und Chancen betrifft - in ganz Europa und unter den Industrieländern. Und es betrifft nicht nur die Menschen unten an der Verteilung, also die Menschen mit geringen Einkommen, geringen Vermögen, sondern auch immer mehr die Menschen, die eigentlich immer so als Rückgrat der deutschen Gesellschaft galten."
Zwischen dem noblem Gendarmenmarkt und der Friedrichstraße, nur zwei Kilometer Luftlinie vom Deutschen Theater entfernt, sitzt Marcel Fratzscher hinter seinem Schreibtisch. Draußen vor dem Fenster fahren große, meist schwarz glänzende SUVs an den Filialen von Prada, Escada und Hugo Boss vorbei, Touristen strömen ins Lafayette, bewundern den Hummer, die Austern und genehmigen sich eventuell sogar ein Glas Champagner im Untergeschoss. Deutschland scheint es gut zu gehen im Sommer 2016, die Wirtschaft boomt und noch waren so viele Menschen beschäftigt. Doch die neuesten Daten, die das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung im Frühjahr veröffentlichte, zeigen, dass die deutsche Mittelschicht trotzdem schrumpft.
Fratzscher: "Die Frage, schrumpft die Mittelschicht, wächst sie, wie verändert sich die Ungleichheit, hängt natürlich immer von der Datenlage ab und das ist schwierig in vielen Bereichen. Es ist natürlich nicht alles schlecht, was in Deutschland in den letzten 20 Jahren passiert ist. Wir haben in den letzten zehn Jahren viele Menschen in Arbeit gebracht, die Arbeitslosenquote ist gesunken, das ist ein sehr positiver Aspekt. Trotzdem, ein weiterer wichtiger Grund für die höhere Ungleichheit liegt vor allem bei den Beschäftigungsformen. Heute arbeiten sehr viel mehr Menschen in prekärer Beschäftigung, arbeiten Teilzeit, sind solo-selbständig, haben unterbrochene Erwerbsbiographien, sind also häufiger mal arbeitslos. Auch deshalb sehen wir diese abnehmende Größe der Mittelschicht durch diese Beschäftigungsformen. Und das wird sich in den kommenden Jahren, Jahrzehnten nochmal deutlich verschärfen."
Mittelschicht: 1540 Euro brutto für den Single
In der Studie des DIW heißt es, dass 2014 zur Mittelschicht gehörte, wer in einem Einpersonenhaushalt mindestens 1540 Euro, als vierköpfige Familie 3080 Euro oder als Alleinerziehender 2180 Euro als Bruttohaushaltseinkommen vor Steuern und Abgaben zur Verfügung hatte.*
In den sechziger Jahren gehörten 69 Prozent zur Mittelschicht, inzwischen sind es nur noch 61 Prozent. Dabei gehört die Chance zum sozialen Aufstieg zum Gründungsmythos der sozial befriedeten Bundesrepublik: Wenn sich einer richtig anstrengte, konnte er sich ein Leben mit Haus, Auto und jährlichem Urlaub leisten. Egal, ob es einer nur bis zum Karstadt-Angestellten mit Reihenhaus oder bis zum Chefarzt mit Villa schaffte. Bis weit in die siebziger, achtziger Jahre wurde dieses Versprechen eingelöst. Damals gelang sehr vielen Menschen der Aufstieg, es entstand eine breitere Mittelschicht als in anderen westlichen Staaten. Und wer es nicht schaffte wurde aufgefangen vom Sicherheits-Netz der sozialen Marktwirtschaft.
Fratzscher: "Ja, wir Deutschen sind ja eigentlich schon sehr stolz auf unsere soziale Marktwirtschaft, das war ja immer das Credo. Das hat ja gerade auf die Mittelschicht abgezielt. Zu sagen, die Idee der sozialen Marktwirtschaft war, dass alle am Wohlstand teilhaben können, gerade auch die Mittelschicht, das Rückgrat der Gesellschaft. Diese soziale Marktwirtschaft, wie sie am Anfang das Ideal war und wie es sie ja auch viele Jahrzehnte in Deutschland bis in die achtziger Jahre hinein gab, die existiert heute so nicht mehr. Denn immer weniger Menschen gerade in der Mittelschicht, können profitieren, können teilhaben am Wachstum, am Wohlstand in Deutschland. Und das hat sich über die Jahrzehnte verschlechtert."
