Israels stille Rebellinnen
Ihre Rolle ist zwiespältig: Die Herausforderungen, vor denen ultraorthodoxe Frauen in Israel stehen, sind durchaus widersprüchlich. Lissy Kaufmann hat sich auf Spurensuche zwischen traditionellem Verständnis von Religion und Aufgaben eines modernen Lebens gemacht.
Bnei Brak, eine ultraorthodoxe Stadt vor den Toren Tel Avivs. Rund 150.000 Menschen leben hier, die meisten von ihnen nach streng religiösen Regeln. Der Kontakt zwischen Männern und Frauen, die nicht miteinander verheiratet sind, ist tabu. Die besonders religiösen Männer schauen weg, wenn ihnen eine Frau begegnet. Werbeplakate, auf denen Frauen abgebildet sind und die sonst in anderen Städten Israels zu sehen sind, sucht man hier vergebens. Und die Verbannung der Frauen aus dem öffentlichen Leben nimmt an Orten wie diesen immer weiter zu.
Geschlechtertrennung im Bus – die Frauen sitzen hinten
In bestimmten Buslinien des Landes, die durch religiöse Viertel führen, herrscht heutzutage Geschlechtertrennung – und Frauen sollen hinten sitzen. In den vergangenen Jahren hat dies immer wieder zu Aufständen von Menschrechts- und Frauengruppen geführt. Rein rechtlich herrscht freie Platzwahl.
Doch faktisch kommt es immer wieder zu verbalen Aufforderungen oder gar Beleidigungen. Der soziale Druck für die Frauen ist hoch, sich an die freiwillige Regel zu halten.
"Es gibt mittlerweile sogenannte Mehadrin Busse, züchtige religiöse Buslinien. In einem Mehadrin Bus müssen Frauen hinten sitzen. Es ist das Symbol eines weitläufigen Ziels, uns zum Schweigen zu bringen, uns von den Orten fernzuhalten, wo Entscheidungen getroffen werden. Dahinter steckt dasselbe, wie wenn Frauen nicht unter ihrem Frauennamen für orthodoxe Zeitungen schreiben dürfen oder Bilder von Frauen verbannt werden."
Sagt Estee Rieder, die als Rebellin unter den orthodoxen Frauen gilt.
In ihrer letzten Seminarstunde des Semesters haben die Studentinnen am Campus Lustig in Ramat Gan Überraschungsbesuch bekommen: Eine junge Start-up Gründerin aus der Nachbarstadt Tel Aviv erklärt den rund 20 jungen Frauen, wie sie in Berufsnetzwerken wie Linkedin ein Profil anlegen, sich vorteilhaft, aber züchtig präsentieren und das Internet für die Jobsuche nutzen.
"Hier entwickelt sich ein neuer Typ von Superfrauen"
Doch diese jungen Frauen machen auch Karriere: Immer mehr von ihnen studieren Computerwissenschaften, Betriebswirtschaftslehre oder Ingenieurswesen, wie hier am Campus Lustig, der zum Jerusalem College of Technology gehört.
"Hier entwickelt sich ein neuer Typ von Superfrauen. Mit ihrem Abschluss werden sie überall akzeptiert. Anfangs bestehen vielleicht Zweifel. Deswegen arbeiten die Studentinnen an Projekten direkt in Firmen, in einer Buchhaltungsabteilung oder in Hightech-Firmen. Und wenn die erst einmal sehen, dass die Frauen mit Leib und Seele bei der Sache sind. Denn schon aus religiösen Gründen können sie nicht einfach zwischendurch mal gehen und ihre Einkäufe erledigen. Aus religiösen Gründen müssen sie tüchtig sein. Es gibt ein Gebot, dass man seinem Arbeitgeber nichts von der Zeit stehlen darf, in der man für sein Gehalt arbeiten soll. "
Dozentin Regine Hoffmann ist selbst religiös. Sie hat heute den Überraschungsbesuch in ihrer Englischstunde organisiert.
Hier, in diesem unscheinbaren alten Schulgebäude inmitten eines ruhigen Wohnviertels, findet eine kleine Revolution statt. Orthodoxe Frauen werden auf das Berufsleben und damit auf die Arbeit in säkularen Firmen vorbereitet. Die religiösen Gebote werden dennoch eingehalten. Auch Religionsunterricht steht deshalb auf dem Plan. Jeden morgen lehrt ein Rabbi die Thora. Erst danach wird gerechnet, bilanziert und programmiert.
Dass ultraorthodoxe Frauen studieren und arbeiten, ist nicht neu. Rund 71 Prozent von ihnen haben einen Job. Sie sind es, die die Familie ernähren, während ihre Männer ganztags in der Thoraschule die heiligen Schriften lernen. Doch die Fächer, die die rund 500 ultraorthodoxen Frauen hier studieren, wären noch vor wenigen Jahren nahezu undenkbar gewesen.
