Die Coworker aus dem Oderbruch
In Großstädten wie Berlin teilen sich viele ein Büro oder einen Schreibtisch. Eine Initiative will Coworking auch in der Brandenburger Peripherie etablieren. Die wirbt mit Gratiskaffee und Breitbandnetz um die Gunst der Dorfbewohner und Ex-Großstädter.
An einem der locker angeordneten Holztische im Coworking-Space Alte Schule Letschin sitzt der Architekt und Städteplaner Gerhard Ihrig über seinem silbernen Laptop: helles Hemd, gepflegter weißer Bart, Stirnglatze. Strom gibt es aus einer Steckdose unter der mit grauen Filzkissen gepolsterten Sitzbank; schwarze Lampen im trendigen Industrial-Look spenden Licht. Gerhard Ihrig wohnt in Groß Neuendorf, ein paar Kilometer entfernt, direkt an der Oder.
"Zu Hause kann ich auch sitzen und auch in meinem Büro, aber ich habe keinen entsprechenden Empfang über Internet. Ich habe vier MB und wenn Sie diese Pläne sehen und Videoanimationen dazu, da bin ich froh, dass es hier Coworking gibt, mit 40 MB und ich überhaupt etwas sehen kann." Mehr noch: Der Coworking Space in der denkmalgeschützten Alten Schule am Marktplatz von Letschin bietet sogar einen Beamer, auf dem Ihrig sich für einen Wettbewerb die Video-Animationen von Städten in Sibirien ansehen kann. "Und bin froh, dass ich hier diese Möglichkeit habe, weil ich sonst nicht kommunizieren könnte."
Provinz-Coworking für entnervte Großstädter
Geschäftsführer Torsten Kohn freut sich und kocht hinter der schicken kleinen Bar mit einer vernünftigen Espresso-Maschine einen Kaffee. So hat er sich das vorgestellt mit diesem Pilotprojekt der Wirtschaftsfördergesellschaft des Landkreises Märkisch-Oderland: Sieben Arbeitsplätze, Gemeinschaftsküche und ein Besprechungsraum. Das alles in Letschin, weil das 4.000-Einwohner-Städtchen im Zentrum des Oderbruches liegt. "Eine Alternative zum Homeoffice für Leute, die vielleicht gerade noch am Ausbau sind ihres Gehöfts oder ihres Grundstücks, die können sich dann hier hinsetzen. Eine Alternative zum Pendeln, vielleicht Leute, die jetzt hier schon rausgezogen sind und noch in Berlin arbeiten und einfach leid sind, immer nach Berlin reinzufahren." Die Haupt-Klientel fürs Coworking sind nämlich die vielen Hauptstädter, die entnervt von Menschenmassen und Mietsteigerungen scharenweise ins Oderbruch raus ziehen: In den äußersten Osten Brandenburgs, in Rufweite zur polnischen Grenze.
Sanft fließt die Oder dahin, der Grenzfluss zum Nachbarland. Jahrhundertelang war der Strom hier gefürchtet: Mehrmals im Jahr trat die Oder mächtig über die Ufer, überflutete ihr 60 Kilometer langes und bis zu 20 Kilometer breites Binnendelta, das Bruch, Mittelhochdeutsch für "Sumpf." Im 18. Jahrhundert wurde die Oder begradigt und eingedeicht. Der preußische König Friedrich II. ließ die Niederung trocken legen, gewann mehr als 30.000 Hektar fruchtbares Ackerland.
In der "Kornkammer Preußens" gründete Friedrich II. Dutzende neue Dörfer, wie Groß Neuendorf, wo Architekt Gerhard Ihrig wohnt. Hier in Letschin steht zum Dank für die Trockenlegung ein Denkmal des Preußenkönigs. Heute radeln Touristen auf den Oderdeichen bis an die Ostsee. Gleichzeitig ist die weite, friedliche Landschaft gut angebunden an Berlin: Von Seelow aus 50 Minuten mit der Regionalbahn. Für viele ist das nah genug, sagt Coworking-Geschäftsführer Torsten Kohn. "Das Oderbruch ist Heimat von vielen Berlinern mittlerweile geworden, viele Freiberufler, Freelancer, Neugründer, Aussteiger, alles sammelt sich zurzeit hier im Oderbruch."