Die Zahlen des DIW machen die wachsende gesellschaftliche Ungleichheit in Deutschland sichtbar. Die Mittelschicht schmilzt, Arme bleiben arm und die Reichen werden noch reicher. Der Soziologie-Professor Oliver Nachtwey, der derzeit an der Frankfurter Goethe-Universität lehrt, hat darüber aktuell ein Buch geschrieben: "Die Abstiegsgesellschaft" hat er es genannt.
Nachtwey: "In den fünfziger und sechziger Jahren, teilweise noch bis in die siebziger Jahren hinein, da konnte man über Bildung, Qualifikation und Arbeit tatsächlich einen sozialen Aufstieg erlangen. Man konnte sich ein besseres Auto leisten, man konnte in die Ferien fahren, sich bessere und größere Wohnungen leisten, wo jeder ein Zimmer hatte. Das war alles ein neuartiges Phänomen für die Menschen und hat ihnen so etwas wie Sicherheit und Integration gebracht. Und jetzt hat man das Gefühl, die Gesellschaft wird immer reicher, aber es profitieren nur noch die Reichen davon. Man selbst bekommt nichts mehr ab vom Kuchen."
1960er-Jahre in der BRD: 90 Prozent Angestelltenverhältnisse
In den sechziger Jahren arbeiteten neunzig Prozent aller Arbeitnehmer in einem sogenannten Normal-Arbeitsverhältnis, also eine unbefristete Anstellung mit Kündigungsschutz und mit Kranken-, Renten-, und Arbeitslosenversicherung. In den neunziger und vor allem in den Nuller Jahren änderte sich dies unter dem Druck der Globalisierung. Und das nicht nur im stark angewachsenden Niedriglohn-Sektor, sondern auch in den Berufen, die man früher in der Mitte der Gesellschaft verortet hat: Facharbeiter, Selbständige, Wissenschaftler, Journalisten, ja sogar Lehrer. Ende 2011 waren fast ein Drittel aller Beschäftigungsverhältnisse das, was Soziologen prekär nennen: Arbeiten auf Abruf, befristete und schlecht bezahlte Verträge und Honorare.
Ein Seminar an der Humboldt-Universität in Berlin: Etwa 20 Studenten sitzen in einem hellen Raum im Erdgeschoss des alten Gebäudes an der Universitätsstraße. Ein Beamer wirft ein Bild mit grafischen Modellen an die weiße Wand. Eine Studentin hält ein Referat über Innovationsmodelle. Auch die Dozentin Dr. Anne Krüger, die dieses Seminar gibt, sitzt zwischen den Studenten und lauscht aufmerksam dem Referat. Nicht nur optisch unterscheidet sie sich wenig von den Studenten, die sie unterrichtet. Die Mittdreißigerin in Skinny-Jeans, lässigem blauen Pullover und mit kurzem, dunklem Bob-Haarschnitt, weiß genauso wenig wie ihre Studenten, was die nahe Zukunft bringt. Findet sie irgendwann eine unbefristete Anstellung? Kann sie in Berlin bleiben? Muss sie umziehen? Oder muss sie sich nach Ablauf ihres befristeten Vertrags mal wieder in die Schlange des Jobcenters einreihen?
Anne Krüger: "Also, ich glaub' tatsächlich, dass Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen ganz gut reinpassen in die Frage nach der schrumpfenden Mittelschicht, weil sich doch die Arbeitsbedingungen und auch die Finanzierungsbedingungen ziemlich verändert haben. Ein Punkt sind halt Stipendien, die massiv ausgebaut wurden und ja, wenn das Stipendium aufhört, ist man sofort auf Hartz IV. Von daher ist das schon so ein Punkt, dass man von außen immer so betrachtet wird: Oh, du bist in der Wissenschaft tätig! Und dann aber tatsächlich, wenn man sich die Finanzierungsbedingungen anguckt, doch so das Statusgefühl, also dass man irgendwo ganz oben in der Gesellschaft angesiedelt ist, doch auch ganz schnell runtergebrochen ist auf: Nee, tatsächlich schreib' ich meine Diss gerade auf Hartz IV zu Ende."
