Mitternachtskinder

Von Britta Bürger |
Salman Rushdie schrieb bereits 1981 den Roman "Mitternachtskinder". Die jetzt verfilmte Geschichte spielt in Indien zwischen 1917 und 1977, und handelt von Indiens Weg in die Unabhängigkeit. Im Zentrum des Films steht eine Gruppe von Kindern, die schicksalhaft miteinander verbunden sind.
Mitternacht am 15. August 1947: Als Indien seine Unabhängigkeit erklärt, werden in einem Krankenhaus in Bombay zwei Jungen geboren. Das Kind von Ahmina und Ahmed, einer reichen, traditionsbewussten muslimischen Familie sowie das uneheliche Kind eines mittellosen Hindu-Paares. In einem Land mit festen gesellschaftlichen Strukturen, in dem Arme immer arm und Reiche immer reich bleiben, scheint ihr Schicksal besiegelt. Doch beeinflusst von den revolutionären Ideen ihres Geliebten Joe, spielt die Krankenschwester Mary Schicksalsgöttin.

Szene aus dem Film "Mitternachtskinder":

"Ach, Mary! So viele Babys. / Oh, gib es mir, gib es mir! / Privatzimmer 4, Familie Sinai. / Okay. Sinai! Na du! / Zwei Babys in ihren Armen, zwei Leben in ihrer Macht. Sie tat es für Joe. Ihre eigene private, revolutionäre Tat. Liebe mich, Joe!, war Marys Gedanke. Und dann war es vollbracht. / … Wie Joe gesagt hatte: ´Lass die Reichen arm werden und die Armen reich!`"

"Mitternachtskinder" war Salman Rushdies zweiter Roman und zugleich sein Durchbruch als Autor. Und für den Film schrieb er erstmals auch ein Drehbuch.

Salman Rushdie: "Es ist das erste Mal, dass ein Buch von mir verfilmt wird. Deswegen wollte ich auch weiter involviert bleiben. Die einzige andere Alternative wäre es gewesen, die Rechte zu verkaufen und später zur Premiere zu kommen. Aber ´Mitternachtskinder` war ein sehr wichtiges Buch für mich, und ich wollte nicht am Ende auftauchen und mich dann darüber beschweren, was alles falsch im Filme wäre. Deshalb dachte ich: ´Krempel die Ärmel hoch und leg los!`"

Saleem Sinai und Shiva sind dazu verdammt, ein Leben zu führen, das für den jeweils anderen bestimmt war. Und wenn der um Almosen bettelnde Shiva als etwa Zehnjähriger vor der Villa von Saleems Eltern erscheint, assoziiert der Zuschauer - dramatisch und faszinierend zugleich - dass auch unser Leben ganz anders aussehen könnte, wenn wir zwar am gleichen Ort, zur gleichen Zeit, aber in einer anderen Familie geboren worden wären. Eines jedoch ist Saleem und Shiva gemein: Wie alle Mitternachtskinder haben sie besondere Fähigkeiten, können z.B. die Gedanken anderer Menschen lesen. In nächtlichen "Versammlungen", die Saleem initiiert, weil er genau um Mitternacht geboren wurde und die größten Kräfte in sich trägt, treten sie regelmäßig in Kontakt, und ihre unterschiedlichen Lebenswelten verbinden sich.

Szene aus dem Film "Mitternachtskinder":

"Also wir haben alle diese Gaben, aber warum ist das so? Dafür muss es doch einen Grund geben. Ich habe mir gedacht, wir finden heraus, was es ist, und… / So ein Blödsinn! Aus welchem Grund bist Du reich und ich arm? Und wieso muss ich hungern? Ich sage dir was: Du musst dir nehmen, was du kannst. Damit tun, was du kannst. Und dann musst du sterben. Das ist der Grund, Reichensöhnchen! Alles andere ist nur verdammt dummes Geschwafel. / Hör auf Shiva!"

Während draußen auf den Straßen die Auseinandersetzungen zwischen Hindus und Moslems, Militär und Zivilgesellschaft eskalieren, zeigt sich Ähnliches auch unter den Mitternachtskinder. Nicht einmal diese besonderen Menschen schaffen es, ihre Vorurteile zu überwinden. Auch wenn sich allen voran Saleem darum bemüht. Er und Shiva ringen darum, die Gruppe anzuführen, aber auch um die Zuneigung von Parvati. Sie ist eine Zauberin, fühlt sich zu Saleem hingezogen und unterstützt ihn gegen Shivas Angriffe.

Bleiben die Auseinandersetzungen unter den Mitternachts-kindern verbal-metaphorischer Art, schildert der Film die jüngere Geschichte Indiens mit drastischeren Bildern: Denn der indische Unabhängigkeitskampf geht auch nach dem Ende der britischen Kolonialherrschaft weiter: Mahatma Gandhi tritt gegen die Trennung von Indien und Pakistan ein und versucht zu vermitteln – vergeblich. Es folgen die indisch-pakistanischen Kriege, die Abspaltung Bangladeschs von Pakistan, die Verfolgung von Moslems im hinduistisch dominierten Indien. Für die Regisseurin Deepa Metha ist "Mitternachtskinder" eine fantastische Mischung einer individuellen Geschichte und eines Gesellschaftsporträts.

Deepa Metha: "Es ist das legendärste Buch von einer Autorenlegende, das man überall auf der Welt kennt und das Millionen gelesen haben. ´Oh Gott, worauf habe ich mich da eingelassen?` Aber dann verließen mich die Zweifel wieder, und ich war einfach gespannt. Denn im Grunde ist es die Geschichte des Erwachsenwerdens, die mich an dem Buch immer faszinierte: Die Suche nach Familie und Heimat und die Tatsache, dass nicht nur Vererbtes eine Familie ausmacht. Saleem wird zu einem Helden, aber er ist weder eine Art Harry Potter oder X-Men. Er ist ein Mensch, der sich frei fühlt, der Liebe und Güte ausstrahlt. In diesem Sinne geht es um eine liebevolle Reise durch die Geschichte."

"Mitternachtskinder" ist voller Poesie und Magie. Der Film reflektiert über eine Gesellschaft, die weit auseinanderdriftet, beginnend 1917 mit der Liebesgeschichte von Saleems Großeltern bis hin zur Geburt seines Sohnes. Ein episches Gesellschaftsdrama, in dem Schicksal und Entwurzelung, Traum und Trauma ineinander über gehen. Wobei die Musik beschwingt und faszinierend durch eine facettenreiche Kultur trägt und fast nebenbei eine bewegende Liebesgeschichte erzählt.

Szene aus dem Film "Mitternachtskinder":

"Dein Gesicht. / Was ist denn mit meinem Gesicht? / Nichts. Parvati! Es ist so wunderschön. Du bist so wunderschön."
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