Moderne Klassikerin

Die Lyrik der Nobelpreisträgerin Nelly Sachs zählt zu den modernen Klassikern des 20. Jahrhunderts. Nun sind die ersten beiden Bände einer vierbändigen kommentierten Werkausgabe der Autorin erschienen: "Gedichte von 1940-50" und von "1950-1970".
Hans Magnus Enzensberger feierte Nelly Sachs 1957 als "größte Dichterin", die "heute in deutscher Sprache schreibt". Im Essay "Die Steine der Freiheit" fügt er erklärend hinzu:

"Ihrer Sprache wohnt etwas Rettendes inne. Indem sie spricht, gibt sie uns selber, Satz um Satz, was wir zu verlieren drohten: Sprache."

Enzensberger, aber auch Alfred Andersch und Peter Hamm richteten das Interesse der bundesdeutschen Öffentlichkeit auf das Werk einer Dichterin, die seit 1940 im schwedischen Exil lebte. Ihr Werk war in Deutschland kaum bekannt. 1891 in Berlin geboren, gelang der knapp 50-Jährigen die Flucht vor der NS-Rassenpolitik ins schwedische Exil.

Als 1961/62 auf Initiative Enzensbergers, der zu dieser Zeit als Lektor im Suhrkamp Verlag arbeitete, eine Ausgabe ihrer Lyrik und Szenischen Dichtung erschien, sah man sich mit einem poetischen Kosmos konfrontiert, dessen Ursprung singulär ist. Denn zur Veröffentlichung gab Sachs nur jene Texte frei, die ab 1940 entstanden waren. Das Fluchtjahr stellt eine Zäsur dar. Da beginnt der "Äon der Schmerzen". Jene "Durchschmerzung der Welt", die als poetische Chiffre fortan ihre Dichtung zentriert.

Auch die Herausgeber der vorliegenden Kommentierten Werkausgabe in vier Bänden - Aris Fioretos, Matthias Weichelt und Ariane Huml – folgen dieser Forderung. Im Nachwort des ersten Bandes, das sich als Einführung in die Lyrik der Nelly Sachs versteht, wird darauf explizit verwiesen.

"Erst durch die Zäsur der Vernichtung wurde Sachs zu der Schriftstellerin, als die sie sich selbst sehen wollte. Am Anfang war die Shoa."

Band 1 & 2 enthalten somit sämtliche zwischen 1940 und 1970 veröffentlichten Gedichte, einschließlich der von Bengt und Margaretha Holmquist nach Sachs' Tod herausgegebenen sog. "letzten Gedichte". Diese werden durch eine "repräsentative Auswahl unveröffentlichter Arbeiten" ergänzt.

Neben den bekannten Zyklen "In den Wohnungen des Todes" (1947) und "Sternverdunkelung" (1949), die ganz der Shoa verpflichtet sind sowie der Sammlung "Flucht und Verwandlung" (1959), in deren Zentrum das für Sachs so bedeutsame Motiv der Verwandlung steht und den Gedichten der letzten Schaffensperiode "Glühende Rätsel I-IV" (1962-66) und "Teile dich Nacht I-IV" (1971) erwartet den Leser erstmals ein Konvolut sog. "Zeitraum"- Gedichte. Diese erweitern thematisch wie formell das bislang bekannte Œuvre und geben Einblick in die enorme Intensität einer poetischen Sprachwerkstatt.

Ein sorgfältig erstellter Kommentarteil im Anhang der Bände gibt nicht nur eine hilfreiche und notwendige Orientierung durch die Perioden ihrer Dichtung – wobei neben dem Datum der Erstveröffentlichung auch auf weitere Textvarianten verwiesen wird. Ein spannendes Zeitfenster öffnet sich mit der klug eingefügten Korrespondenz.

So wird das 1957 entstandene Gedicht "In der Flucht welch großer Empfang", das Sachs 1966 zur Verleihung des Nobelpreises für Literatur las, durch Briefstellen an die befreundete Hilde Domin kommentiert. Nachdrücklich verweist Sachs darin auf die Grenzen der Erklärbarkeit von Dichtung. "Dies ist ja ein Gedicht und ein Geheimnis", schreibt sie 1965, und keine wissenschaftliche Abhandlung.

Besprochen von Carola Wiemers

Nelly Sachs: Gedichte 1940-1950
Kommentierte Ausgabe in vier Bänden. Hrsg. von Aris Fioretos. Bd. 1. Hrsg. von Matthias Weichelt. Suhrkamp Verlag 2010. 344 Seiten. 44 Euro.

Nelly Sachs: Gedichte 1950-1970
Bd. 2. Hrsg. von Ariane Huml und Matthias Weichelt. Suhrkamp Verlag 2010. 426 Seiten. 44 Euro.