Anne Krüger hat eigentlich alles richtig gemacht. Sie hat schnell studiert, Stipendien bekommen, Auslandserfahrung gesammelt, nach dem Magister promoviert, sie hält erfolgreich Vorträge, publiziert, unterrichtet und arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Fachbereich Soziologie.
Befristete Verträge in der Wissenschaft
Sie ist also so etwas wie ein High Potential. Und trotzdem machen sich ihre Eltern Sorgen um sie, verstehen nicht, warum ihre berufliche Zukunft noch immer so unsicher ist. Denn es ist nicht nur die Zeit der Promotion, die schwierig ist. Und es ist auch nicht auf Fachbereiche wie die Geisteswissenschaften beschränkt. Wer heute in der Wissenschaft beziehungsweise an der Universität bleiben möchte, muss sich wegen dem erst kürzlich novellierten Wissenschaftszeitvertragsgesetz jahrelang mit knapp befristeten Verträgen zufrieden geben. Die machen eine langfristige Zukunfts- und Familienplanung schwer - in einem Alter, in dem andere Akademiker Kinder bekommen, Häuser bauen, für ihre Rente vorsorgen. Wer dann tatsächlich eine der knapp bemessenen Professur-Stellen ergattert, ist im Durchschnitt 42 Jahre alt. Alle anderen waren raus.
Nachtwey: "Gerade in den letzten zwanzig Jahren hat sich der innere Mechanismus der Wissenschaftsorganisation dramatisch verschlechtert. Man kann natürlich sagen, na gut, es musste ja nicht jeder Professor werden. Aber über das Wissenschaftszeitvertragsgesetz und den Abbau unbefristeter Stellen ist ein nicht unerheblicher Anteil der Wissenschaftler ein Arbeitsloser auf Abruf. Wenn man nämlich nicht in zwölf Jahren es geschafft hat auf eine Professur zu kommen, darf man nicht mehr an der Universität arbeiten.
"Und davor in diesen zwölf Jahren erlebt man etwas ganz Dramatisches: Nämlich nicht: man hat drei, vier Dreijahres-Verträge, sondern häufig Monatsverträge, Halbjahresverträge, man weiß nicht, in welcher Stadt man arbeiten muss. Viele Wissenschaftler haben in vier, fünf, sechs Städten Lehraufträge annehmen müssen. Gerade weil sie so mobil sein müssen, sich ständig kümmern mussten, darum um den nächsten Job zu ergattern, den nächsten Antrag zu schreiben, sich gar nicht mehr um ihr eigentliches Metier kümmern, die Wissenschaft."
Auch Anne Krüger hat all das erlebt, hat den immensen Druck gespürt, viele schlaflose Nächte gehabt und gesehen, wie andere junge Wissenschaftler manchmal dem Druck nicht standhielten, mit einem Burn-Out krank wurden oder einfach aufgaben, der Wissenschaft den Rücken kehrten. Und seit der Geburt ihres Sohnes vor anderthalb Jahren ist ihre Situation nicht einfacher geworden, die Vereinbarkeit zwischen Job und Kind stellt sie vor noch größere Herausforderungen. Aber auch andere akademische Berufsgruppen spüren die prekären Bedingungen. Im Journalismus ist der fest angestellte Redakteur mit unbefristetem Vertrag eher die Ausnahme, der prekär arbeitende Freelancer die Regel. Und mittlerweile gibt es auch viele Lehrer, die nicht mehr Beamte sind. Oft nur angestellt für ein Halbjahr, müssen sie sich in den Schulferien arbeitslos melden.
