Sexualität und Körperlichkeit sind ja nur Proxys, mit denen ich ganz viele andere Sachen dann thematisiere: Gewalt an Minderheiten zum Beispiel, viel Frauenfeindlichkeit, Sextourismus.
Mohamed Amjahid: "Let's talk about sex, Habibi"
In seinem neuen Buch will Mohamed Amjahid einen ungetrübten Blick in die Schlafzimmer Nordafrikas werfen und mit Klischees und rassistischen Stereotypen aufräumen. © Antoine Midant
"Dieses Thema geht nicht in prüde!"
10:15 Minuten
Mohamed Amjahid ist bekannt als politischer Journalist, der sich viel mit Alltagsrassismus und Alltagssexismus hierzulande befasst hat. Nun wendet er seinen Blick auf Sexualität in Nordafrika – und dekonstruiert auch erotische Orient-Klischees des Westens.
„Ich hatte einfach Bock, die Perspektive zu ändern“, mit diesen Worten beschreibt Mohamed Amjahid, wie er zum Thema seines neuen Buches kam: „Nachdem ich die deutsche und die europäische Mehrheitsgesellschaft mit sehr vielen Recherchen und zwei Büchern beleuchtet habe, wollte ich das umdrehen.“
Nun geht es also um Sexualität in Nordafrika - unter anderem in Marokko, wo Amjahid teilweise aufgewachsen ist.
Stereotype dekonstruieren
Der Bezug zur europäischen Mehrheitsgesellschaft ist in "Let's talk about sex, Habibi" gleichwohl erhalten: „Es gibt so ein Bild der Hypersexualisierung von den vermeintlich anderen, diesen Sexmaschinen, die einfach nur die ganze Zeit testosteronaufgeladen durch die Welt laufen.“
"Von den erotischen Abenteuern aus 'Tausendundeine Nacht' bis hin zu den Debatten nach der sogenannten Kölner Silvesternacht: Die Sexualität 'orientalischer' Männer, Frauen und Queers wird immer wieder fetischisiert", heißt es im Klappentext des Buches.
Sein Anliegen sei gewesen, dieses hypersexualisierte Bild zu dekonstruieren und die Realität vor Ort, aber auch von Menschen aus Nordafrika in der Diaspora zu beschreiben: „Es gibt sehr, sehr viele Stereotype und sehr, sehr viele Vorurteile und die stimmen an sehr vielen Orten nicht“, erklärt Amjahid. Zugleich verwirre das Gesamtbild: „Es gibt alles. Es gibt sexpositive Einstellungen und Traditionen, und dann gibt es das universelle Patriarchat, das Menschen unterdrückt. Das habe ich versucht zusammenzubringen.“
Genrevielfalt in über 40 Kapiteln
Herausgekommen sind Texte vieler Genres, darunter Porträts, Kurzessays und Reportagen. Er erzählt eigene Erlebnisse, aber auch auf der Basis von Erfahrungen aus dem Bekannten- und Freundeskreis sowie der Verwandtschaft.
„Ich bin ausgebildeter Anthropologe und führe ein Feldforschungstagebuch“, erläutert der 34-Jährige seine Arbeitsweise. Aus dieser umfangreichen Materialsammlung habe er erst aussortiert und dann die Menschen, die er in seinem Buch beschreiben wollte, vorab konsultiert: „Einige haben gesagt: ‚Auf gar keinen Fall möchte ich in irgendeinem Buch verkommen.‘ Und andere meinten: ‚Geil, erzähl meine Geschichte‘.“
„So kam es, dass ich in diesen mehr als 40 Kapiteln und Erzählungen quasi die Themen angesprochen habe, die mir wichtig sind."
"So ist es ein Potpourri geworden über die Sexualität und Körperlichkeit der Menschen in Nordafrika und in der Diaspora", erklärt Amjahid.
Beim Thema Sextourismus und Pädokriminalität durch Menschen aus Europa oder den Golfstaaten sagt er: „Da kommt sehr, sehr viel zusammen: Rassismus, Klassismus, da kommt ein Nord-Süd-Gefälle zusammen. Und wenn man vermeintlich viel, viel Geld hat, kann man Leute, Menschen, verletzbare Gruppen ausbeuten. Und das ist ein riesiges Problem, das wir hier auch in unserer Gesellschaft – wie auch in anderen Gesellschaften – einmal auf die Agenda setzen müssen, denn darunter leiden sehr, sehr viele Leute.“
Kondome kaufen mit der Mutter
Amjahid, 1988 in Frankfurt am Main geboren, schreibt lebhaft und unterhaltsam und plaudert vor allem aus dem Nähkästchen. So erzählt er die Geschichte, als seine Mutter mit ihm in Marokko Kondome kaufte und sowohl ihn als auch den Apotheker in Verlegenheit brachte.
Es war für ein Referat in der Schule, zu dem er auch eine Banane mit in die Klasse brachte und so Trubel auslöste. In Marokko, wo er in die Schule ging, werde im Unterricht übrigens viel über Sexualität aufgeklärt.
Der Apotheker war verwirrt, weil diese Frau mit Kopftuch mit ihrem Sohn reinkam und Kondome kaufte. „Nichts hat Sinn gemacht, und das ist Teil der Realität“, sagt Amjahid. Im Buch heißt es an einer Stelle: „Der Stoff auf dem Kopf einer Muslima sagt exakt nichts über diese Muslima aus.“
Direkte Sprache
Das Buch ist sehr anschaulich. Er habe es weitgehend in Casablanca auf dem Balkon geschrieben: „Ich musste tief durchatmen, musste mir selbst sagen: ‚So, dieses Thema geht nicht in Prüde‘.“
Zumindest die Hemmungen nach dem Motto „Oh Gott, wenn das meine Mutter liest“ waren da schon ausgeräumt: Er habe seine Mutter vorher zu seinem Buchprojekt konsultiert, berichtet Amjahid: „Dann hat sie gelacht und gesagt: ‚Komm, ich erzähle dir jetzt was.‘ Und dieses Gespräch hat drei Tage gedauert. Meine Mutter war da sehr schambefreit."
Es gebe einen nordafrikanisch-nahöstlichen Feminismus, der in Deutschland nicht sehr bekannt sei, der ihm aber aus einer queerfeministischen Perspektive sehr am Herzen liege. Er wolle die Kämpfe der Frauen, der Queers, der Minderheiten in der Region ins Licht stellen.
Lernen von Menschen in Nordafrika
"Man muss denen gar nicht die Welt erklären, sondern andersrum wird ein Schuh draus", sagt er: "Wir könnten von diesen Leuten sehr, sehr viel lernen, weil unter sehr widrigen Bedingungen für Frauenrechte und für die Rechte von Queers gekämpft wird." Und er ergänzt: "Das versuche ich dann auch zu illustrieren an meiner eigenen Mutter, die auf alle Konventionen pfeift und sagt: 'So, dann mache ich das jetzt, wenn ich das für richtig halte'."
(mfu)
Mohamed Amjahid: "Let's talk about sex, Habibi. Liebe und Begehren von Casablanca bis Kairo"
Piper, München 2022
224 Seiten, 18 Euro