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"Das Volk allein ist unverfälscht…"
Ein Riesenreich, kaum zu regieren. Ein Herrscher, stark nach außen, wankelmütig nach innen, getrieben von Schuldgefühlen. Derweil umkreisen machtgierige Intriganten den Thron: "Boris Godunow" von Modest Mussorgskij ist die russische Oper schlechthin – und ein Polit-Thriller, der nichts von seiner Aktualität verloren hat.
In vier Minuten zum Wahnsinn: Die Zuschauer waren hingerissen und besorgt gleichermaßen, als Fjodor Schaljapin 1908 in Paris den Boris Godunow sang. Mit seiner geradezu beängstigend realen Darstellung machte der berühmte russische Bassbariton die gleichnamige Oper von Modest Mussorgskij auf einen Schlag in Westeuropa bekannt. Der Coup ging auf den Mäzen und Impresario Sergej Diaghilew zurück, der spürte, dass das französische Publikum russische Glockenklänge und prächtig inszenierte Massenszenen wie eine kostbare Kolonialware zu konsumieren bereit war. So ebnete "Boris Godunow" auch den Weg für die "Ballets russes", die in Paris kurz darauf mit den Skandalerfolgen des jungen Igor Strawinsky von sich reden machten.
Zwischen Iwan dem Schrecklichen und den Romanows
Ein solcher Erfolg war zunächst nicht absehbar gewesen. Nach der Urfassung (1868-70) schrieb Mussorgskij an "Boris Godunow" bis zu seinem Tod 1881 weiter, um verschiedenen Wünschen und Aufforderungen nachzukommen. Somit ist die Werkgeschichte kaum weniger verworren als die Handlung, die auf ein Theaterstück von Alexander Puschkin (1825) zurückgeht. Puschkins Drama beruht wiederum auf realen Begebenheiten der russischen Geschichte zwischen 1598 und 1605, zwischen Iwan dem Schrecklichen und dem ersten Zaren aus der Romanow-Dynastie.
Von Schaljapin zu Terfel
Seit jener denkwürdigen Pariser Produktion kommt man um Schaljapins Interpretation nicht herum, zumal aus späterer Zeit auch Tondokumente überliefert sind, auf denen Schaljapin den unglücklichen Zaren nicht nur als Gewaltmenschen, sondern auch als zerbrechlichen Sünder interpretiert – und nebenbei noch die Partie des Mönchs Warlaam singt. Wann immer einer der führenden Sänger dieses Fachs sich den Boris aneignet, wird es spannend – etwa in der Deutschen Oper Berlin, wo sich jetzt Sir Bryn Terfel die Ehre geben wird.
Nicht aus der Fassung geraten
Dirigent dieser Produktion ist Kirill Karabits, Chef des Deutschen Nationaltheaters und der Staatskapelle Weimar sowie Leiter des Bournemouth Symphony Orchestra. Längst ist der ukrainische Musiker bei vielen großen Orchestern zu Gast, wobei das russische Repertoire einen wichtigen Teil seiner Arbeit ausmacht. Und besonders natürlich der "Boris Godunow", den Karabits so schätzt, dass er die kürzere Urfassung in Berlin dirigiert und gleichzeitig die längere Spätfassung für eine Produktion der Züricher Oper vorbereitet. Insgesamt acht Versionen weist dieses Werk auf, wobei immer wieder auch andere Komponisten Hand anlegten und "ihren" Boris schufen, etwa Nikolai Rimskij-Korsakow und Dmitrij Schostakowitsch.
Schon die Wahl der jeweils gespielten Fassung kommt also einer Interpretation gleich. Doch in welcher Version auch immer: Mussorgskijs "Boris Godunow" fasziniert als zeitlose Studie über Masse und Macht – und ist zugleich eines der größten Werke der russischen Musik.