Moderne Künstler auf den Spuren des Mittelalters
Der Künstler Tizian gilt als führender Vertreter der venezianischen Malerei des 16. Jahrhunderts. Seine Gemälde sind aber noch heute eine Quelle der Inspiration: Künstler, Komponisten und Choreografen haben in London Ballettstücke entworfen, die auf drei seiner Werke basieren.
Plötzlich, entblößt wie sie waren, zerschlugen die Brust sich die Nymphen, / Vor dem gesehenen Mann; von schleunigem Jammergeheul scholl / Rings umher das Gehölz; und sie stürzten sich all um Diana / Schützend mit eigenem Leibe die Herrscherin: Aber sie selber / Ragte vor allen empor mit überschauendem Antlitz.
So schildert der römische Dichter Ovid in seinen "Metamorphosen" eine der tragischsten Episoden der griechischen Mythologie: Nach der Jagd streift der junge Aktäon allein durch den Wald und stößt dabei auf die badende Jagdgöttin Artemis, die römische Diana. Die Göttin errötet und bespritzt Aktäon mit Wasser. Daraufhin verwandelt sich der Eindringling in einen Hirsch und wird von seinen eigenen Hunden zerfleischt.
Tizian hielt die Szene fest in seinem Gemälde "Aktäon überrascht Diana beim Bade". Drei Jahre - 1556 bis 59 - malte der Renaissance-Meister, im Auftrag Philipp II. von Spanien, an diesem und zwei weiteren Bildern einer Diana-Trilogie: "Der Tod des Aktäon" und "Diana und Callisto".
Mythos, Dichtung, Malerei: Wie beim Staffellauf wird da ein Motiv weitergereicht durch die Kultur-, Literatur- und Kunstgeschichte; ein Motiv, das sich aufdrängt zur metamorphischen Reinkarnation in verschiedenen Genren, das Motiv der Transgression und des Tabubruchs.
Ein Staffellauf der Kreatitivät - das ist "Metamorphis: Titian 2012", ein Gemeinschaftsprojekt von National Gallery und der Ballettabteilung der Royal Opera. Die Idee war: Drei bildende Künstler, drei Komponisten und sieben Choreografen sollten sich inspirieren lassen von Diana und Aktäon, von Ovid und von Tizian - zu multi- und interdisziplinären Grenzüberschreitungen auf künstlerisches Neuland.
Das ganze mündet in einen Doppelgipfel der Künste: Tizian und seine Epigonen am Trafalgar Square und in Covent Garden die Aufführung drei neuer Ballettstücke an einem Abend. Die Künstler sind: Conrad Shawcross und die Turner-Preisträger Chris Ofili und Mark Wallinger. Sie schufen eigene Arbeiten, und sie entwarfen die Bühnenbilder für das Ballett und die Kostüme für die Tänzer.
Shawcross verwandelt Tizians zur Momentaufname erstarrte Bilddramatik in ein Perpetuum Mobile. In seiner Installation unter Glas ist Aktäon zum Geweih und Diana zum Roboter-Alien mutiert, dessen metallener Arm das Opfer prüfend abtastet. "Trophäe" nennt der Künstler seine Arbeit:
"Dianas Sinnlichkeit ist die Sensualität der Kälte. Sie ist absolut gefühlslos. Aktäon muss sterben, nur weil er die Göttin nackt beobachtet hat. Sie ist brutal und kennt keine Gnade."
Mark Wallinger verlegt Dianas Grotte in einen abgedunkelten Raum. In dessen Mitte steht ein schwarzer Quader, der sich als Zimmer entpuppt. Zwei Milchglasfenster und winzige Gucklöcher machen neugierig, denn dahinter tut sich was! Man tritt näher und sieht: Ein lebendes Model räkelt sich nackt in der Badewanne. Wallingers Peepshow macht uns zu Voyeuren. Titel seiner Live-Installation: "Diana".
