Moldau hat keine Wahl

Von Gesine Dornblüth |
Im vergangenen Jahr wählte die Bevölkerung der Republik Moldau die kommunistische Führung ab. Doch die neue demokratische Regierung hat nicht genüg Macht, um dringend nötige Reformen durchzusetzen. Deshalb ist das Land seit bald einem Jahr praktische führerlos. Darunter leidet vor allem die einfache Bevölkerung.
Vor der Markthalle im Zentrum der moldauischen Hauptstadt Chisinau herrscht dichtes Gedränge. Eiszapfen hängen von den Dächern. Seit Wochen liegt Schnee. An Verkaufsständen gibt es Tücher, Schuhe aus Plastik, Kinderanoraks in hellrosa.

Eine Händlerin hat sich eine Wolldecke um die Oberschenkel geschlungen, um sich vor der Kälte zu schützen. Gegenüber, vor den parkenden Autos, haben einzelne Frauen und Männer ihre Ware auf umgedrehten Holzkisten oder einfach vor sich im Schnee ausgebreitet: Hier eine Scheibe Lachs, da eine Tüte Waldbeeren, dort ein Paar selbstgestrickte Handschuhe. Die Rentnerin Lena hat sieben gerupfte Hühner dabei.

"Bisher habe ich noch keins verkauft. Die Leute haben kein Geld. Aber wieder mit nach Hause nehme ich sie auf keinen Fall. Lieber gebe ich sie etwas billiger ab. Gegen Abend. Bei der Kälte ist es allerdings schwer, hier lange auszuhalten. Meine Füße sind jetzt schon eingefroren."

Die Frauen und Männer am Straßenrand kommen aus den Dörfern der Republik Moldau. Einen Stand zu mieten, können sie sich nicht leisten. Sie sind früh morgens mit dem Bus gekommen, 20, 30 Kilometer, um ein paar Euro oder auch nur ein paar Cent einzunehmen. Ihre Nachnamen wollen sie nicht sagen, denn der Handel auf der Straße ist verboten. Lena ist mit ihrer Nachbarin da. Die hat 20 Eier in einer Plastiktüte vor sich platziert. Ein Ei ist kaputtgegangen, doch den Dotter hat sie retten können. Er liegt obenauf in einer halben Eierschale.

In ihrem Dorf habe niemand Arbeit, berichten die beiden Frauen. Und ihre Rente reiche nicht einmal, um die Wasser- und die Stromrechnung zu bezahlen.

Die Nachbarin muss Medikamente nehmen, sie hat Leukämie. Sie legt den Kopf in den Nacken und öffnet den Mund.

"Schauen Sie mal: Ich habe keinen einzigen Zahn mehr. Dabei bin ich erst 60. Naja, noch nicht, im April ist es so weit."

Die Wirtschaft und das Sozialsystem der Republik Moldau liegen am Boden. Die Gründe dafür reichen zwanzig Jahre zurück. Damals brach sie Sowjetunion zusammen, und die einstige Sowjetrepublik Moldau wurde ein souveräner Staat. Das sorgte für Probleme. Nationalistische Stimmungen kamen hoch.

Ein großer Teil der rumänischstämmigen Bevölkerung in Moldau wollte sich dem Nachbarland Rumänien anschließen. Die vor allem von Russen bewohnte reiche Industrieregion im Osten erklärte sich für unabhängig. Dort entstand ein ständiger Unruheherd: Transnistrien. Korrupte Eliten nutzten die instabilen Verhältnisse, um sich zu bereichern. Sie wirtschafteten das Land in den 90er-Jahren herunter. Im Jahr 2001 kamen Kommunisten an die Macht.

Unter ihrer Regierung breiteten sich Korruption und Arbeitslosigkeit weiter aus. Doch seit dem vergangenen Jahr besteht Hoffnung, dass es mit dem Land doch bergauf gehen könnte. Denn im Sommer wurden die Kommunisten abgewählt. In der Republik Moldau regiert nun ein Bündnis aus vier westlich orientierten liberalen Parteien. Bei der Bevölkerung jedoch kommt von den erhofften Veränderungen noch nicht viel an.

Vor dem Eingang zur Markthalle steht ein Mann um die vierzig: Nikolaj. Er preist einen Hahn an.

"Ich habe drei Kinder, die erwarten, dass ich Geld mit nach Hause bringe. Früher habe ich im Stahlbetonwerk gearbeitet. Aber die Fabrik hat jetzt kaum noch Aufträge. Und ich arbeite nur noch gelegentlich. Meist im Sommer. Zum Beispiel, wenn ein Dach gedeckt werden muss.
Ansonsten leben wir von unserem Hof. Wir haben auch Gänse. Da es keine Arbeit gibt, bleibt uns ja nichts anderes übrig."

Ein Passant wirft einen kurzen Blick auf den Hahn - und geht dann doch weiter. Nikolaj tritt von einem Bein aufs andere. Er glaubt nicht, dass die neue Regierung irgendetwas verbessern wird.

"Hier ist jeder für sich selbst verantwortlich. Ansonsten hilft nur Gott. So ist das."

Plötzlich lässt Nikolaj den Hahn in einer Tüte verschwinden. Ein Polizist ist aufgetaucht.

Sie sollten ihre Sachen packen und verschwinden, fordert er die Leute auf. Sie wüssten doch, dass der Handel auf offener Straße verboten ist.
Die zahnlose Alte nimmt die Eierschale mit dem Dotter in die eine Hand, die Tüte mit den restlichen Eiern in die andere, und macht sich langsam mit ihrer Nachbarin davon. Strafen verhängt der Polizist nicht. Es bleibt bei Verwarnungen. Nikolaj wendet sich noch einmal um, bevor er geht.