"Bis vor 10, 15 Jahren haben die streng religiösen Mädchen ausschließlich auf Lehramt studiert, das war Tradition. Aber es gibt einfach nicht so viele freie Stellen für Lehrerinnen. Man brauchte Alternativen, um Geld zu verdienen. Es gibt Berufsfelder, die nicht geeignet sind. Aber Computer, Wirtschaft und Kalkulationen sind sehr gut geeignet. Sie widersprechen den jüdischen Gesetzen nicht."
Rabbi Zvi Ilani, ein älterer Mann mit weißem, langen Bart und Kippa, ist der Direktor. Er ist einer der wenigen Männer hier im Gebäude. Campus Lustig ist eine reine Frauenhochschule, denn die religiösen Regeln verbieten zu engen Kontakt zwischen den Geschlechtern.
Lange galt das Internet als "Teufelszeug"
An diesem letzten Semestertag sitzt Rabbi Zvi Ilani im Büro vor seinem Computer und bereitet die neuen Lehrpläne vor. Das Internet galt in der Welt der Religiösen lange Zeit als Teufelszeug. Doch wer Webseiten programmiert oder Apps entwickelt, muss sich ganz selbstverständlich mit der digitalen Welt beschäftigen. Für die Ultraorthodoxen eine Herausforderung, aber kein Hindernis.
"Wir müssen zwischen der Technik und den Inhalten des Internets unterscheiden. Junge Leute sehen das Internet oft als Unterhaltung. Aber hier ist der Computer kein Spielzeug, es geht uns nicht um soziale Netzwerke. Für uns und für die jüdischen Mädchen ist das Internet eine Technologie. Darum geht es, nicht um irgendwelche Bilder, die es zu sehen gäbe. Sie entwickeln hier Technologie."
In den Pausen zwischen den Seminaren plaudern die Studentinnen, ruhen sich kurz aus. Das Leben der Frauen ist streng durchgetaktet: Haushalt, Familie, Studium, Arbeit, dazwischen wird gebetet. Anders wäre das für Studentinnen wie Sharona Zalmanov schon rein zeitlich gar nicht möglich. Die 26-Jährige ist Mutter von drei Kindern, die wenige Wochen alte Tochter hat sie in den Unterricht mitgebracht. Am Campus Lustig ist das erlaubt.
"Ich habe zunächst angefangen, Sonderpädagogik zu studieren und im zweiten Jahr dann zusätzlich ein Studium der Betriebswirtschaftslehre begonnen. Ich war morgens an der Hochschule für Pädagogik und abends hier. Am Ende des zweiten Jahres habe ich geheiratet. Damit wir am Schabbat ruhen können, bereite ich unter der Woche alles vor, wasche die Wäsche. Ich teile mir alles ein, mache von allem immer zwischendurch etwas."
In einem Hotel in Jerusalem herrscht an diesem Vormittag großer Andrang. Gut 600 ultraorthodoxe Frauen sind zur jährlich stattfindenden Temech-Konferenz gekommen. Sie alle sind erfolgreiche Unternehmerinnen – sie leiten Werbeagenturen, entwerfen als Designerinnen züchtige Mode oder produzieren Software.
Die Software-Expertin ist 41 – und hat zehn Kinder
So wie Tikva Schmidt. Mit der Laptoptasche unterm Arm schlängelt sie sich durch die Gänge, nimmt Broschüren mit und hört sich an, wie andere Frauen es geschafft haben. Tikva Schmidt ist Gründerin und Geschäftsführerin des Start-ups Tide Technology. Sie beliefert Unternehmen weltweit mit maßgeschneiderten Softwaresystemen. Als Karrierefrau würde sich Tikva aber nicht bezeichnen:
"Wir sprechen hier nicht von Karriere, sondern von Parnasa. Das bedeutet Lebensunterhalt. Es ist etwas ganz anderes, ob jemand dem Geld hinterherjagt oder ob er arbeitet, um seine Familie zu ernähren. Das heißt ja nicht, dass man nicht das meiste aus seiner Arbeit herausholen oder seinen Kindern etwas bieten möchte. Wenn sich das Thorastudium und das Geldverdienen widersprechen würden, wäre das ein Problem. Aber keiner hat gesagt, dass man seine Familie nicht unterstützen darf."
Und die Familie ist groß. Tikva Schmidt hat zehn Kinder, die jüngste Tochter ist wenige Monate alt, die älteste bereits verheiratet. Die 41-Jährige ist Vorreiterin: Während ihres Studiums an der Hebräischen Universität in Jerusalem gab es außer ihr nur ganz wenige ultraorthodoxe Studentinnen. Heute hat sie gelernt, sich in der säkularen Welt zurechtzufinden, und dabei trotzdem die religiösen Vorschriften einzuhalten.