Anne Krüger: "Und was ich in dieser Hinsicht auch sehen kann, dass auch an Universitäten die Lehre keine so große Rolle mehr spielt. Sondern dass die Forschung so extrem wichtig geworden ist. Und ich finde, auch daran erkennt man, dass wir hier so eine Art Sinneswandel erleben. Also wenn man denkt: Lehre ist wichtig, dann geht damit ja vielleicht auch der Gedanke einher: Bildung für alle, was vielleicht auch Wohlstand für alle impliziert. Und wenn wir dann sehen, dass der Fokus sich auf Forschung verschiebt, dann kommen wir schnell in solche Diskussionen um internationale Wettbewerbsfähigkeit rein und da ist dann tatsächlich die Frage: Wer hat jetzt was davon? Und das finde ich, ist so eine interessante Verschiebung einerseits im großen Diskurs, also gesamtgesellschaftlich, der sich dann aber hier an den Universitäten auch so widerspiegelt."
Einer der Gründe, warum die deutsche Mittelschicht schrumpft und Deutschland heute zu einem der ungleichsten Länder in Europa zählt, liegt für den Ökonomen Marcel Fratzscher gerade an den Defiziten im Bildungssystem und nicht nur an Deutschlands Antwort auf die globalisierte Wirtschaft. Es fehlt in Deutschland an Ganztagsschulen und an guter frühkindlicher Förderung, die die Durchlässigkeit zwischen Unter- und Mittelschicht und damit den Aufstieg überhaupt erst möglich macht. Die soziale Mobilität in Deutschland ist dadurch heute so gering wie in den USA.
Fratzscher: "Der Hauptgrund in Deutschland ist zum einen das Bildungssystem, dass so gestaltet ist, dass es gerade Kindern aus bildungsfernen und sozial schwachen Schichten riesige Hürden in den Weg legt. Das fängt an mit der frühkindlichen Bildung. Wir wissen aus vielen wissenschaftlichen Studien, dass der größte Nutzen eines Euro, der für Bildung ausgegeben wird, in den ersten sechs Jahren eines Kindes liegt. Nicht in der Universität oder in der Sekundarstufe, sondern in den ersten sechs Jahren. Und hier gibt Deutschland deutlich zu wenig aus, gibt die Hälfte pro Kind aus, was zum Beispiel skandinavische Länder beispielsweise ausgeben. Dann zum Schulsystem: es fehlen Ganztagsschulen, es fehlt Betreuung, gerade für die Kinder, die die Hilfe brauchen. Es ist ein Schulsystem das nach wie vor zu wenig durchlässig ist. Es ist unglaublich schwierig hier den Aufstieg zu schaffen."
Der Lebensstandard untescheidet sich deutlich von dem der Eltern
Mittlerweile sind es aber nicht nur die Kinder aus der Unterschicht, sondern auch die Kinder aus der Mittelschicht, für die ein Aufstieg sehr schwierig geworden ist, die statt dessen Angst vor dem Abstieg haben, Angst, aus der Mittelschicht herauszufallen.
Anne Krüger: "Ich hab' nur eher das Gefühl, dass es noch nicht einmal darum geht: Eer kommt nach oben hoch, sondern eher, wer oben ist, also so mittelschichtsmäßig, wer kann da auch überhaupt bleiben? Und das finde ich interessant, wenn ich also umschaue und Freunde sehen, die in der Wissenschaft arbeiten oder auch im Journalismus oder ähnlichen Bereichen, dass ich einfach sehe, dass die nicht den gleichen Lebensstandard haben, wie ihre Eltern. Und das ist schon interessant zu sehen, also dass sie das mit diesen Jobs einfach nicht halten können. Und in der Wissenschaft ist es halt auch so, also wenn man ein Job hat - super. Aber es ist halt keine Sicherheit da und durch die Lücken, die man immer wieder haben kann, kann man halt nicht - ja den langfristigen Kredit fürs Eigenheim bezahlen oder auch überhaupt nur anfangen damit."
Gerade Kinder aus der oberen Mittelschicht erreichen heute oft nicht mehr den gleichen sozialen Status wie ihre Eltern, obwohl viele von ihnen einen Universitätsabschluss haben.
