Mode

Das Prinzip Farbe

Nils-Holger Wien
Der Trendexperte Nils Holger Wien © R. Roth, Deutsches Modeinstitut
Von Jörg Wunderlich |
In Berlin trifft sich die Modewelt derzeit zur Fashion Week, wo wie gewohnt auch die Farben der kommenden Saison vorgestellt werden. Festgelegt wird diese international geltende Farbskala von Trendanalysten wie Nils Holger Wien.
"Der Anfang ist immer eine Sammlung. Das wird eine Collage aus Dingen, aus Materialien, aus Bildern. Und aus diesen extrahiere ich ein Farbgefühl."
Wenn Nils Holger Wien über seine Arbeit befragt wird, muss er etwas weiter ausholen. Der Trendforscher beobachtet Stimmungen und Entwicklungen, die sich auf die Farbgebung auswirken können. Seine Auftraggeber sind Trendbüros, Verbände und Institutionen. Um seine Erkenntnisse auch sinnlich transportieren zu können, sammelt er farbige Materialien.
"Hier sind Muster drin, über die wir gestern entschieden haben. Wir haben ganz viel mit tiefdunklen Grüntönen gemacht für den Winter 2015/2016. Es gibt ein sehr schönes Farbthema, das sich mit Sättigung und Dunkelheit von Farben beschäftigt. Das hier sieht schon fast aus wie Nachtgrün, wie wenn man Wald in der tiefen Dämmerung sieht."
"Kommunikation ist eines der wichtigsten Dinge bei meiner Arbeit. Je poetischer ich über neue Farben und neue Materialien erzählen kann, um so mehr bleibt es bei meinen Zuhörern haften."
Welche Farbtöne bestimmen die kommende Saison?
Als Farbtrendanalyst des Deutschen Modeinstitutes ist Nils Holger Wien beruflich viel unterwegs und besucht weltweit Messen, Ausstellungen und Kongresse. Die Zeit, die er dabei auf Flughäfen und anderen öffentlichen Orten verbringt, nutzt er gerne für Recherchen. Zu Hause in seinem Atelier in Halle (Saale) betreibt der Experte ein Farbarchiv.
"Da ist Bindeband für den Garten drin oder irgendwelcher Draht. Alles, was irgendwie Farbe transportiert, wird gesammelt und in Kartons verpackt. Manchmal ist auch was von der Straße dabei, aber die meisten Sachen sind Textilmuster, die ich auf Messen einsammele oder in einem Geschäft finde. In Paris gibt es zum Beispiel Spezialgeschäfte, wo man Posamentengarne kaufen kann. Solche Geschäfte gibt es bei uns leider nicht mehr. Und da legt man sich dann eine Sammlung davon zu, dass man immer darauf zugreifen kann."
Zehntausende Materialbeispiele hatte Nils Holger Wien für sein Archiv zusammengetragen, bis das Hochwasser 2013 das ehemalige Mühlengebäude an der Saale flutete. Jetzt sind die Aluregale fast leer. Nur wenige Kartons konnten gerettet werden. Die kleinen Stoffstückchen sind für die Arbeit der Trendforscher wichtig, denn in der Modewelt wird immer noch ganz klassisch beim Material angefangen. Erst wenn die Farbkarte für eine Saison zusammengestellt ist, werden die Farbtöne digitalisiert und chemisch für die Industrie entwickelt. Die Entscheidung, welche Töne für eine Saison maßgeblich sind, fällen die Trendanalysten im Team.

"Das größte Gremium heißt Intercolour. Bei dem treffen sich Menschen aus 14 Nationen, die mit Farbe arbeiten. Und spannend dabei ist, dass die Geschichten, die meine Kolleginnen aus der Türkei oder Japan erzählen, vielleicht andere kulturelle Phänomene beschreiben, aber am Ende doch eine ähnliche Farbsprache erzeugen."
Ästhetisch überqualifiziert für einen klassischen Mode-Job
Nils Holger Wien ist ein freundlicher und jungenhaft wirkender Mann in den Vierzigern. Dass er Farbe liebt, zeigt der gelernte Modedesigner auch deutlich sichtbar nach außen. Die kurzen Haare leuchten in einem intensiven Rot-Ton, dazu trägt er Schuhe in Maigrün. Er fällt auf, ohne dabei exaltiert zu wirken.
"Meine Initiation mit Farbe hat etwas mit dem Modestudium zu tun. Ich habe über das Phänomen des Androgynen geschrieben und auch Klamotten dazu gemacht. Da ging es ganz viel um Farbe – was ist erlaubt für welches Geschlecht und warum? Seitdem bin ich mit dem immer vermählt geblieben."
Als 1989 die Mauer fiel, zog es den Modestudenten zuerst nach Paris. Später absolvierte er ein Aufbaustudium in Belgien. Dort, an der königlichen Kunstakademie in Antwerpen, wurde in den 90er-Jahren die Modewelt revolutioniert. Das Zauberwort hieß Dekonstruktion. Für einen klassischen Job in der Modebranche war der Absolvent dann allerdings ästhetisch überqualifiziert.

"Die freundlichste Auseinandersetzung hatte ich mal mit einem Personaldirektor, der zu mir sagte, dass ich zu eigenwillig wäre und deshalb sollte ich mich doch lieber selbstständig machen. Der meinte das nicht böse, sondern ernst und freundlich. Nach so vielen unnützen Bewerbungen, die nichts gebracht haben, habe ich dann einfach angefangen und die Arbeit kam von allein."
Die Farben der Finanzkrise
Als Freiberufler arbeitete er unter anderem als Stylist, Produzent, Grafiker, Ausstatter und Kostümbildner. Freiheit und Unabhängigkeit sind auch wesentliche Voraussetzungen für seine heutige Tätigkeit, denn Trendanalysten müssen möglichst unvoreingenommen wahrnehmen und kommunizieren können.
"Die Finanzkrise hat enorme Vorsicht ausgelöst beim Konsum, aber hat eher zu mehr Lebendigkeit und fast Aufruhr geführt in der Farbigkeit. Also da ist viel mehr Lautstärke dagewesen, fast so etwas wie ' jetzt erst recht ' und Protest."

Solche Statements gehören für Nils Holger Wien zum täglichen Geschäft. Archäologie der Zukunft – so nennt er manchmal das, was er tut. Weil er davon überzeugt ist, dass auch kleine Veränderungen wie ein neuer ungewöhnlicher Farbton Wirkung auf die Gesellschaft haben können, versucht er, das Prinzip Farbe so offensiv wie möglich zu leben.
"Natürlich ist es schwierig, kulturelle Konventionen zu überwinden. Wir haben lange darum gekämpft, eine Farbe am Markt zu etablieren, die es lange Zeit nicht gegeben hat: ein richtiges strahlendes Zitronengelb. Und plötzlich, im Sommer vor zwei Jahren, war das der wichtigste Ton in der Farbkarte."