"Möglichkeiten des Wachstums sind nicht ausgereizt"

Adam Tooze im Gespräch mit Klaus Pokatzky |
Der Anschluss der großen asiatischen Volksstaaten an die Weltwirtschaft sei eine "einmalige Erfahrung" gewesen, sagt der britische Historiker Adam Tooze. Doch der Aufstieg Chinas verursache für den Westen neuen Anpassungsdruck.
Klaus Pokatzky: Globalisierung, sagt der Duden, ist die weltweite Durchdringung von Wirtschaftsprozesse, vor allem durch die wachsende Bedeutung der Finanzmärkte, den zunehmenden Welthandel und die globale Ausrichtung von multinationalen Unternehmen. Das ist im Duden vor drei Jahren geschrieben worden, und da glaubten wir alle noch an die Globalisierung. Zu früh geglaubt?

Der 48. Deutsche Historikertag, in diesen Tagen in Berlin, steht im Zeichen von Globalisierung, "Über Grenzen" ist das Motto, und die Historiker fragen, vor welchen Herausforderungen sie und ihre Wissenschaft stehen, wenn die Welt nicht mehr national, sondern transnational organisiert ist.

Der britische Wirtschaftshistoriker Adam Tooze, Professor für moderne deutsche Geschichte an der amerikanischen Yale University, Autor unter anderem einer Geschichte der Wirtschaft im Nationalsozialismus, überrascht da mit einem Einwand: So sicher sei es gar nicht, dass es mit der Globalisierung nach der Finanzkrise so weitergehe. Herzlich willkommen im Studio, Adam Tooze!

Adam Tooze: Danke für die Einladung!

Pokatzky: Adam Tooze, was verbirgt sich eigentlich aus der Sicht eines Wirtschaftshistorikers hinter diesem Wort Globalisierung?

Tooze: Verschiedene Dinge, denke ich, und zum Teil eine Euphorie. Unsere Generation in den letzten 20 bis 30 Jahren hat etwas Einmaliges durchgemacht, nämlich den Anschluss der großen asiatischen Volksstaaten China und Indiens an die Weltwirtschaft. Und das ist in gewisser Weise auch eine enorme Erleichterung für jeden, der liberal denkt und der im Grunde die Marktwirtschaft begrüßt, denn bis zum Ende der 80er-Jahre war man ständig dem Vorwurf ausgesetzt, dass letztendlich dieses Modell eigentlich nur für die reichen Staaten Europas, Amerikas und für Teile Asiens funktionierte. Und es ist tatsächlich in gewisser Weise die Einlösung eines Versprechens, eines großen Versprechens, in dem wir auch gewisserweise ein Interesse haben, wenn es möglich scheint, über dieses Mittel buchstäblich Milliarden von Menschen aus der Armut herauszuheben.

Und ich denke, diese euphorische Aspekt, die Einlösung des Versprechens einer Welt, die gewisserweise das ganze 20. Jahrhundert in verschiedenen Formen - natürlich ganz prominent auch im Kommunismus - begleitet hat, die Einlösung dieses Versprechens unter Bedingungen, die keine revolutionäre Herausforderung für den Westen darstellen, sondern in gewisser Weise den Anschluss Chinas und Indiens an unser System bedeutet haben, ist, glaube ich, Grund und fundamentale Ursache für diese Euphorie.

Pokatzky: Ist das wirklich der Anschluss Chinas an unser westliches System, wenn wir denken, dass China Währungsreserven von 2,5 Billionen Dollar - kein Land der Welt verfügt über solche Reserven. Inzwischen können wir davon ausgehen, dass China die meisten Dollarmilliardäre weltweit hat, mehr als die Vereinigten Staaten. Unsere deutschen Exporte nach China wachsen immer mehr, die betragen jetzt 25,2 Milliarden Euro. Sind wir nicht zunehmend von China abhängig? Kann es nicht sein, dass wir nach unten rutschen, auch die Vereinigten Staaten, so wie das 20. Jahrhundert ein amerikanisches Jahrhundert war, dass das 21. ein chinesisches Jahrhundert wird?

