Florian Werner, 1971 geboren, ist promovierter Literaturwissenschaftler und lebt als freier Autor in Berlin. Seine Bücher wurden unter anderem ins Englische, Spanische und Japanische übersetzt und mehrfach ausgezeichnet. Zuletzt erschien: "Zur Welt kommen. Elternschaft als philosophisches Abenteuer" (mit Svenja Flaßpöhler, Blessing 2019).
Plädoyer für die "Fahrradwerdung"
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Die Sternfahrt nach Berlin nehmen Fahrradbegeisterte aus dem ganzen Land zum Anlass, für eine klimafreundliche Verkehrswende zu demonstrieren. Auch charakterlich sollten wir uns dem Fahrrad annähern, kommentiert Florian Werner.
Der Philosoph De Selby ist in akademischen Kreisen weithin unbekannt, eine Monographie zu seinem Leben und Werk steht noch aus. Das ist bedauerlich, schließlich verdanken wir ihm eine Reihe wahrhaft revolutionärer Thesen, nicht zuletzt die erste und bis heute mutmaßlich einzige existenzphilosophische Erörterung des Radfahrens.
Menschen, die regelmäßig Zeit auf ihrem Rad verbringen, so De Selby, tauschen durch die intensive und anhaltende Nähe Atome mit ihrem Gefährt aus, und verwandeln sich daher allmählich in Fahrräder – und umgekehrt, bis die Grenzen zwischen Fahrer und Zeug irgendwann aufgehoben sind: Die Menschen "verfahrradeln". Ihre Räder "vermenscheln".
Zeug macht Mensch: Das Auto verdirbt unseren Charakter
Dass diese These in Wissenschaftskreisen bislang eher verhalten aufgenommen worden ist, kann kaum verwundern: Schließlich ist De Selby, ebenso wie dieses Theorem, eine Erfindung des irischen Schriftstellers, Satirikers und Starkbiertrinkers Flann O’Brian.
Trotzdem hat die Idee einiges für sich: Schließlich stehen Menschen und ihre technischen Hilfsmittel, wie etwa die Geschichte der Aufschreibesysteme zeigt, tatsächlich in einer wechselseitigen Beziehung: Ein Text fällt vollkommen anders aus, je nachdem, ob er mit Hammer und Meißel in einen Felsen gehauen, mit Gänsekiel auf Pergament gekratzt oder unterwegs in ein Smartphone diktiert wird.
"SIE HABEN RECHT", hämmerte schon Friedrich Nietzsche 1882 in die Tasten seiner Schreibmaschine: "UNSER SCHREIBZEUG ARBEITET MIT AN UNSEREN GEDANKEN." Und warum sollte, was für das Schreibzeug gilt, nicht auch für unsere Fahrzeuge gelten?
Jeder, der mal am Steuer eines Sportwagens gesessen hat, wird bestätigen, dass das Wesen des Autos osmotisch in Kopf und Körper einsickert: Die schiere Tatsache, dass man in einem Gerät sitzt, das 300 Stundenkilometer schnell fahren könnte, weckt den Gedanken an Geschwindigkeit.
Ebenso lässt sich kaum bestreiten, dass das Besteigen einer Geländelimousine unweigerlich das Schlechteste im Menschen hervorruft: Die erhöhte Sitzposition führt zu einem Gefühl der Überlegenheit. Durch die eigene relative Sicherheit wächst die Rücksichtslosigkeit gegenüber den Mitmenschen. Ja, sogar die Gestik wird vom Auto übernommen: Den gestreckten Mittelfinger muss man der Umwelt gar nicht mehr zeigen, er wird durch den Kraftstoffverbrauch quasi serienmäßig mitgeliefert.
Homo bicycletus werden: verletzlich, umsichtig, offen
Wie anders das Fahrrad: Durch seine wesensmäßige Wackeligkeit zwingt es den auf ihm sitzenden Menschen zur Balance. Die fehlende Knautschzone legt ein auf Konfliktvermeidung ausgerichtetes Verhalten nahe. Der ewige Kreislauf der Pedale schließlich erzieht zu existenzieller Demut, zur Einsicht in die Wiederkehr des Immergleichen.
Verletzlich, umsichtig, offen, mit anderen Verkehrsteilnehmern auf Augenhöhe: So präsentiert sich der durch sein Fahrzeug geprägte Homo bicycletus - Kampfradler bestätigen die Regel. Wir sollten also nicht nur aus ökologischen sowie verkehrspolitischen Gründen vom Auto aufs Rad umsatteln - wir sollten es auch aus Gründen der charakterlichen Selbstsorge tun. Verfahrradeln wir ein bisschen. De Selby wäre stolz auf uns.