"Die haben definitiv Einfluss darauf, wie wir uns verhalten und uns kleiden, wie wir das Haus verlassen, wie wir mit Anderen umgehen. Ich habe siebeneinhalb Jahre für ein Unternehmen gearbeitet, in dem ich die einzige Religiöse und in meiner Abteilung sogar die einzige Frau war. Alle wussten das, und sie haben mich respektiert."
Tikvas Start-up ist eines von zahlreichen neuen Hightech-Unternehmen, die vorrangig religiöse Frauen anstellen. Gleichzeitig unterstützen Organisationen wie Temech die Frauen: nicht nur mit dieser Konferenz, sondern auch mit persönlichem Coaching, Workshops, Rechts- und Finanzberatung.
"Ich glaube, was viele Frauen verstanden haben, ist: Wenn wir schon das Haus verlassen, warum soll wir nicht auch Freude daran haben? Warum nicht ein besseres Einkommen erzielen? Das hat finanzielle und emotionale Vorteile: Der finanzielle Vorteil ist: Du kannst diese ständige Spannung zwischen der Arbeit und dem Haushalt besser überleben, wenn du dir Unterstützung leistest. Einen Wäschetrockner, eine Spülmaschine oder sogar eine Putzfrau. Dann kannst du die Zeit zu Hause nämlich für die Kinder nutzen."
Die Thora sagt: Die Frau versorgt ihren Ehemann
Bisher hat die Emanzipation nur die Berufswelt erreicht. Nach wie vor sind die Frauen zuständig für die Kindererziehung und den Haushalt. Noch immer gilt ein altes Gesetz aus der Thora: Die Aufgabe der Frau ist es, ihren Ehemann zu versorgen und ihm den Rücken freizuhalten.
"Wenn du ein niedriges Einkommen hast, bist du weder hier noch dort: Du bist nicht zu Hause, dein Heim ist unordentlich, du hast keine Zeit für die Kinder, und wenn du die Kinderbetreuung bezahlt hast, bleibt am Ende kein Geld übrig. Der emotionale Vorteil ist: Wenn eine Frau das Haus verlässt und dabei zufrieden ist, kommt sie erfüllt nach Hause, sie fühlt sich wohl mit ihrem Leben. Und viele Frauen sagen: In dem Moment, wo sie das Haus verlassen, fällt es ihnen plötzlich leichter, sich um den Haushalt zu kümmern."
In einem Seminar an der Universität in Tel Aviv erklärt Estee Rieder säkularen Studenten die Organisation "Lo nivchrot, lo bochrot" "Wenn wir nicht gewählt werden können, wählen wir auch nicht". Es war der Aufstand ultraorthodoxer Frauen.
Bei der letzten Knessetwahl im März 2015 haben die Mitglieder dieser Frauengruppe keine Stimme abgegeben, aus Protest gegen die Haltung religiöser Parteien wie "Shas" und "Vereinigtes Thora-Judentum", die keine Frauen aufnehmen. Denn das politische Parkett, sagen die Vertreter der Ultrareligiösen, sei nicht der richtige Ort für Frauen.
Für die Frauen hat das zur Folge, dass bestimmte Themen vernachlässigt werden – zum Beispiel wenn es um Frauengesundheit geht. So wurde im vergangenen Jahr in einem Ausschuss zur Gesundheit ultraorthodoxer Frauen das Thema Brustkrebs von männlichen Knesset-Abgeordneten der Parteien ignoriert. Die Folgen solchen Verhaltens sind fatal: Denn die Wahrscheinlichkeit, dass orthodoxe Frauen an Brustkrebs sterben, ist doppelt so hoch wie beim Durchschnitt der Bevölkerung – weil das Wort "Brust" für viele Ultraorthodoxe unzüchtig ist und das das Thema Brustkrebs ignoriert wird. Frauen wie Estee Rieder sind deshalb überzeugt, dass sie zukünftig dringend ein Wörtchen mitsprechen müssen.
Estee zeigt einen Ausschnitt aus einem Dokumentarfilm über die Frauen und ihrer Arbeit vor der Knessetwahl, wie sie Flugblätter verteilten, Plakate aufhängten und dabei heftig beschimpft wurden. Die Dozentin geht gerne an ihre Grenzen: Sie trägt eine rosafarbene Bluse und farblich passenden Nagellack, der Rock reicht nur knapp über die Knie.
"Ich habe mich verändert, ich wurde zur Feministin, mir wurde die Stellung der Frau bewusst und das hat mein Leben komplett verändert. Vor zwei, drei Jahren habe ich mich noch dafür eingesetzt, die ultraorthodoxe Lebenswelt zu erklären und die Streitigkeiten zwischen den Religiösen und Säkularen zu beenden. Dann aber kam ich mit anderen ultraorthodoxen Frauen zusammen, wir saßen in einem feuchten Kellerraum in Bnei Brak und sprachen über unsere Erfahrungen. Daraus wurde eine starke, feministische Bewegung. Meine Denkweise und mein Kampf für die Frauen sind radikaler geworden."