Tooze: Vielleicht sollte man sich die Rede in Form von Anschluss abgewöhnen, aus verschiedenen Gründen, aber …

Pokatzky: Aus historischen auch.

Tooze: Ja, genau. Vielleicht sollte man einfach über den Zugang oder die Mitgliedschaft Chinas im System ... und ich denke, das ist tatsächlich eines der ganz großen geopolitischen Herausforderungen des kommenden Jahrhunderts. Nicht die Dominanz Chinas, das halte ich für eine übertriebene Hypothese, aber sicherlich der Umgang mit China als Partner innerhalb dieser Wirtschaft und den Bedingungen, zu denen das stattfinden kann. Und eine Gelegenheit haben wir schon verpasst, eine sehr wichtige Gelegenheit haben wir schon verpasst …

Pokatzky: Nämlich?

Tooze: … und das ist die Asienkrise der 1990er-Jahre, die in Europa und in Amerika als Randerscheinung wahrgenommen worden ist, aber meiner Meinung nach für die Politik der chinesischen Regierung bestimmend ist, und zwar, dass für sie einfach feststeht, dass ein demütigender Eingriff des IWFs für China einfach keine Option ist.

Pokatzky: Des Internationalen Währungsfonds.

Tooze: Ja. Und deshalb diese Politik des niedrigen Währungskurses, deshalb diese exportgetriebene Politik, die wir als Offensive aufgreifen, aber letztendlich eine defensive Strategie der Entwicklung ist, die die Asymmetrien in der Weltwirtschaft so kippt, dass für China der maximale Handlungsspielraum entsteht und dass der Anpassungsdruck gewisserweise auf uns zukommt und nicht umgekehrt. Und ich halte das für eine strategische Option, die gewisserweise infolge des Unvermögens des IWFs und der Kapital gebenden Länder in den 90er-Jahren als logische Folgerung von der chinesischen Regierung angenommen wurde.

Wenn die Weltwirtschaft unter diesen Bedingungen funktioniert, dann werden sie versuchen, die Regeln zu ändern. Und wir haben in diesem Moment, in der Diskussion, an der auch Horst Köhler beteiligt war Anfang der 2000er, wir haben damals schon eine Gelegenheit verpasst, die Spielregeln des weltwirtschaftlichen Systems noch mal zu diskutieren, und zwar mit den asiatischen Ländern als Partner innerhalb dieses Diskurses. Diese Gelegenheit haben wir verpasst. Wir sollten weitere Gelegenheiten nicht an uns vorbeigehen lassen.

Pokatzky: Aber wie werden denn die Regeln geändert, wachsender Wohlstand war im 20. Jahrhundert vom Wirtschaftswachstum abhängig, das hieß auch möglichst viel Freiheit für das Kapital, möglichst wenig Regulierung der Märkte durch die Politik - was kommt nun, was muss kommen?

Tooze: Ganz konkret könnte man zum Beispiel an die Umverteilung der Stimmrechte innerhalb des IWFs …

Pokatzky: Des Währungsfonds, des Internationalen Währungsfonds.

Tooze: … des Währungsfonds diskutieren. Es ist ähnlich wie im Sicherheitsrat der UN, wir befinden uns gewisserweise - wie Kant sagen würde - in einer selbst verschuldeten Unmündigkeit. Die Strukturen dieser Weltinstitution sind unvertretbar, dass ein Land wie Großbritannien oder ein Land wie Frankreich einen festen Sitz im Sicherheitsrat hat, ist einfach eine Behauptung nationaler Interessen, die überhaupt keine Legitimation beanspruchen kann. Und die Verteilung der Stimmrechte innerhalb des IWFs ist ähnlich unvertretbar.

Pokatzky: Welche Länder sollten da zum Zuge kommen?

Tooze: Man müsste es proportional ... man könnte verschiedene Dimensionen annehmen, zum Bruttosozialprodukt pro Kopf, zu globalen Exporten, zu Währungsreserven, es gibt verschiedene, aber man sollte eine Diskussion darüber führen, welche Maßstäbe angebracht sind. Was wir uns nicht leisten können, ist gewisserweise die Situation anno 1945 und die Koalition des Zweiten Weltkriegs in das 21. Jahrhundert fortzuschreiben als Grundlage für weltwirtschaftliche Institutionen.