Sie verdienen nicht mehr so viel wie ihre Eltern, arbeiten häufiger als Freiberufler und sind dadurch weniger abgesichert. Für viele bedeutet dann das Erbe der gutsituierten Elterngeneration so etwas wie eine soziale Absicherung. Doch, dass sich viele Mittelschichtskinder, die in der Wissenschaft, in den Medien oder als Freiberufler arbeiten, die Eigentumswohnung nicht mehr selber leisten können, ist nicht das eigentliche Problem, ist nur eines der Symptome für das Schrumpfen der Mittelschicht.
Fratzscher: "Was mich als Wirtschaftswissenschaftler interessiert, ist die Frage, wie wirkt sich das auf die Wirtschaft aus, auf den Wohlstand. Und hier sehen wir durch viele, viele Studien in den vergangenen Jahren, dass die Ungleichheit wirtschaftlichen Schaden anrichtet. Also wenn man Menschen die Chance nimmt, ihre Fähigkeiten, ihre Talente zu entwickeln, dann fehlt das nachher am Arbeitsmarkt. Und dadurch entsteht der Schaden. Nicht nur für die Menschen die betroffen sind, es geht hier nicht nur darum zu sagen, ja da haben ein paar Menschen das Pech, das sie halt abrutschen und weniger Einkommen, weniger Vermögen und weniger Gesundheit haben. Sondern der gesamten Gesellschaft, der gesamten Wirtschaft entgeht ein Potenzial. Und alle zahlen letztendlich den Preis für diese hohe Ungleichheit und im Umkehrschluss heißt das, es ist auch im wirtschaftlichen Interesse aller, auch der Vermögenden, auch der mit hohen Einkommen, dass wir mehr Chancengleichheit und damit weniger Ungleichheit in Deutschland haben."
Genau wie viele Kinder aus der Unterschicht, die den Aufstieg wegen des schlechten und undurchlässigen Bildungssystem nie schaffen werden, deren Talente und Fähigkeiten nie abgerufen werden, ist es heute auch bei vielen erwachsenen Mittelschichtskindern: Viele können ihre Potentiale nicht richtig in den Arbeitsmarkt einbringen, weil sie unterhalb der eigenen Qualifikation arbeiten müssen.
Anne Krüger: "Also die Qualifizierung die viele Leute heute haben, das ist der Wahnsinn. Also diese Mehrsprachigkeit, Auslandserfahrung und - keine Ahnung - zig Praktika, und so weiter und so fort. Das sind wirklich so viele hochqualifizierte Leute. Und ich denk immer, ja man hat ja auch investiert in die Leute! Warum macht man nix mit denen? Das ist mir, also gerade auch im Bereich Wissenschaft, komplett unverständlich. Tja: Es zahlt sich nicht unbedingt aus. Es ist halt - Glücksspiel."
Mittelständler fallen aus der Krankenversicherung
Telefonat Uwe Denker: "Moin, hier ist Dr. Denker von der Praxis ohne Grenzen aus Bad Segeberg… Ja ich bin gerade im Gespräch, Ja, ich kann jetzt gerade nicht antworten, ich rufe bei ihnen zurück, ja?"
Uwe Denker knallt den Telefonhörer energisch auf die Station zurück und kramt nach ein paar Zetteln in seiner Schreibtischschublade. Er hat die Berufe seiner Patienten notiert, die ihm im letzten Jahr aufgesucht haben und jetzt findet er den Zettel nicht mehr. Der 78-jährige Arzt, schlohweiße Haare, die Haut gebräunt, wirkt wie Mitte sechzig. Höchstens. Vielleicht macht das seine Liebe zum Wasser, zum Meer und zum Segeln. Seit Jahrzehnten verbringt er seine Urlaube auf einer Insel in der dänischen Nordsee. Und für viele Menschen ist auch seine Praxis so eine Art Insel. Hier werden Menschen wie an einen Strand angespült, die nicht nur aus der Mittelschicht, sondern gleich aus dem ganzen sozialen System herausgefallen sind. Menschen, meistens Freiberufler oder Solo-Selbständige, die sich keine Krankenversicherung mehr leisten können.
