Auch die Täter brauchen Betreuung
07:44 Minuten
Neue Studien zu Mobbing nehmen verstärkt die Täter in den Blick. Denn Opfer und Täter von Mobbing haben mehr gemeinsam, als man annimmt. Auch was die Rolle von Mädchen beim Mobbing angeht, gibt es überraschende Erkenntnisse.
Dienstagfrüh, schulpsychologisches Beratungszentrum Berlin Friedrichshain-Kreuzberg. Ein kleines Büro, in der Ecke drei schwarze Ledersessel um einen Couchtisch.
Gegenüber von Schulpsychologin Diana Sankowsi sitzt Paul, 15:
"Auf unserer Grundschule war das so, dass es so eine Art Routine gab, dass immer pro Monat so eine Person gemobbt wurde, also immer ausgeschlossen", sagt er. "Und die Personen haben sich dann nicht in die Schule getraut. Weil sie halt Angst hatten, da direkt wieder angegriffen oder beleidigt zu werden oder ausgelacht. Und die haben dann immer vor der Schule auf einen Lehrer gewartet. Oder auf einen Freund oder so. Und dann sind sie rein gegangen. Mit einem Lehrer oder mit einem Freund zusammen."
"In dem Fall würde ich das erstmal hervorheben, wie großartig ich das finde, dass dieses Problembewusstsein da ist", sagt die Schulpsychologin. "Denn Mobbing ist ja ein Gruppengeschehen und jeder und jede Einzelne nimmt da eine bestimmte Rolle ein. Also zu hinterfragen: Was ist deine Rolle und was kannst du tun? Kannst du die Lehrerin ansprechen auf das, was du siehst? Was brauchst du, um dich zu trauen?"
Alle Beteiligten wollen Mobbing verheimlichen
Das Gespräch ist kein echtes Beratungs-Gespräch, Paul heißt in Wirklichkeit nicht Paul und ob er die Person ist, die gemobbt wurde, der Freund, der geholfen hat oder einfach ein Beobachter – das wissen wir nicht. Denn wenn es um Mobbing oder Bullying in der Schule geht, um systematisches Schikanieren über einen längeren Zeitraum – dann ist eine Sache besonders kompliziert: darüber zu reden.
"Es ist wirklich sehr schwer, weil alle Beteiligten ein Interesse daran haben, das zu verheimlichen", sagt Diana Sankowski. "Die Betroffenen wollen nicht, dass irgendwelche Vorfälle, die es gegeben hat, bekannt werden. Weil das schambehaftet ist, dass ihnen sowas passiert und sie sich nicht angemessen zur Wehr gesetzt haben. Die Akteure wollen das natürlich auch nicht, weil sie entsprechend mit Sanktionen rechnen müssen. Das sind schon auch Kinder, die verstehen, dass da was falsch läuft, also die halten das geheim. Und je älter die Jugendlichen werden, umso besser gelingt es ihnen, das geheim zu halten."
Paul erklärt, wie das konkret aussehen kann:
"Der hat dann den Lehrer immer in ein Gespräch verwickelt, so über die Schule und so – er hat ihn aber nicht direkt um Hilfe gebeten oder gesagt, dass er gemobbt wird. Das waren alle, Jungs, Mädchen – immer andere."
Mobben Mädchen anders?
Bisher seien Psychologen und Bildungsforscher davon ausgegangen, dass Mädchen anders mobben als Jungen, sagt Anett Wolgast von der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg:
"Da wurde in der vorangegangenen Literatur berichtet, dass bei Jungen eher das physische Bullying vertreten ist, Jungen greifen sich eher körperlich an, wenn es ums Schikanieren geht. Und bei Mädchen ist eher das sogenannte relationale Schikanieren vertreten. Das 'schlecht über jemanden Reden' oder verbal indirekt jemanden schikanieren."
Zusammen mit ihrem Kollegen Matthias Donat hat die Bildungsforscherin Daten der Weltgesundheitsorganisation zur Lebenssituation von etwa 3500 Jugendlichen aus den USA, Deutschland und Griechenland analysiert. Ihr Ergebnis:
"Es gibt keinen wirklichen Unterschied zwischen den Täter- und Opfer-Erfahrungen von Jungen und Mädchen."
