Modewort "Toxisch"

Entgiftet euch!

 Illustration eines aggressiven Mannes, dem ein fauchender Drache aus dem Mund fährt
Ein echter Wüterich. Heute gelten solche Menschen als "toxisch" - für Autor Florian Werner eher ein Unwort. © imago/Oivind Hovland
Von Florian Werner |
Früher nervten Menschen oder waren anstrengend. Heute gelten solche Leute als "toxisch" – zumindest, wenn es nach Online-Ratgebern geht. Wirkliche Kriterien findet man aber nirgends. Autor Florian Werner seziert die Konjunktur eines schwammigen Begriffs.
Früher bezeichnete man Männer, vor allem wenn sie kleinwüchsig waren, bisweilen als ‚Giftzwerge‘. Frauen hingegen wurden als ‚Hexen‘ beschimpft: ein Berufsstand, zu dessen Kernkompetenzen bekanntlich das Brauen von Gift- und Zaubertränken gehört.
Aber das ist passé, inzwischen hat sich ein Ausdruck durchgesetzt, der Ähnliches meint, aber sehr viel gediegener klingt: toxisch. Die Selbsthilfeecke des Internets, aber auch der kohlenstoffbasierte Sachbuchhandel ist voll von Ratschlägen, wie mit dem damit bezeichneten Menschenschlag umzugehen sei: "Toxische Typen. Toxic People. Über Beziehungen mit toxischen Persönlichkeiten."

Die schiere Präsenz als Gift

Der Begriff leitet sich von dem altgriechischen tò tóxon, "der Bogen" her: Der Ausdruck toxikòn phármakon bezeichnete ursprünglich das Gift, in das Krieger ihre Pfeilspitzen tunkten.
Der toxische Mensch von heute geht allerdings weitaus weniger zielgerichtet vor als die Bogenschützen der Antike: Er streut sein Gift weiträumig und verpestet mit seinem Diskursverhalten, seinem Charakter, ja seiner schieren Präsenz sein gesamtes soziales Umfeld.
Für eine Gesellschaft, die erheblichen Wert auf Gesundheit, Hygiene und gute Ernährung legt und die ihr Trinkwasser bevorzugt aus den Vogesen importiert, eine ernsthafte Bedrohung.

Symptome sind Beweis genug

Dem Duden zufolge ist toxisch ein Synonym für "giftig", "gifthaltig", "schädlich". Aber anders als diese Begriffe klingt das Modewort dank seiner altsprachlichen Herkunft naturwissenschaftlich-seriös – gerade so, als handelte es sich bei Toxizität, auf den menschlichen Charakter bezogen, um einen medizinischen oder psychologischen Befund.
Das ist nun keineswegs der Fall: Eine beliebte Ratgeberseite behauptet etwa, für toxische Menschen gelte dasselbe Kriterium wie für Pornographie: Ich erkenne sie, wenn ich sie sehe. Das ist als Definition denkbar subjektiv und schwammig, und vermutlich mit ein Grund, warum sich der Begriff solcher Beliebtheit erfreut. Man kann (und muss) den Giftstoff beim Gegenüber gar nicht nachweisen - die eigenen Symptome sind Beweis genug.
Anders gesagt: Toxizität liegt im Auge des Betrachters, beziehungsweise der Betrachterin.

Eine Frage des Geschlechts

Interessanterweise variiert der Grad der Giftigkeit mit dem Geschlecht der schadstoffhaltigen Person. Wenn einer Frau Toxizität attestiert wird, kann dies durchaus auch ein Quentchen verruchte Sexiness umfassen: Die "toxische Frau" ist eine Kirke, eine Zauberin. Ihr Gift ist deswegen so gefährlich, weil es süchtig machen kann.
"Toxische Männlichkeit" hingegen meint ein krankhaftes Übermaß an machistisch-maskulinem Gehabe: Egoismus. Übersteigerte Risikofreude. Aggressivität. Sprachlosigkeit, die unter Druck in Gewalt umschlägt.
Der alte Leitspruch des Paracelsus "Die Dosis macht das Gift" ist hier außer Kraft gesetzt: Bei toxischer Männlichkeit gibt es keine medizinisch vertretbare Menge, in der man das Mittel verabreichen könnte. Und wenn es einen biochemisch identifizierbaren Inhaltsstoff bei diesem Giftgebräu gibt, dann ist es Testosteron.

Im Grunde geht der Begriff fehl

Übrigens sind die Ausdrücke toxisch und giftig, auch wenn sie gern synonym verwendet werden, nicht deckungsgleich. Ja, ein Toxin ist ein Gift - aber während Gifte auch anorganischer Herkunft sein können, werden Toxine grundsätzlich von Lebewesen synthetisiert: von Pflanzen, Pilzen oder Tieren. Und: Sie werden von den fraglichen Wesen in aller Regel nicht abgesondert, um andere zu schädigen, sondern um sich vor ihnen zu schützen.
Anders gesagt: Vielleicht sind toxische Menschen nur deshalb so unerträgliche Dreckschleudern, weil sie sich von ihrer Umwelt bedroht fühlen. Vielleicht wähnen auch sie sich von Hexen und Giftzwergen umzingelt.

Florian Werner ist Autor von Sachbüchern und Prosa. Er wurde mit einer Arbeit über HipHop und Apokalypse promoviert, spielt Fußball in der Deutschen Autorennationalmannschaft, lehrt als Gastdozent an verschiedenen Hochschulen und arbeitet für den Hörfunk. Zuletzt erschienen ist sein Wanderbuch "Der Weg des geringsten Widerstands" (Nagel & Kimche).

© picture alliance / dpa / Horst Galuschka
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