Pokatzky: Sie haben auf dem 48. Deutschen Historikertag jetzt in Berlin ausgeführt, dass es zwei ganz wesentliche Alternativen in der Wirtschaft Deutschlands gab. Es gab einmal den Versuch der Nazis, die Wirtschaft als ein staatliches Machtinstrument zu organisieren, und nach 1945 bekamen wir das große Erfolgsrezept, Ludwig Erhards soziale Marktwirtschaft. Bisher war das ein Erfolgskonzept, stößt das jetzt an seine Grenzen?

Tooze: Ich denke nicht, nein. Die Möglichkeiten des Wachstums sind nicht ausgereizt, wir sollten uns bestimmt darüber fantasievolle Gedanken machen, wie man das Wachstum ökologisch verträglich macht, aber es ist nicht wahr, dass die Mehrheit der Menschen, selbst in einem Land wie Deutschland, alle ihre materiellen Bedürfnisse befriedigt haben - man muss nur an die soziale Ungleichheit denken. Das Wirtschaftswachstum ist nach wie vor ein Thema, die Frage ist, welche Bedeutung man dem Wirtschaftswachstum gibt.

Und der Unterschied zwischen der Zeit des Nationalsozialismus und der Zeit danach ist offensichtlich, dass im Nationalsozialismus Wirtschaftswachstum letztendlich als Mittel zur staatlichen Gewaltanwendung gedacht wird. Und der Erfolg der europäischen Geschichte nach 1945 ist, dass gewisserweise Wirtschaft verwandelt wird in einen Mechanismus zur Verwirklichung nicht aller menschlichen Bedürfnisse, aber wesentlicher menschlicher Bedürfnisse. Und die Tragik ist, dass diese Aussicht tendenziell schon in den 20er-Jahren sichtbar war. Man muss sich nur die Nobelpreisrede von Gustav Stresemann ansehen Mitte der 20er-Jahre, wo er davon spricht, dass er sich vorstellt ein Europa, in dem sich die Jugend für Sport und Wissenschaft interessiert und nicht mehr für militärische Sachen.

Diese Möglichkeit ist in der Geschichte des 20. Jahrhunderts angelegt, und die essenzielle Grundbedingung für die Stabilität dieser Idee ist Zukunft, ist die Möglichkeit, sich eine zukünftige, positive zukünftige Entwicklung vorzustellen. Und das ging in der großen Depression der 30er-Jahre verloren, und dadurch wird die Tür geöffnet für apokalyptische Vorstellungen aller möglichen Art. Und das Risiko, vor dem wir im Moment stehen, ist, dass in ähnlicher Weise für große Teile der Weltbevölkerung Türen geschlossen werden. Man muss sich nur die Situation in Pakistan im Moment ansehen, um die Risiken, die sich daraus ergeben können, sich vorzustellen.

Pokatzky: Dürfen wir Deutschen optimistisch sein?

Tooze: Als Deutscher in einem so reichen Land mit so vielen Möglichkeiten, mit so vielen unausgenützten Möglichkeiten wäre ich bestimmt optimistisch über die Möglichkeiten der persönlichen Selbstverwirklichung, und ich denke, dass man bei aller Kritik auch stolz sein kann über die Errungenschaften der deutschen Politik seit 1949. Es ist eines der kompliziertesten, aber auch reichen demokratischen Experimente des 20. und frühen 21. Jahrhunderts, und aufgrund dessen denke ich, dass man durchaus zuversichtlich in die Zukunft schauen kann.

Pokatzky: Dann danke ich dem britischen Wirtschaftshistoriker Adam Tooze in doppelter Weise: Erstens für dieses Gespräch und zweitens für diesen optimistischen Blick in die Zukunft. Adam Tooze, Professor für moderne deutsche Geschichte an der amerikanischen Yale University. Er ist jetzt noch in Berlin zum Deutschen Historikertag, der heute zu Ende geht.
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