Moderne Physik und Magie

Ulrich Woelks Romane nähren sich oft aus dem naturwissenschaftlichen Inspirationsfeld. Sein aktuelles Werk führt einen großen österreichischen Physiker im Titel. "Schrödingers Schlafzimmer" ist ein intelligent konstruierter Unterhaltungsroman. Der Autor versteht es, eine suggestive Spannung aufzubauen, die mit Leichtigkeit über die 300 Seiten des kurzweiligen Romans trägt.
Unser Weltbild hat sich in den letzten hundert Jahren grundlegend geändert. Noch um 1900 war die Naturwissenschaft das Reich der hehren Rationalität, in dem Mythen, Übernatürliches und das Reich der Religion keinen Platz hatten. Heute hat sich die Situation um 180 Grad gedreht, ist die Naturwissenschaft längst wieder mythenbildend geworden.

Seit der Relativitätstheorie und der Quantenmechanik, die maßgeblich durch den österreichischen Physiker Erwin Schrödinger geprägt wurde, bevölkern unsere Vorstellungswelt Phänomene wie ein Urknall, schwarze Löcher, weiße Zwerge, Raum-Zeit-Krümmungen, Welle-Teilchen-Zwitter und ähnliches. Der Schweizer Astrophysiker Bruno Binggeli hat sogar jüngst die These aufgestellt, daß unser Weltbild viel mehr mit dem des Hochmittelalters zu tun habe, als mit dem um 1900. Auf die Belletristik hat die Naturwissenschaft schon seit einigen Jahrzehnten eine inspirierende Kraft wie früher die Mythologie.

Der 1960 geborene Autor Ulrich Woelk arbeitete vor seiner literarischen Karriere als Astrophysiker und seine bislang acht Romane, die er vorlegte seit er mit seinem Debüt "Freigang" 1990 den aspekte-Literaturpreis gewann, nähren sich oft aus dem naturwissenschaftlichen Inspirationsfeld. Sein aktueller Roman führt den großen österreichischen Physiker im Titel: In "Schrödingers Schlafzimmer", einem intelligent konstruierten Unterhaltungsroman, stellt sich der neue Nachbar in einem Berliner Vorort als Enkel Schrödingers vor.

Den Familienvater Oliver ist sofort verunsichert durch den charismatischen Mittfünfziger, der von sich behauptet, Zauberer zu sein und offenbar als Homme à femmes über ungeahnte Qualitäten verfügt. Olivers und Dos zwölfjährige Ehe ist in der Krise, und so entspinnen sich ungute Schwingungen von Eifersucht. Ulrich Woelk schreckt nicht vor derber, kalauernder Sprache zurück, etwa wenn er die Aktsitzungen von Oliver, der Hobby-Zeichner von einiger Begabung ist, und seiner Frau Do beschreibt: "Die Kunst: ein Vorspiel. Eine Hommage an ihren Körper mit allen feuchten Pinseln, die ihm zur Verfügung standen."

Aber Woelk versteht es, um das geheimnisvolle Schlafzimmer Balthasar Schroedingers eine suggestive Spannung aufzubauen, die mit Leichtigkeit über die 300 Seiten des kurzweiligen Romans trägt. Offenbar bildet sich im kollektiven Bewußtsein eine inspirierende Melange aus moderner Physik und Magie. Das berühmte Gedankenexperiment von Erwin Schrödinger, "Schrödingers Katze" genannt, bildet die konstruktive Grundstuktur des Romans. Der eine Ehepartner phantasiert sich hinein, der andere betritt es tatsächlich, bereit zum Ehebruch.

Allerdings läßt sich letztlich die Konstruktion des Romans nicht wirklich auf ihr Sujet ein – Naturwissenschaft und Alltagswelt. Die redseligen Vorträge des Schrödinger-Enkels wirken leider wie esoterische Erbauungsprosa und es ist nicht ersichtlich, daß der Roman das Niveau seines skurrilen Protagonisten wirklich transzendieren könnte. Am Ende siegt die Macht der Phantasie, deren bester Fürsprecher der Schrödinger-Enkel ist, und führt die Ehepartner wieder zusammen.

Bedauerlich ist, daß der putzige Einfall, den Kapiteln jeweils zur Anzeige der Kapitelnummer ein magisches Quadrat (aus Dürers berühmtem Holzstich) voranzustellen, bereits vor einem Jahr von der Autorin Sibylle Lewitscharoff in ihrem Roman "Consummatus" verwirklicht wurde – dort übrigens mit einer viel intensiveren Einbindung in die Konstruktion des Romans.

Die allzu direkte Applizierung der naturwissenschaftlichen Absonderlichkeiten als mutmaßlicher Lebensweisheit auf den Lebensalltag versickert eben leicht in dürftigen Analogien, wie es leider auch bisweilen in "Schrödingers Schlafzimmer" passiert. Aber alles in allem kann man den Roman als intelligente und unterhaltsame Lektüre für einen durchaus gelungenen Lesenachmittag empfehlen.

Rezensiert von Marius Meller


Ulrich Woelk: Schrödingers Schlafzimmer
dtv, München 2006, 300 Seiten, 14,50 Euro