"Tizians Gemälde sind hocherotisches Material. Auch bei ihm geht es um Voyeurismus und das unerlaubte Hinsehen. Die Peepshow ist da doch das ideale zeitgenössische Pendant. Die ganze Galerie ist voller weiblicher Nacktheit, warum also nicht auch hier!"
Chris Ofili ist der einzige Maler im Künstler-Trio. In sieben großformatigen allegorischen Bildern in Öl und Kohle transponiert er den Mythos in die Wälder seiner Wahlheimat Trinidad. Die Gemälde strotzen vor Fruchtbarkeitssymbolik und Laszivität und erinnern an Blake und Gauguin.
Auf den multidisziplinären Aspekt des Projekts verweisen in der Ausstellung auch die Videoeinspielungen von den Ballettproben. Und nebenan läuft ein Film, in dem Lyriker ihre zum Thema gehörenden Verse rezitieren, wie hier der irische Nobelpreisträger Seamus Heaney mit seinem Gedicht "Aktäon".
Spiegelungen, Querverbindungen und Dialoge zwischen Künstlern aufzuzeigen und zu ermöglichen, das war schon immer das Anliegen der National Gallery, sagt die Kuratorin dieser Schau, Minna Moore Ede:
"Konversationen zwischen, sagen wir, Velázquez und Tizian oder zwischen Turner und Claude. Insofern tragen wir hier nur eine neue Schicht wechselseitiger Reaktionen auf. Die Begegnung mit und die Interaktion zwischen Künstlern entspricht ganz dem Selbstverständnis der Galerie."
Seit Anfang des Jahres befinden sich die drei Tizians komplett im Besitz der Londoner und der schottischen Nationalgalerien. Geschätzter Gesamtwert der Bilder: gut 100 Millionen Pfund.
Auch das wird hier gefeiert: Nicht nur der Venezianer als Inspirationsquelle, sondern die Tatsache, dass seine Werke aus dem Besitz des Herzogs von Sutherland nicht ins Ausland abgewandert sind. Ermöglicht wurde die erfolgreiche Jagd auf die Tizians nicht zuletzt dank massiver Spendenaktionen. Und mit Tizian, einem Olympier der Malerei, bedankt man sich jetzt - im Olympiajahr - beim Publikum.
Am 16. Juli tanzt Tizian in Covent Garden und auf der Großleinwand am Trafalgare Square. Und ein Mythos bleibt lebendig.
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Metamorphosis: Titian 2012
National Gallery
11.7.-23.9.2012
So schildert der römische Dichter Ovid in seinen "Metamorphosen" eine der tragischsten Episoden der griechischen Mythologie: Nach der Jagd streift der junge Aktäon allein durch den Wald und stößt dabei auf die badende Jagdgöttin Artemis, die römische Diana. Die Göttin errötet und bespritzt Aktäon mit Wasser. Daraufhin verwandelt sich der Eindringling in einen Hirsch und wird von seinen eigenen Hunden zerfleischt.
Tizian hielt die Szene fest in seinem Gemälde "Aktäon überrascht Diana beim Bade". Drei Jahre - 1556 bis 59 - malte der Renaissance-Meister, im Auftrag Philipp II. von Spanien, an diesem und zwei weiteren Bildern einer Diana-Trilogie: "Der Tod des Aktäon" und "Diana und Callisto".
Mythos, Dichtung, Malerei: Wie beim Staffellauf wird da ein Motiv weitergereicht durch die Kultur-, Literatur- und Kunstgeschichte; ein Motiv, das sich aufdrängt zur metamorphischen Reinkarnation in verschiedenen Genren, das Motiv der Transgression und des Tabubruchs.
Ein Staffellauf der Kreatitivät - das ist "Metamorphis: Titian 2012", ein Gemeinschaftsprojekt von National Gallery und der Ballettabteilung der Royal Opera. Die Idee war: Drei bildende Künstler, drei Komponisten und sieben Choreografen sollten sich inspirieren lassen von Diana und Aktäon, von Ovid und von Tizian - zu multi- und interdisziplinären Grenzüberschreitungen auf künstlerisches Neuland.
