Mobile Zahnarztpraxis

Zähne bohren am Küchentisch

Die Zahnärztin Kerstin Finger behandelt einen Rentner in einem Seniorenheim im brandenburgischen Milmersdorf (Uckermark).
Die Zahnärztin Kerstin Finger behandelt einen Rentner in einem Seniorenheim im brandenburgischen Milmersdorf (Uckermark). © dpa / picture alliance / Patrick Pleul
Von Vanja Budde |
In der brandenburgischen Uckermark bietet die Zahnärztin Kerstin Finger eine mobile Praxis speziell für ältere Menschen an. Einige sind nicht mehr gut zu Fuß - anderen fehlt das Geld fürs Taxi. Ein Zukunftsmodell?
Dienstagmorgen um acht: Dr. Kerstin Finger und ihre beiden Praxishelferinnen Christine Zessel und Anke Übel steigen in einen kleinen Lieferwagen. Er parkt neben der Praxis in einer Seitenstraße und ist hinter den Sitzbänken vollgestopft mit einem mobilen Bohrer im Rollkoffer und Dutzenden Plastikdosen aus dem Baumarkt, fein säuberlich aufgereiht. Darin: Zangen, Einmalhandschuhe, Abdrucklöffel und Dutzende andere Dinge, die man als Zahnärztin so braucht.
Es geht über Alleen durch die hügelige Landschaft der Uckermark, durch Wälder und Felder, an vielen Seen vorbei.
"Jetzt sind wir in Haßleben, bei einer meiner langjährigsten Patientinnen, wo es auch immer schlechter gegangen ist mit dem Laufen. Und jetzt besuchen wir sie seit, glaub ich, zwei oder drei Jahren."
Ein bescheidenes Mietshaus aus DDR-Zeiten, der Rollator der Patientin steht im Treppenhaus.
Ein schmaler Flur, zwei kleine Zimmer, an den Wänden hängen Fotos der Enkelkinder. Frau Rinke ist über 70, in Stoffhose und Strickjacke. Käme die Ärztin nicht zu ihr aufs Dorf, müssten ihre Zähne unbehandelt bleiben.
Rinke: "Ist gut. Schön ist das. Ich hätte auch nicht mehr können nach Templin, immer dann die Treppen und alles dahin, nicht mehr können. Die Tochter hat damals gerade schon gesagt gehabt, sagt sie: 'Mutti, das können wir gar nicht mehr', kriege ich ja gar nicht mehr hin, kann ja auch so schlecht laufen. Die Hand, alles ist kaputt."
Finger: "So, was brauchen wir? Ich nehme mir wieder ein Kissen von Ihnen, damit wir eine Kopfstütze haben."
Die Abdruckmasse wird in der Küche angerührt
Die kleine Patientin versinkt fast in ihrem Polstersessel, die 1,80 Meter große, sehr schlanke Ärztin macht sich krumm, um den Zahnabdruck für eine neue Prothese zu nehmen. Sie hat schon überlegt, sich Knieschoner anzuschaffen, wie ein Fliesenleger. Praxishelferin Christine Zessel rührt die quietschrosa Abdruckmasse in Frau Rinkes Küche an, während im Wohnzimmer ihre Kollegin Anke Übel mit einer Fahrradlampe in den weit geöffneten Mund der Patientin leuchtet.
Frau Rinke beißt auf die Abdrucklöffel, dieser Termin ist schnell erledigt. Weiter geht es zum nächsten Patienten.
Seit fünf Jahren macht Kerstin Finger diese Hausbesuche. Immer im Gepäck: ein 15 Kilo schwerer Kasten in einem Rollkoffer – Fingers "mobile Einheit", die hat sie sich bei "Ärzte ohne Grenzen" in Nicaragua abgeschaut. Damit kann sie wie in der Praxis bohren, Füllungen legen oder Prothesen anpassen.
Fünf Jahre durch die weiten Landschaften der Uckermark - da kommen Tausende Kilometer im Jahr zusammen. Der Ansturm ist kaum zu schaffen, vielen muss sie absagen, weil sie zu weit weg wohnen. Die 55-Jährige hält das, was sie tut, trotzdem für zukunftsweisend. Die Ärzteschaft müsse umdenken:
"Wir müssen zum Bedürftigen hin. Und die meisten der Bedürftigen in der Zahnmedizin kriegen wir gar nicht mehr zu Gesicht, weil die einfach nicht mehr kommen können. Aber wenn Sie einmal anfangen, zu denen hinzufahren, dann merken Sie eigentlich, wie viel Bedürftigkeit es gibt."
Drei Patienten später wird es ernst: Frau Tackmann wohnt betreut und hat schlimme Zahnschmerzen. Wie so oft wissen Kerstin Finger und ihr Team nicht, was sie genau erwartet.
"Hier ist Frau Finger, die Zahnärztin, hallo!"
Finger fackelt nicht lange: Der Zahn muss raus
Frau Tackmann hat einen Herzschrittmacher und nimmt ein Mittel zur Blutverdünnung. Kerstin Finger, deren Großvater auch schon Zahnarzt war, kann das nicht stoppen.
"Dieser Zahn müsste raus, da würde ich jetzt gar nicht mehr lange fackeln."
Die Patientin im Fernsehsessel bekommt im hellen Schein der Fahrradlampe zwei Betäubungsspritzen und hält tapfer still.
Der Zahn ist dann schnell und unspektakulär gezogen. Ein leises Knacken, das war's.
Blitzschnell die Situation erfassen und eine Entscheidung fällen – für Kerstin Finger, die schon wieder hinter dem Steuer sitzt, eine Kunst, die besonders Landärzte beherrschen müssen.
"Wer sich raus aufs Land begibt, der muss ganz, ganz, ganz viel wissen, denn er muss sofort erkennen: Wo ist hier die sogenannte Bagatelle, wo einfach mal über die Wange streichen oder gut zureden reicht und wo muss ich aber den Hubschrauber bestellen?"
Sie liebt das alles: ihren Job, die Menschen, die Ruhe in der Uckermark und die Landschaft. Und findet dennoch niemanden, der bei ihrer mobilen Praxis mitmachen will.
"Ich sage immer: Kommt, ihr könnt bei uns alles lernen, weil eben bei uns alles vorhanden ist, von - bis. Ich rede mir wirklich den Mund fusselig, sage: Hier ist eigentlich Zahnmedizin vom Feinsten, von der Pike auf zu lernen. Aber ich warte immer noch. Zehn Jahre habe ich noch. Bis dahin, hoffe ich, ist jemand da."
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