Uwe Denker: "Ich hab' jetzt nur mal die Mittelständler herausgegriffen, die so im letzten halben Jahr hier waren. Das waren also der Stahlbauingenieur, der Taxiunternehmer, der Gastronom, der Kaufmann, der Webdesigner, die Bauzeichnerin, der Journalist, die Layouterin, die freie Verlags-Mitarbeiterin, ein Bauunternehmer war hier, Maurermeister, eine Ärztin, eine Schriftstellerin, ein Versicherungsvertreter, der selber Versicherungen verkauft und selber nicht versichert ist - darf nur sein Arbeitgeber nicht wissen - ein Immobilienmakler, ein Architekt, ein Soldat, eine Hundesitterin, Postbote, Friseur, Elektriker, Diplom-Volkswirt, ein Werbefachmann, ein Gewürzhändler, ein Marktbeschicker, eine Bordell-Schneiderin, ein Restaurant-Fachwirt …"
Uwe Denker hat ein Buch in einem kleinen Verlag veröffentlicht: "Medizin in einem reichen Land". Darin erzählt er nicht nur von seinen Patienten, sondern auch etwas von sich und seiner Familie. Geboren noch im Krieg, ging es danach immer aufwärts bei ihm. Medizin-Studium, danach feste Stelle in einer Kinderklinik, Heirat, Geburt von drei Kindern, die Gründung seiner Praxis, die Urlaube auf der dänischen Insel. Im Haus seines Gartens stehen lauter Apfelbäume, Ostholsteiner Sorte, die die Familie jedes Jahr zusammen erntet. Sicher hat er auch Armut mitbekommen in seiner jahrzehntelangen Arbeit als Arzt in Bad Segeberg. Aber dass das soziale System in Deutschland einmal so löchrig werden könne, dass sich immer mehr Menschen ihre Krankenversicherung nicht mehr leisten können, hätte er nie für möglich gehalten.
"Es sind bewegende Schicksale, die sich hier einfinden von Leuten, von denen man niemals gedacht hätte, dass sie mal unsere Hilfe nötig hätten. Wir hatten damit gerechnet, dass Asylbewerber kommen, dass Wohnungslose kommen, dass so genannte Illegalisierte kommen, Menschen ohne Papiere, Obdachlose. Aber die sind es eben gar nicht gewesen. Oder nur in der Minderzahl. Die meisten, die kommen, sind also Mittelständler diverser Berufe und die hier erscheinen und nun plötzlich in ein tiefes Loch fallen. Die jahrelang ihre Beiträge gezahlt haben bei den Krankenkassen, aber das dann plötzlich aus irgendwelchen Gründen nicht mehr konnten - die Gründe sind verschieden - und dann erkrankten."
Viele Lob für den Ehrenamtler, das war's
Seine Praxis führt er ehrenamtlich, einmal pro Woche. In den letzten Jahren ist unter seiner Leitung ein ganzes Netz für Menschen ohne Krankenversicherung entstanden. Fünf Praxen allein in Schleswig-Holstein, deutschlandweit sind es bereits über zwanzig Praxen ohne Grenzen. Überall gehören abgestürzte Mittelständler, die jahrelang in die Sozialsysteme eingezahlt haben, zur Stammkundschaft. Für sein Ehrenamt hat Denker sehr viel Lob bekommen. Von den Medien, aber auch von Vertretern des Politikbetriebes. "Mensch des Nordens" ist er letztes Jahr geworden und sogar ein Gesundheitsminister hat ihn einmal öffentlichkeitswirksam in seiner Praxis besucht. Aber wenn er nachfragt bei der Politik, auf Änderungen drängt, gibt es meist nur ein Schulterzucken.
