"Moralisch fragwürdig"
Ab heute befasst sich das Verwaltungsgericht München mit dem Fall des US-Soldaten André Shepherd: Er hatte 2007 Asyl in Deutschland beantragt, weil er nicht in den Irak-Krieg zurück wollte. Wir fragen den Bundeswehrspezialisten Elmar Wiesendahl: Wieviel Gewissen darf ein Soldat eigentlich haben?
Früher schien es einfach: Soldaten waren Vaterlandsverteidiger und kämpften für eine gute Sache. In Zeiten von undurchschaubaren Bürgerkriegen und Drohneneinsätzen stehen sie allerdings immer häufiger vor der Frage: Ist es ethisch gerechtfertigt, was ich tue? Elmar Wiesendahl, emeritierter Professor an der Universität der Bundeswehr in München, sieht den Soldaten in einer "ethischen Grenzsituation":
"Er muss in einer existientellen Ausnahmesituation unter Umständen sein Leben lassen, er tötet (…). Und um dieses überhaupt zu rechtfertigen, braucht er in den verschiedenen Einsätzen eine ethisch fundamentierte Rechtfertigung."
Sich einem Befehl widersetzen, wenn er rechtswidrig ist
Diese müsse die Bundeswehr liefern. Er selbst habe allerdings Zweifel, so Wiesendahl, dass die innere Führung darauf ausreichend eingestellt sei:
"Bei heutigen Einsätzen ist es ja selbst so, dass unklar ist, auf wessen Seite man steht: Hat man die gute Seite, hat man die schlechte Seite? Es sind Bürgerkriegsparteien. Und in dieser Gemengelage muss der Einsatzsoldat seine Aufgaben verrichten - und das ist moralisch unter Umständen fragwürdig."
Bei Drohneneinsätzen werde es noch komplizierter: "Dann wird das Töten gewissermaßen abstrakt." Bei all dem gelte allerdings: Eine Armee funktioniere nur auf Befehl und Gehorsam. Ein Soldat müsse sich darauf verlassen können, dass der Befehl korrekt und mit seinem Gewissen vereinbar sei. Die Bundeswehr habe auch die Möglichkeit - und auch dies gehöre zur inneren Führung - sich einem Befehl zu widersetzen, "wenn erkennbar er rechtswidrig ist".
Das Interview im Wortlaut:
Dieter Kassel: Ab heute beschäftigt sich das Oberverwaltungsgericht in München voraussichtlich als letztes Gericht mit dem Fall des US-Soldaten Andre Shepherd, der vor neun Jahren in Deutschland Asyl beantragt hatte, weil er nicht zurück in den Irakkrieg kehren wollte. Auch die Bundeswehr schickt ihre Soldaten längst in Einsätze, in denen es nicht mehr darum geht, das eigene Land vor einem direkt territorial angreifenden Feind zu schützen, und so stellen sich auch hier Fragen nach der Rolle des eigenen Gewissens und der Pflicht, Befehle auszuführen.
Einige dieser Fragen wollen wir mit Elmar Wiesendahl klären. Er war unter anderem Professor an der Universität der Bundeswehr in München und Direktor des Fachbereichs Sozialwissenschaften der Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg, und seit 2010 ist er Geschäftsführer und Gesellschafter der Agentur für Politische Strategie. Schönen guten Morgen, Herr Wiesendahl!
Elmar Wiesendahl: Ich grüße Sie, Herr Kassel!
Kassel: Halten Sie es für grundsätzlich denkbar, dass ein Bundeswehrsoldat in einem fremden Land Asyl beantragt, weil er nicht in einen bestimmten Einsatz möchte?
Wiesendahl: Das ist grundsätzlich denkbar, aber widerspricht seiner Rolle, denn er hat den Auftrag, als Spezialist für Gewaltanwendung dies auch umzusetzen, allerdings im höheren Auftrag und moralisch gerechtfertigt.
