Mobilität

Auf die Schiene, fertig, los!

Eine historische Straßenbahn in Orange biegt am Ende einer Allee nach links ab
Die historische Straßenbahn "Wilde Zicke" in Naumburg © dpa / Jan Woitas
Von Philip Artelt |
Die erste deutsche Straßenbahn rollte 1884 von Frankfurt nach Offenbach. Im Jahr 1920 zählte die Welt schon 3000 Straßenbahnbetriebe. Mitte des 20. Jahrhunderts wurden etliche Linien wieder stillgelegt. Doch nun erlebt die Straßenbahn eine Renaissance.
Kommen Sie mit auf eine Reise. Eine imaginäre Reise auf einer Bahnstrecke, die es nicht mehr gibt. Eine Reise aus der Vergangenheit in die Zukunft der Straßenbahn. In Erlangen, einer 100.000-Einwohner-Stadt in Mittelfranken, könnte diese Zukunft Wirklichkeit werden. Steigen Sie ein!
Schaffner: "Seekuh Richtung Erlangen, einsteigen!"
Unsere Reise beginnt 1873. Der Magistrat von Gräfenberg in der Fränkischen Schweiz schreibt eine Bitte an die Bayerische Staatsregierung: Man will eine Eisenbahn in das 28 Kilometer entfernte Erlangen.
Und auch Erlangens Bürgermeister sieht mit der Bahn Reichtum und Leben in seine Stadt dampfen:
"Wer wollte auch leugnen, dass eine Bahn ein Bedürfnis sei! Handelt es sich auch darum, neue Quellen des Wohlstandes wie sie beispielsweise durch die Möglichkeit der Anlegung oder neuerlichen Ausbeutung von Bau-, Pflaster- und Kalksteinbrüchen gegeben sind, zu eröffnen".
Ende des 19. Jahrhunderts ist die Hochzeit für Nebenbahnen in Bayern. Überall - in Kahl am Main, Roth, Feucht und Allersberg entstehen Bähnchen, die kleine Dörfer jenseits der großen Verkehrsrouten an das Bahnnetz anbinden. So auch in Gräfenberg: Dreizehn Jahre nach dem Brief des Gräfenberger Magistrats fährt die erste "Seekuh", die Sekundärbahn: über Neunkirchen, Weiher und Spardorf bis nach Erlangen. Das Besondere: Schon damals fuhr die Seekuh mitten durch die Dörfer, wie eine moderne Straßenbahn – nur begleitet von Dampf, Ruß und Lärm, dass die Scheiben in den Häusern wackelten.
Sprecher: "Nächster Halt: Neunkirchen am Brand"
Letzte Fracht der Seekuh sind Ferkel
Alte Männer im Wechsel: "Erlebt hat man viel ..."
"Die wirst du auch noch kennen, die Freundin von meiner Schwester ..."
"Na freilich... die Inga Britt... genau, die Inga Britt... und die hat in Erlangen studiert. Und die hat bei uns draußen in ... gewohnt. Und wenn die zum Zug ist, zu ihrem Studium, hat der Bahnhofsvorsteher, der wie hat er geheißen?"
"Scholz. Nein, Seubert."
"Nix. Nein, der nächste. Der Teuschel? Oder der May?"
"May! Der May war's. Und der May ist immer schon da vorne gestanden und hat geschaut, ob die Inga Britt da net kommt. Da hat immer der Zug warten müssen auf die Inga Britt. Die war immer die letzte, die gekommen ist. Da hat er immer... jetzt kommt's, jetzt kommt's, und dann ist sie schnell noch raufgerannt und mitgefahren. Weil der hat gewusst, die kommt heute, die muss kommen."
Leider liegt für dieses Bild keine Bildbeschreibung vor
Erste elektrische Straßenbahn in Berlin 1881© picture-alliance / dpa
Die Nachkriegszeit: Wirtschaftswunder. Wer es sich leisten kann – und das sind viele – fährt mit dem eigenen Auto von den Dörfern zur Arbeit nach Erlangen. Zu dieser Zeit legt die Deutsche Bundesbahn tausende Kilometer Strecken still. Und so kommt auch für das Erlanger Lokalbähnchen das Aus: Die letzte Seekuh fährt 1963, als Fracht hat sie eine Kiste Ferkel geladen.
Die Seekuh, eine Idee aus dem 19. Jahrhundert. Nach knapp 80 Jahren ist sie tot. Zumindest für eine gewisse Zeit . Denn das Wiederbeleben des Bähnchens wird in Erlangen schon seit einer Weile wieder diskutiert. Die Seekuh als moderne Straßenbahn.
1972, knapp ein Jahrzehnt nach dem Stillegen der Seekuh, tritt ein neuer Oberbürgermeister in Erlangen sein Amt an: Dietmar Hahlweg. Sein großes Thema: der öffentliche Nahverkehr.
Hahlweg: "Ich hab dann relativ schnell im Gespräch mit Siemens herausgefunden, dass die eine moderne Technologie für Innenstädte planen, die sogenannte H-Bahn, Hängebahn, an einem Balken fahren fahrerlos Kabinen für fünf bis zehn Personen. Und da haben wir gesagt, wir sind bereit, da Versuchskaninchen zu spielen."
