Mohamed Mbougar Sarr: „Die geheimste Erinnerung der Menschen“
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Der „schwarze Rimbaud“ und seine Feinde
06:46 Minuten
Mohamed Mbougar Sarr
Holger Fock und Sabine Müller
Die geheimste Erinnerung der MenschenHanser, München 2022448 Seiten
27,00 Euro
Ein Literaturstar wird von seinen Kritikern vernichtet. Weil er schwarz ist? Nach dem Vorbild eines historischen Skandals schreibt Mohamed Mbougar Sarr eine Satire auf den französischen Literaturbetrieb, einen rasanten und anspielungsreichen Roman.
Wo liegt die Grenze zwischen Aneignung und Abschreiben? Ist nicht alle große Literatur Verweis, Rückgriff, Verarbeitung? Diese Frage schwebt über dem Roman, der sich um den fiktiven Schriftsteller T. C. Elimane dreht, der im Jahr 1938 in Frankreich einen enormen Erfolg mit seinem „Labyrinth des Unmenschlichen“ erzielt haben soll.
Nach Vorwürfen, er habe die Geschichte aus anderen Werken zusammengeklaut, verschwand dieser hoffnungsvolle Starautor, kurzzeitig als „schwarzer Rimbaud“ in den Himmel gehoben, von der Bildfläche.
Wurde Elimane von Literaturkritikern vernichtet, weil er ein Schwarzer war? Weil er die Stereotype des überheblichen Pariser Literaturbetriebs nicht erfüllt hat? Weil er „nicht afrikanisch genug“ geschrieben hat, sondern wie ein Europäer oder Amerikaner? Diese These ist nicht unwahrscheinlich.
Jedenfalls ist das Vorbild für diese romaneske Konstruktion ein realer Skandal aus dem Jahr 1968, als ein aus Mali stammender Schriftsteller den renommierten Prix Renaudot erhielt und danach – aus womöglich rassistischen Motiven – des Plagiats beschuldigt wurde.
Satire auf Pariser Literaturbetrieb
Mohamed Mbougar Sarrs vielschichtiger Roman, der selbst einen weiten Referenzbogen bis zu Roberto Bolaño, Ernesto Sabato und Witold Gombrowicz spannt, ist mehr als eine Polemik gegen den eurozentristischen Blick auf Afrika.
Er ist eine glänzende Satire auf den französischen und frankophonen Literaturbetrieb und eine in zahlreichen, wenn auch nicht immer ganz mühelos nachvollziehbaren Verästelungen und Nebenhandlungen erzählte Annäherung an das, was (Welt-)Literatur im Kern ausmacht.
Der Romanheld Diégane Latyr Faye hat seine Heimat Senegal verlassen, um in Paris zu studieren. Er beschließt, Schriftsteller zu werden. Sarr lässt seinen kecken Helden – ein augenzwinkerndes Selbstporträt – durch die Literatencafés der französischen Hauptstadt und die Hotelbetten afrikanischer Autorinnen turnen.
Denn die Literatur, so lesen wir, hat enorm viel mit Leidenschaft und Libido zu tun. Das gilt auch für eine „haitianische Dichterin“, die T. C. Elimane in Buenos Aires aufstöbert und ihm das Geheimnis seines mysteriösen Verschwindens im Schlafzimmer zu entlocken versucht.
Ein Homer des 20. Jahrhunderts
Die erotischen und burlesken Komponenten sind in dieses waghalsige Erzählpuzzle ebenso nachlässig integriert, wie all die anderen realen und erfundenen Elemente, die Sarr locker durcheinander würfelt: so genannte „Biographeme“ – fiktive Lebensbeschreibungen –, historische Pressemeldungen, lange Dialogpassagen und Rechercheergebnisse des Jungliteraten, der sein großes Vorbild Elimane als eine Art Homer des 20. Jahrhunderts feiert.
Der Erzähler ist zwischen Paris, Amsterdam, Argentinien und dem Senegal unterwegs. Eine Szene spielt während des Zweiten Weltkriegs in der französischen Hauptstadt. Ein deutscher Besatzungsoffizier ist hochgebildeter Literaturfreund und gleichzeitig brutaler Folterer (des jüdischen Verlegers von Elimanes fiktivem Bestseller).
Er taucht am Ende in Südamerika unter; seinen Namen Josef Engelmann darf man als Amalgam aus Josef Mengele und Eichmann dechiffrieren. Welche Rolle dieser Exkurs zur Rassenlehre der Nazis in Sarrs Roman einnimmt, bleibt allerdings weitgehend offen.
Spannend wie ein Krimi
So wie manches in diesem spannend wie ein Krimi geschriebenen Roman, den man wegen seines frechen, frischen, respektlosen Tons atemlos bis zum Ende verschlingt. An einer Stelle ist von einem Nachwuchs-Autor die Rede, „der vor Talent nur so triefte“.
Diese Bespöttelung von Rezensenten-Prosa ist charakteristisch für den hochironischen Stil dieses 32 Jahre jungen Schriftstellers, der eines der anregendsten Bücher über die universelle Geltung und Wirkung von Literatur geschrieben hat.