Kassel: Man konnte früher, also vor 25 Jahren ungefähr das letzte Mal, ja einem Bundeswehrsoldaten einmalig und relativ einfach erklären, wozu die Bundeswehr da ist: Um die Bundesrepublik im Fall eines Angriffs, den man sich damals eigentlich nur von der Seite des Warschauer Pakts vorstellen konnte, zu verteidigen. Müsste man nicht eigentlich heute einem Soldaten bei jedem einzelnen Einsatz erklären, warum es den überhaupt gibt?
Wiesendahl: So ist es, denn der Soldat kommt in eine ethische Grenzsituation. Er muss ja in einer existentiellen Ausnahmesituation unter Umständen sein Leben lassen. Er tötet. Er wendet auf jeden Fall massive Gewalt an. Und um dieses überhaupt zu rechtfertigen, braucht er in den verschiedenen Einsätzen eine ethisch fundamentierte Rechtfertigung. Insofern ist das natürlich auch die Aufgabe der Bundeswehr, zu sagen, wofür gehst du dort hin, wofür kämpfst du dort unter Umständen?
Oft unklar, auf wessen Seite man steht
Kassel: Und wird die Bundeswehr dieser Aufgabe gerecht, Stichwort innere Führung – hat die sich an die neuen Gegebenheiten angepasst schon?
Wiesendahl: Ich hab da meine Zweifel. Die alte innere Führung war ja diejenige, zu sagen, der Soldat ist inmitten des Volkes. Er ist Vaterlandsverteidiger, er hält stand einer Bedrohung, und im Kriegsfall kämpft er für eine gute Sache. Bei heutigen Einsätzen ist es ja selbst so, dass unklar ist, auf wessen Seite man steht. Hat man die gute Seite? Hat man die schlechte Seite? Es sind Bürgerkriegsparteien, und in dieser Gemengelage muss der Einsatzsoldat seine Aufgaben verrichten, und das ist moralisch unter Umständen fragwürdig.
Kassel: Nun hat man ja bei moderner Kriegsführung, die manchmal auch so aussehen kann, dass jemand an einer Art Computerpult sitzt und eine Drohne bedient, bei moderner Kriegsführung den Eindruck, wir sind so weit, dass diejenigen, die töten, das gar nicht mehr sehen, und dass es für die aussieht wie ein Computerspiel. Die Bundeswehr selbst ist noch nicht ganz so weit, aber entsprechende Pläne gibt es ja. Wie sieht es da denn mit innerer Führung aus?
Wiesendahl: Noch komplizierter, denn dann wird das Töten gewissermaßen abstrakt. Es gibt Zielkoordinaten, die werden eingegeben in die Drohne, und die Drohne erreicht ihr Ziel und tötet – übrigens ohne Gerichtsverfahren, ohne zu beachten, ob es zivile Menschen gibt, die ebenfalls getötet werden. Das heißt, das ist eigentlich ein Tun, was moralisch grenzwertig ist.
Andererseits haben wir das ja längst gehabt. Nehmen Sie B-52-Bomber in Vietnam, die aus großer Höhe ihre Bomben abgeworfen haben und konkret ja nicht das Tun vor Augen hatten, das dadurch angerichtet wird. Das heißt, das Elementare – ich schaue dem Gegner in die Augen und werde verletzt oder töte ihn umgekehrt –, das erzeugt erst diese moralische Verwerfung, bis hin etwa zum Kameradentod, der auch extrem stark ethisch verletzt, weil man ja der Frage ausgesetzt ist, hättest du nicht verhindern können, dass dein Kamerad gestorben ist?
Zwei Motorradfahrer in Afghanistan: Attentäter oder Zivilisten?
Kassel: Wir haben das unter anderem letzten Sonntag im "Tatort" gesehen, ich weiß nicht, ob Sie den zufällig gesehen haben, aber es gibt ja solche Fälle auch in der Realität. Oft kann ein Soldat, der tatsächlich noch schießt oder mit anderen Waffen am Boden agiert, nicht einschätzen, gegen wen er kämpft, weil wir ja diese Kriegsführung – ein Land gegen das andere – so oft nicht mehr haben, dann kann es sein, dass ihm sein direkter Befehlshaber sagt, da sitzen zum Beispiel Terroristen.