"Und ich hab schon vor mehreren Jahren, vor vier, fünf Jahren schon Katastrophen-Alarm gegeben. Ich hab' dem Gesundheitsministerium gesagt, passt auf, da passiert was, da bricht ein Deich und wenn wir nicht Deichschutz betreiben, dann gehen wir alle unter. Ich hab inzwischen ein anderes Beispiel: Ich sach', das Gesundheitswesen ist wie ein großer Luxusdampfer. Und unter Deck im Maschinenraum haben wir ein großes Leck entdeckt. Vor Jahren schon. Wir haben dieses Leck gemeldet an die Kommandobrücke. Und aber der Käpt’n ist noch beim Käpt’ns Dinner und schlürft noch Champagner und hat noch nicht entdeckt, dass wir ein Leck haben. Dass immer größer wird. Wenn wir aber nichts tun, dann ist bei einem Schiff klar, was passiert: Wir gehen unter - mit Mann und Maus. Also es klingt dramatisch. Und ich wurde ja auch zuerst auch belächelt und es wurde gesagt, das sind bedauernswerte Einzelfälle - die sind es aber leider nicht mehr."
Der Soziologe Ulrich Beck sprach Mitte der achtziger Jahre von dem Fahrstuhl-Effekt: Solange der gesellschaftliche und ökonomische Fahrstuhl für alle nach oben fährt, ist die Ungleichheit zwischen Armen und Reichen kein Problem, der soziale Frieden gewahrt. Der Soziologe Oliver Nachtwey spricht in seinem Buch "Abstiegsgesellschaft" dagegen vom Rolltreppen-Effekt: Viele Menschen haben das Gefühl, dass sie gegen eine nach unten fahrende Rolltreppe anrennen müssen, um nicht abzusteigen. Das macht nicht nur müde und mürbe, sondern radikalisiert auch viele.
Uwe Denker: "Und ich weiß jetzt ja, durch die Tätigkeit in der Praxis ohne Grenzen, dass die Armut insgesamt zunimmt. Und mit Armut hängt ja dann auch die Krankenversorgung zusammen, hängt ja auch zusammen, dass Arme früher sterben und dass diese Armuts-Schere immer größer wird und eben dann auch große Schichten der Bevölkerung betrifft, auch Kinder, jedes sechste Kind soll in Armut aufwachsen, das sind erschreckende Zahlen.
Jetzt haben wir ja im letzten halben Jahr oder es ist ja schon fast ein Jahr, gemerkt, jetzt sind die Flüchtlinge im Fokus, berechtigt natürlich, auch klar. Nur mitgezogen werden sollten eben auch unsere deutschen Mittelständler, wenn sie denn in Schwierigkeiten sind. Die haben ja dreißig, vierzig Jahre bezahlt. Also dass macht mich doch ein bisschen - ja doch wütend. Dass da nicht mehr passiert. Nur Extreme schätze ich gar nicht, ich möchte nicht, dass Extreme dieses Thema aufnehmen, möchte wirklich, dass unsere bürgerlichen Parteien sich wirklich intensiv dahinter klemmen."
Ob die deutsche Mittelschicht in Zukunft weiter schrumpft oder wieder zunimmt, wird sich in den nächsten Jahren zeigen. Das Problem ist also eher die wachsende Ungleichheit und die Armut. Denn wieviel Polarisierung verträgt eine Gesellschaft? Wieviel Ungerechtigkeiten bei der Vergabe von Sozialleistungen und Bildungschancen? Ab wann gefährdet die weite Spreizung bei Vermögen, Einkommen und Chancen, tatsächlich den sozialen Frieden?
Wie die Reaktion auf die Flüchtlingskrise gezeigt hat, ist dieser Grat mitunter sehr schmal. Soziologen wie Oliver Nachtwey sagen, es ist vor allem die von Abstiegsängsten geplagte untere Mittelschicht, die hauptsächlich den Zulauf bei Pegida und der AfD ausmacht.
Noch.
*In einer früheren Fassung dieses Beitrags standen in diesem Absatz niedrigere Zahlen zum Bruttohaushaltseinkommen, die wir unter Bezug auf das DIW zitiert hatten. Nach Nutzeranmerkungen auf Facebook haben wir beim DIW nachgefragt; daraufhin wurden uns korrigierte Zahlen genannt.