In der Schlussabstimmung im Stadtrat im November 1978 ist aber die Mehrheit um drei Stimmen verfehlt worden. Der Schock sitzt tief. Die Hängebahn wird in Dortmund gebaut, und nicht im beschaulichen Erlangen.
Mitte der 90er: Hahlweg startet einen weiteren Wiederbelebungsversuch für eine Stadtbahn. Er scheitert, die Pläne werden von seinem Nachfolger begraben.
Sprecher: "Nächster Halt: Uttenreuth"
Alter Mann: "Mein Vater hat bei der Seekuh geheizt, der hat später den Triebwagen gefahren, den 798er, das war Anfang der 60er Jahre... Damals haben wir in der Gräfenberger Straße gewohnt. Da hat unser Vater erzählt, dass auf der Lok Knallkapseln sind und wenn man die auslegt, dann ist das Nothalt für den entgegenkommenden Lokführer. Das hat halt richtige Schläge getan, wenn man drübergefahren ist. Und dann haben wir uns den Spaß gemacht und drei Schreckschusspatronen auf die Schienen gelegt und da ist die Dampflok stehengeblieben. Und da war mein Vater drauf und dann haben wir eine gscheite Watschn gekriegt, a trümmer Ohrfeigen."
Gelegte Schienen können 100 Jahre genutzt werden
2013: Der nächste, vielleicht der erfolgreiche Wiederbelebungsversuch – zumindest für einen Teil der alten Seku-Strecke: Ab Uttenreuth auf dem Land als S-Bahn, in Erlangen als Straßenbahn, dann weiter nach Nürnberg und ins benachbarte Herzogenaurach. Städte wie Kassel und Karlsruhe machen vor, dass so eine Stadt-Umlandbahn Erfolg haben kann. Der Kämpfer für die Bahn heißt diesmal Florian Janik, Erlangens frisch gewählter Oberbürgermeister.
Janik: "Wir haben ja fünf Global Player in der Region, Siemens, Adidas, Puma und Scheffler, haben uns deutlich signalisiert, sie wollen hier investieren, sie wollen hier bleiben. Aber dazu gehört eine moderne Verkehrsinfrastruktur, weil sie die brauchen, um attraktive Arbeitgeber zu sein. Wir haben ein immenses Verkehrsproblem, das ist da, und zwar auf dem Ost-Ast, auf dem West-Ast und auf dem Ast nach Nürnberg, wir bekommen mit den Bussen die Personen nicht mehr befördert."
Janik hat gute Chancen, die vierzig Jahre alte Idee einer Stadtbahn endlich zu verwirklichen. Der geplante Siemens-Campus, der Ausbau der Universität und ein Verkehrsminister, der aus Erlangen kommt, all das zieht bei der bayerischen Staatsregierung. Sogar Ministerpräsident Horst Seehofer findet die Idee inzwischen charmant. Das ist wichtig, denn der Freistaat müsste das eine halbe Milliarde Euro teure Projekt großzügig fördern.
Am Geld ist die Stadt-Umlandbahn schon einmal gescheitert, damals zu Zeiten von Oberbürgermeister Hahlweg. Und so wird die Strecke heute von Bussen bedient. Das klingt erst mal billiger: Ein Bus kostet rund 350.000 Euro, eine Straßenbahn das Zehnfache. Schienen zu verlegen ist teurer als Straßen zu asphaltieren.
Verkehrswissenschaftler Roland Priester: "Teurer wird erstmal die Erstinvestition in die Infrastruktur, das ist natürlich was, was beim Bus nicht anfällt, der fährt auf der Straße, dennoch ist es so, sobald der Schienenverkehr eingerichet ist, entstehen gewissen Effizienzeffekte im Betrieb, und unter günstigen Voraussetzungen kann der Betrieb im Schienenverkehr sogar günstiger sein als im Busverkehr, man hat ja die Möglichkeit, Züge zu koppeln, also eine wesentlich höhere Kapazität zu fahren bei weniger Personalkosten, das sind ja eigentlich die Haupttreiber im ÖPNV, im laufenden Betrieb ist es eindeutig der wesentliche Faktor sind die Personalkosten, die im Schnitt in Deutschland machen die Personalkosten 40 Prozent der Betriebskosten aus."
Ist die Bahn einmal gebaut, können die Wagen 30 Jahre lang fahren. Ein Bus fährt nur zehn Jahre, dann wird er ausgetauscht. Sind die Schienen einmal verlegt, können sie 100 Jahre genutzt werden. So lange hält keine Straße. Die halbe Milliarde für die Bahn: Auf lange Sicht könnte sie gut angelegt sein.