Modellprojekt für die Brandenburger Peripherie
Gerhard Ihrig hat sich hier angesiedelt, weil die Flusslandschaft ihn an seine Kindheit am Rhein erinnert. Damals hat er sich von den Schleppkähnen mitziehen lassen, aus dem Alter ist Ihrig mittlerweile heraus. Und auch die vor langer Zeit gezähmte Oder sei für solche Spiele immer noch zu gefährlich, warnt Ihrig: tückische Strömungen. Ihrig genießt die Ruhe und Abgeschiedenheit im Oderbruch, die Natur und die Stille. immer mehr Menschen werden es ihm gleichtun, glaubt der Städteplaner. In Groß Neuendorf sei schon jeder zweite Einwohner ein Ex-Berliner. "Ja, ich finde, es ist eine Zukunft auf dem Land, denn man sieht die Entwicklung in München, die wird ja in Berlin nachgeholt werden mit den hohen Mieten, dass die Menschen, die am Computer arbeiten können, aufs Land ziehen können. Und dann fehlt natürlich ganz schnell die Schule, die Kita usw. Das ist eine Infrastruktur, die man erst geschlossen hat. Und ich denke, man wird nach und nach dazu kommen, die wieder zu öffnen."
Wenn der Coworking Space in Letschin sich bewährt, soll das Modell auch in anderen Städtchen und Dörfern der Brandenburger Peripherie ausprobiert werden. Das Pilotprojekt wird darum auch vom Bundeslandwirtschaftsministerium gefördert. Stichwort: Belebung des ländlichen Raumes. Die aus Berlin Geflohenen sollen nicht allein und isoliert auf ihren Gehöften sitzen, sie sollen sich zum Wohle der Region zusammen tun, wünscht sich Torsten Kohn, der in einem Nachbardorf von Letschin lebt. "Das ist eine der Hauptphilosophien von so Coworking Spaces ja eh, die Vernetzung von den Aktivisten, die hier schon vor Ort vielfältig, aber eben sehr verteilt, leben. Der Raum ist nicht nur dazu da, dass man jetzt hier arbeiten kann, sondern wir organisieren Seminare, wir bieten dann Räume für schon bestehende Netzwerke hier im Oderbruch, sei es Tourismus, seien es die Künstler-Netzwerke. Und ja, Letschin als Zentrum vom Oderbruch hat dann eben dahingehend doch einiges Potenzial."
Die ersten Kunden: Ein Architekt und eine Statikerin
"Ja, also ich hab jetzt erst mal sehr konzentriert hier gearbeitet und bin dann wieder gefahren, aber ich erhoffe mir natürlich auch noch weitere Gespräche, weil die Entwicklung hier im Oderbruch, die bedarf auch einiger Aktionen." Um die zu fördern bietet Kohn "Neusiedlerabende" bei Brot und Wein an. Das von einer Berliner Architektin mit grau-grünen Wänden und skandinavisch angehauchten Möbeln ebenso gemütlich wie modern gestaltete Gemeinschaftsbüro lockt mit Schließfächern für den Laptop, damit die Kundschaft nach der Arbeit mit dem Rad heim fahren kann. Der leckere Kaffee ist inklusive und es gibt einen Drucker, der auch scannt und faxt.
Auch wenn Torsten Kohn mal nicht da ist, haben die Nutzer dank eines Schlüsseltresors Zugang zu den Arbeitsplätzen. Man kann für zehn Euro ein Tagesticket kaufen oder für 100 Euro im Monat den Space 20 Mal nutzen. Fünf Leute kämen regelmäßig, erzählt Kohn: Darunter eine Statikerin mit einem ähnlich hohen Datenaufkommen wie Architekt Ihrig und eine Mediendesignerin, die hier eine Zeitschrift namens "Märkische Lebensart" heraus gibt. "Also ich denke, mit fünf Nutzern jetzt nach zwei Monaten ist es für den Raum hier Oderbruch schon gut. Das muss sich jetzt erst mal weiter rumsprechen, wir müssen noch weiter Angebote machen und ich denke, dass das Potenzial und der Bedarf da ist."