Das ganze mündet in einen Doppelgipfel der Künste: Tizian und seine Epigonen am Trafalgar Square und in Covent Garden die Aufführung drei neuer Ballettstücke an einem Abend. Die Künstler sind: Conrad Shawcross und die Turner-Preisträger Chris Ofili und Mark Wallinger. Sie schufen eigene Arbeiten, und sie entwarfen die Bühnenbilder für das Ballett und die Kostüme für die Tänzer.
Shawcross verwandelt Tizians zur Momentaufname erstarrte Bilddramatik in ein Perpetuum Mobile. In seiner Installation unter Glas ist Aktäon zum Geweih und Diana zum Roboter-Alien mutiert, dessen metallener Arm das Opfer prüfend abtastet. "Trophäe" nennt der Künstler seine Arbeit:
"Dianas Sinnlichkeit ist die Sensualität der Kälte. Sie ist absolut gefühlslos. Aktäon muss sterben, nur weil er die Göttin nackt beobachtet hat. Sie ist brutal und kennt keine Gnade."
Mark Wallinger verlegt Dianas Grotte in einen abgedunkelten Raum. In dessen Mitte steht ein schwarzer Quader, der sich als Zimmer entpuppt. Zwei Milchglasfenster und winzige Gucklöcher machen neugierig, denn dahinter tut sich was! Man tritt näher und sieht: Ein lebendes Model räkelt sich nackt in der Badewanne. Wallingers Peepshow macht uns zu Voyeuren. Titel seiner Live-Installation: "Diana".
"Tizians Gemälde sind hocherotisches Material. Auch bei ihm geht es um Voyeurismus und das unerlaubte Hinsehen. Die Peepshow ist da doch das ideale zeitgenössische Pendant. Die ganze Galerie ist voller weiblicher Nacktheit, warum also nicht auch hier!"
Chris Ofili ist der einzige Maler im Künstler-Trio. In sieben großformatigen allegorischen Bildern in Öl und Kohle transponiert er den Mythos in die Wälder seiner Wahlheimat Trinidad. Die Gemälde strotzen vor Fruchtbarkeitssymbolik und Laszivität und erinnern an Blake und Gauguin.
Auf den multidisziplinären Aspekt des Projekts verweisen in der Ausstellung auch die Videoeinspielungen von den Ballettproben. Und nebenan läuft ein Film, in dem Lyriker ihre zum Thema gehörenden Verse rezitieren, wie hier der irische Nobelpreisträger Seamus Heaney mit seinem Gedicht "Aktäon".
Spiegelungen, Querverbindungen und Dialoge zwischen Künstlern aufzuzeigen und zu ermöglichen, das war schon immer das Anliegen der National Gallery, sagt die Kuratorin dieser Schau, Minna Moore Ede:
"Konversationen zwischen, sagen wir, Velázquez und Tizian oder zwischen Turner und Claude. Insofern tragen wir hier nur eine neue Schicht wechselseitiger Reaktionen auf. Die Begegnung mit und die Interaktion zwischen Künstlern entspricht ganz dem Selbstverständnis der Galerie."
Seit Anfang des Jahres befinden sich die drei Tizians komplett im Besitz der Londoner und der schottischen Nationalgalerien. Geschätzter Gesamtwert der Bilder: gut 100 Millionen Pfund.
Auch das wird hier gefeiert: Nicht nur der Venezianer als Inspirationsquelle, sondern die Tatsache, dass seine Werke aus dem Besitz des Herzogs von Sutherland nicht ins Ausland abgewandert sind. Ermöglicht wurde die erfolgreiche Jagd auf die Tizians nicht zuletzt dank massiver Spendenaktionen. Und mit Tizian, einem Olympier der Malerei, bedankt man sich jetzt - im Olympiajahr - beim Publikum.
Am 16. Juli tanzt Tizian in Covent Garden und auf der Großleinwand am Trafalgare Square. Und ein Mythos bleibt lebendig.
Metamorphosis: Titian 2012
National Gallery
11.7.-23.9.2012