Und er weiß es nicht, und am Ende stellt sich raus, der Befehl war an diesem Punkt auch gar nicht richtig. Solche Fälle hat es in der Realität gegeben. Dann werden Unschuldige getötet. Führt das nicht dazu, dass ein Soldat auch gezwungen ist, immer häufiger über Befehle nachzudenken, und sie nicht einfach nur auszuführen.
Wiesendahl: So ist es. Er wird immer vor die Frage gestellt, ist das, was ich tue, ethisch gerechtfertigt? Dient es einem höheren Zweck? Und er kommt aber dann in Gefechtssituationen hinein, die ja nicht regulär sind. Er wird angegriffen aus dem Hinterhalt. Er wird in eine enorme Gefahrensituation hineingestellt, und dann muss er sich wehren.
Und erst im Nachhinein kommt dann natürlich die Frage auf: War das, was du gemacht hast, moralisch korrekt, gerechtfertigt? Sehen Sie die Ausgangssituation etwa auch jetzt vor Kurzem in Afghanistan: Es wurden zwei Motorradfahrer getötet, da stellt sich erst im Nachhinein heraus, waren das wirklich eventuell Attentäter oder Zivilisten, die einfach missverstanden haben, die Situation, anzuhalten und sich kontrollieren zu lassen?
Kassel: Nun gibt es in der Bundesrepublik keine Wehrpflicht mehr, wir haben eine Berufsarmee inzwischen. Ist das gerade auch im Zusammenhang mit dem, worüber wir schon gesprochen haben in den letzten Minuten, eher ein Vorteil oder verschärft es das Problem noch?
Eine Armee funktioniert nur auf Befehl und Gehorsam
Wiesendahl: Der Trend geht hin zu kleinen, hochprofessionellen Armeen und nicht mehr zu Massenarmeen, die auf der Wehrpflicht beruhen. Gleichwohl: Auch der Spezialist, hochgerüstet, modernste Waffen, steht immer wieder vor dem Problem, ist das, was ich tue, was ja postheroisch betrachtet, moralisch verwerflich ist, ist das richtig? Habe ich den Rückhalt der Bevölkerung, sind meine Vorgesetzten auf meiner Seite? Und kriege ich Befehle, die sich moralisch auch rechtfertigen lassen?
Dieses Spektrum wird ja der moderne Einsatzsoldat als Spezialist nicht los. Überall, wo Soldaten kämpfen, stellt sich das existentielle Ausnahmeproblem, zu töten, getötet zu werden, in welcher Form auch immer, mit welchem Waffeneinsatz auch immer. Und insofern ist das auch für eine Berufsarmee nicht aus der Welt zu schaffen.
Kassel: Aber das Grundproblem, dass eine Armee, in der jeder Soldat selber entscheidet, ob ein Befehl richtig oder falsch ist, nicht funktionieren kann, das wäre ein Widerspruch an sich, dass andererseits aber ein Soldat ja auch nicht einfach sein Gewissen wegoperieren lassen kann vor dem Einsatz. Dieses Problem ist doch endgültig nicht lösbar, oder?
Wiesendahl: Das ist richtig. Eine Armee funktioniert nur auf Befehl und Gehorsam, wobei sich der Soldat darauf verlassen muss, dass der Befehl, der ja von oben kommt, korrekt ist und auch mit seinem Gewissen vereinbar. Das heißt, insofern ist natürlich auch, und das ist innere Führung, der Bundeswehr die Möglichkeit gegeben, auch einem Befehl sich zu widersetzen, wenn erkennbar er rechtswidrig ist oder gegen Grundelemente der inneren Führung verstößt.
Kassel: Elmar Wiesendahl, Geschäftsführer der Agentur für Politische Strategie und zuvor unter anderem Direktor des Fachbereichs Human- und Sozialwissenschaften der Führungsakademie der Bundeswehr. Herr Wiesendahl, ich danke Ihnen sehr für das Gespräch!
Wiesendahl: Ich danke Ihnen auch!
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