Neugier treibt die Leute rein
Als weiteres Angebot sind im Herbst Konzerte geplant, demnächst sollen eventuell Gruppen hier übernachten und eigene Seminare abhalten können. Auch Urlauber und Durchreisende sollen sich angesprochen fühlen. Und die alteingesessenen Letschiner seien natürlich auch willkommen, betont Kohn. "Wir sind ein öffentlicher Raum, wir bieten ja auch Veranstaltungen an für alle Letschiner, die nicht unbedingt jetzt hier nur zum Arbeiten rein wollen. Und dadurch, dass es die alte Schule ist, kennen natürlich ganz viele Letschiner noch die alte Schule, weil sie eben hier noch zur Schule gegangen sind. Also schon die Neugier treibt eine ganze Menge Leute dann hier rein."
Der Coworking Space nutzt die frühere Aula und das Lehrerzimmer der Schule von 1811. Im Obergeschoss gibt es einen weiteren großen Raum, in dem Wirtschaftsberater Maik Langer gerade die junge Unternehmensgründerin Martina Strehl coached. "Ich will als mobile Frisörin durchstarten im Reisegewerbe, hab mein kleines Auto und somit fahre ich zu den Kunden und die Kunden können sich wohlfühlen, können sich zurücklehnen und werden zu Hause schön gemacht." Die junge Frisörin aus dem Oderbruch kann sich durchaus vorstellen, ihre Büroarbeit in das Coworking zu verlagern, statt zu Hause auf dem Dorf am Küchentisch zu sitzen. "Weil, wenn mehr Leute sind, macht's mehr Spaß, als wenn man jetzt alleine ist, ne? Und man kann sich auch gegenseitig helfen."
"Die Nutzungsmöglichkeiten sind enorm hier. Ich hab das heute zum ersten Mal hier gesehen, ich hab das gar nicht gewusst, und das finde ich toll", sagt Wirtschaftsberater Maik Langer. Denn im Homeoffice seien viele Gründer zu sehr abgelenkt. "Sie bekommen hier eine Infrastruktur, die Unternehmer, sie bekommen einen Rechner, sie haben WLAN, ist alles mit Kosten erbunden, und sie bekommen mit dem Leiter dieses Coworking, Herrn Kohn, jemand an die Hand, der dann auch immer zur Seite steht. Ja, das ist so eine Arbeitsatmosphäre, die ist eben anders als zu Hause. Eine gewisse Struktur bekommen die Unternehmer und sie bekommen dann auch die Möglichkeit, über Netzwerkpartner Fragen sofort lösen zu können. Weil, der Herr Kohn verfügt ja über Netzwerkpartner, zum Beispiel Juristen, BWLer, er selber kann auch in bestimmten Fragen helfen, bin ich mir sicher."
Hier oben sind zwei weitere Räume vermietet: An eine Dachbaufirma, deren Chef auch gerne mal zum Kaffeetrinken und Quatschen runter ins Coworking kommt. Und an die Modedesignerin und Schneiderin Wilma Rippich. Die 38-Jährige ist eine so genannte Rückkehrerin: "1999 nach Berlin, dann 18 Jahre später wieder zurück, unbedingt wieder zurück ins Oderbruch, weil mich Berlin erschlagen hat: Zu viele Leute, zu viel Lärm, zu viel Dreck und zu viel Konkurrenz auch. Und jetzt hier hab ich jetzt meinen Traum wahrgemacht und mich selbstständig gemacht und ja, hier das gefunden, was ich jetzt hier habe mit den ganzen Leuten vom Coworking und das ist schön."