Sprecher: "Nächster Halt: Erlangen Zollhaus"
Zweiter alter Mann: "Was glauben Sie, was das ist? Das ist der sogenannte Stinkerwagen. Von Erlangen und von Nürnberg sind die Fäkalien rausgefahren worden und die Bauern mussten mit dem Odelfass diese wieder holen und sogar bezahlen. Und durch die Werner-von-Siemens-Straße sind die immer gefahren und dann hat Siemens immer geschimpft, weil es dann hieß: Jetzt kommen wieder die mit dem Stinkerwagen. Und deswegen war das für uns nur der Stinkerwagen."
Laut, langsam, stinkend. So erinnern sich die Alten an die Seekuh. Die alte Bahn genießt bei einigen keinen guten Ruf – eine Stimmung, die dem Projekt "Stadt-Umland-Bahn" gefährlich werden könnte.
Haselbauer: "Wir lassen das Fenster auf, dann hört man die Geräusche von der Straße."
Bahnen fahren ruhiger als Busse
Der Verkehrslärm dringt durch die offenen Schallschluck-Fenster in die Küche von Marion Haselbauer. Ein angegrautes Zweifamilienhaus am Stadtrand von Erlangen Garten und Fenster zur Hauptverkehrsstraße. Eigentlich müsste sich die 55-Jährige freuen, wenn die Bahn vor ihre Haustüre kommt. Weniger Verkehr, weniger Lärm, weniger Abgase - aber Marion Haselbauer freut sich nicht.
Haselbauer: "Die Idee ist nicht schlecht, aber ich glaube nicht, dass sie die Entlastung bringt für das Geld, was sie kostet. Es wäre schön, wenn dann nur die Bahn fahren würde und sonst nichts mehr, aber das glaube ich einfach nicht. Weil die Leute, die nach draußen gebaut haben, das sind ja denk ich keine Armen. Und jemand, der bei Siemens oder der Uni einen guten Job hat, der fährt garantiert nicht mit der Bahn. Der fährt garantiert weiter mit dem Auto, weil es einfach bequemer ist."
Blick über die Altstadt von Nürnberg
Blick über die Altstadt von Nürnberg: Von hier aus fährt eine Straßenbahn nach Erlangen© picture alliance / dpa / Foto: Daniel Karmann
Eine halbe Milliarde für eine Bahn, mit der niemand fährt. Was Menschen wie Marion Haselbauer übersehen, ist der Schienenbonus.
Priester: "Gut. Die Frage nach dem Schienenbonus. Eine sehr spannende Frage. Eines der letzten großen Rätsel, wenn es um Schienenverkehr geht ..."
Der Verkehrswissenschaftler Roland Priester. Der Schienenbonus besagt, dass auf ein und derselben Strecke mehr Menschen vom Auto auf die Bahn umsteigen würden als auf den Bus.
Das hat einfache technische Gründe: Bahnen fahren ruhiger als Busse. Sie haben ein eigenes Gleis und kommen deshalb schneller und pünktlicher ans Ziel. Und sie bieten mehr Sitzplätze als ein vollbesetzter Bus.
Jetzt könnte man mit viel technischem Aufwand einen Bus fast so bequem, schnell und zuverlässig machen wie die Bahn.
Priester: "Wenn diese Parameter gleich sind, gibt es etwas, was noch nicht abschließend erklärt werden kann, warum die Fahrgäste den Schienenverkehr bevorzugen, wenn die technischen Parameter gleich sind. Es ist eben nicht so, dass man den Bus genauso attraktiv macht und dass eben die gleichen Fahrgastzuwächse erreicht werden."
Nagelneue Strecke von Nürnberg in Richtung Erlangen
Der Schienenbonus ist ein psychologisches Rätsel. In Erlangen könnte er dazu führen, dass die Bahn Erfolg hat, so wie die Bahnen in Karlsruhe, Kassel oder in Straßburg. Das kleine Erlangen: Teil einer globalen Renaissance der Schiene?
Priester: "Wenn Sie die Renaissance der Straßenbahn als das definieren, dass Straßenbahnen wieder mehr Einzug halten, wieder mehr ÖPNV auf Schienenverkehr umgestellt werden, ja. Dann gibt es diese Renaissance. Ganz vorne natürlich Frankreich, aber auch USA, ein Land, das man nicht an erster Stelle nennen würde. Das führt sogar so weit, dass sogar in den Zentren wieder klassische Streetcars, langsame Straßenbahnen, ein Revival erleben. Gegen diesen Trend, dass der Schienenverkehr Geschwindigkeitsvorteil haben muss. Nein, hier müssen andere Treiber sein, dass das Interesse entsteht. Dann sind es vielleicht eben doch mehr die psychologischen Effekte oder Effekte, die auf das Stadtbild wirken. Attraktives Stadtbild durch Schienenverkehr? Auf einmal spielt das wieder eine Rolle."

Sprecher: "Nächster Halt: Nürnberg, Am Wegfeld"
Am Stadtrand von Nürnberg wird schon an der Renaissance der Straßenbahn gebaut: Eine nagelneue Schienenstrecke, Richtung Norden, Richtung Erlangen. Quasi eine Einladung an die Nachbarstadt: Liebe Erlanger, hier könnte eure Straßenbahn demnächst anschließen.
Wenn ihr nur wollt.
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