Allgemein berichten Jugendliche mit sogenannter "Opfer-Erfahrung" eher über sogenannte internalisierende Probleme, wie Bauch- oder Kopfschmerzen. Bei Jugendlichen mit "Täter-Erfahrung" dagegen finden sich eher Risiko-Verhalten und Verhaltens-Probleme: rauchen, trinken oder Niedergeschlagenheit. Ob diese Faktoren Ursachen oder Folgen von Mobbing sind, ist dabei nicht klar, sagt Anett Wolgast. Gezeigt habe sich aber: Je mehr Täter-Erfahrung jemand hat, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass Risiko-Verhalten und Verhaltensprobleme vorliegen. Und:
"Mädchen haben ähnliches Risikoverhalten berichtet wie Jungen. Und das ist neu. Bisher wurden Unterschiede zwischen Mädchen und Jungen im Risikoverhalten berichtet, es wurde berichtet, dass Mädchen eben weniger Alkohol und Tabak zu sich nehmen als Jungen. Und diesen Unterschied konnten wir nicht mehr feststellen."
Opfer und Täter können die Rollen wechseln
Überrascht waren die Forscher zudem davon, dass sowohl Mobbing-Täter als auch Opfer über ähnliche Probleme mit ihrem sozialen Umfeld berichteten.
"Das haben wir überhaupt nicht erwartet, dass nicht nur Opfer Schwierigkeiten haben, mit Freunden zu sprechen – das ist bekannt aus der Literatur – sondern dass auch die Täter Schwierigkeiten haben, mit Freunden zu sprechen. Obwohl von den Tätern ja bisher immer angenommen wurde, dass sie ein starkes soziales Netzwerk haben und ja auch Assistenten üblicherweise – und diese Leichtigkeit, mit Freunden zu sprechen, konnten wir aber eben nicht finden."
Die Studienergebnisse stützen Beobachtungen aus der Beratungspraxis, wonach sogenannte Mobbing-Opfer und -Täter ihre Rollen wechseln können.
"Das Opfer soll möglichst irgendwie sichtbar hilflos sein, zurückgezogen, leidend, klein und so weiter", sagt Schulpsychologin Diana Sankowski. "So sind die Opfer nicht. Die Opfer können durchaus auch lautstark sich zur Wehr setzen – schlagen, treten und so weiter – und dabei selbst Grenzen verletzen. Und dann ist es schwer zu erkennen, dass sie in dieser Rolle drin sind. Und wer mal betroffen war, versucht das in der nächsten Gruppe auf jeden Fall zu verhindern, kommt dann in die Rolle des Mitläufers oder dann meinetwegen gleich voran – lieber derjenige sein, der es tut, dann ist die Gefahr geringer, selbst wieder in die betroffene Rolle zu kommen."
Paul bestätigt das:
"Es war immer so ein Kreislauf – mal war der eine dran, dann wieder ein anderer. Irgendwie war jeder mal dran. Das war wie so ein Klassenspiel."
"Es war immer so ein Kreislauf – mal war der eine dran, dann wieder ein anderer. Irgendwie war jeder mal dran. Das war wie so ein Klassenspiel."
Beide Seiten suchen Anerkennung in der Gruppe
"Beiden scheinen ja Strategien zu fehlen sich soziale Anerkennung auch auf angemessene Art und Weise zu holen", erklärt Diana Sankowski. "Die Betroffenen haben selber keine guten Strategien sich zur Wehr zu setzen und diejenigen, die Mobbing betreiben, die sind ja auch nur auf der Suche danach, Grundbedürfnisse, die jeder Mensch hat zu erfüllen: nach Anerkennung in der Gruppe. Aber sie machen das auf eine Art und Weise, die sozial nicht akzeptiert ist und das wissen sie auch. Und sie sind eigentlich auch glücklicher, wären glücklicher, wenn sie andere Wege finden würden."
Präventions-Strategien gegen Mobbing setzen daher in letzter Zeit verstärkt darauf, mit Schülern zu trainieren, wie sie miteinander ins Gespräch kommen. Dabei rücken neben den Opfern von Mobbing zunehmend auch die Täter in den Fokus, sagt Medienpädagogin Susanne Rödiger, die beim Verein "Juuuport" Mobbing-Opfer und Täter online berät:
"Da gehört zum Beispiel der No-blame-Approach dazu, der ja explizit nicht davon ausgeht, dass man diejenigen, die in der aktiven Rolle des Mobbens sind, bloßstellen sollte, dass man sagen sollte: Du bist der Täter. Sondern der versucht ganz im Gegenteil, alle in einem gleichberechtigten Rahmen zusammenzuholen. Und natürlich ist es auch wichtig, dass man mit den Jugendlichen arbeitet, die dort in der Täter-Rolle aktiv sind, und irgendwo ein Stück weit - so komisch das auch klingt - Verständnis für deren Rolle aufbringt. Denn in der Regel stecken ja Gründe dahinter, warum Jugendliche das machen."
"Wenn man mitmacht, dann fühlt man sich stark, man hat plötzlich Freunde. Aber Mobbing ist halt scheiße."