"Haben Sie nicht einen Job für mich? Bei Ihnen, in Deutschland?"

Arbeit im Ausland: Viele Moldauer sehen darin die einzige Möglichkeit, aus der Armut herauszukommen. Ein Drittel der erwerbsfähigen Bevölkerung ist bereits fort. Die Kinder wachsen bei den Großeltern oder in Heimen auf.

Eine Fahrt aufs Land mit der Marschrutka. So heißen die Minibusse. Meist sind es aus Westeuropa importierte Kleintransporter, auf deren Ladeflächen man ein paar Sitze geschraubt hat. In dieser Marschrutka stehen außerdem zwei Hocker für Fahrgäste bereit.

Hinter dem Fahrer hängt ein Werbeplakat. Jemand fotografiert und filmt Hochzeiten. Ein Brautpaar lächelt in die Kamera. Für Familienfeiern wird in Moldau viel Geld ausgegeben.

Bulboaca ist ein Dorf mit eigener Schule und einem Weinkombinat. Das ist allerdings längst bankrott. Hinter mannshohen Lattenzäunen stehen kleine Häuser. Einige sind hellgrün oder blau gestrichen, die Dächer frisch gedeckt. Die Besitzer leben in der Regel im Ausland und schicken Geld nach Hause. In Bulboaca lebt kaum noch jemand im erwerbsfähigen Alter.

Am Dorfrand stehen einige vierstöckige Wohnblocks. Hier wohnt die neunjährige Christina mit ihrer Oma. Ausnahmsweise ist auch Christinas Mutter da, Katja.

Sie sitzt mit der kleinen Christina in der Küche und trinkt Tee. Die Oma, die sich sonst um das Kind kümmert, ist betrunken und schläft im Nebenzimmer. Auf der Eckbank steht ein Heizlüfter. Eine Wolldecke vor der Küchentür verhindert, dass sich die Wärme in den Rest der Wohnung verflüchtigt. Die Küche ist der einzige warme Raum. Sie haben kein Geld, um alle Zimmer zu wärmen. Katja arbeitet illegal in Russland auf einer Großbaustelle. Sie kocht dort für die Bauarbeiter.

Viel Lohn bekomme ich dort nicht. 300 Dollar im Monat. Aber hier bekäme ich noch weniger. Ich habe ja keine Ausbildung. Ich weiß keinen anderen Ausweg. Das Kind braucht Kleidung, Schuhe, Schulsachen. Ohne Geld geht doch nichts.

Katja ist 25. Ihre Tochter hat sie mit 16 bekommen, der Vater hat sich davongemacht. Für eine Ausbildung war keine Zeit.

"In Russland habe ich schon nach einem Jahr so viel Geld angespart, dass ich unsere Wohnung renovieren konnte. Ich habe eine Waschmaschine gekauft, ein Sofa, Küchenschränke, einen Herd."

Im Wohnzimmer ist es so kalt, dass der Atem zu sehen ist. Die Tapete rollt sich von unten hoch. Das Sofa ist durchgesessen.

"Es ist wenig, aber wenn ich hier arbeiten würde, hätte ich nicht mal das. Die Kleidung, die ich trage, habe ich auch von meinem in Russland verdienten Geld gekauft."

Die neue Regierung in Moldau hat sich vorgenommen, die Abwanderung aus dem Land zu stoppen. Aber für Katja steht fest: Sie will mit ihrer Tochter irgendwann ganz nach Russland ziehen.
"Ich glaube nicht, dass es in Moldau irgendwann besser wird. Das glaube ich wirklich nicht. Ich bin im Kopf immer in Russland. Ich gucke russische Fernsehnachrichten, mich interessieren auch die Wahlen in Russland, aber die moldauischen ...? Ich weiß nicht mal, wer bei uns gerade Präsident ist."

Das ist auch nicht so einfach. Das Land hat zurzeit keinen gewählten Präsidenten. In der Republik Moldau wird das Staatsoberhaupt vom Parlament gewählt. Dazu sind mindestens drei Fünftel der Stimmen nötig. So schreibt es die Verfassung vor. Die im letzten Sommer gewählten Demokraten haben aber nur etwas über die Hälfte der Abgeordnetensitze. Die Kommunisten stellen rund 46 Prozent.

Und sie haben die Wahl eines demokratischen Staatspräsidenten bisher erfolgreich blockiert. Deshalb führt einstweilen der Parlamentspräsident kommissarisch das Land. Dieses Provisorium aber bremst Moldau. Noch in diesem Jahr wird es deshalb vermutlich neue Parlamentswahlen geben. Und die politischen Parteien denken fieberhaft darüber nach, wie sie die Verfassung zu ihren Gunsten ändern.

Der Justizminister des Landes, Alexandru Tanase von der Liberaldemokratischen Partei, sitzt spät abends noch in seinem weitläufigen Büro in der Innenstadt von Chisinau. Wenn es nach ihm geht, sollen die Bürger Moldaus den Präsidenten künftig direkt wählen.

"Aber die Frage ist nicht, was ich will, sondern die Frage ist, wofür unsere Stimmen reichen. Die Situation ist kompliziert. Alle Meinungsumfragen sagen, dass sich bei Neuwahlen das Kräfteverhältnis nicht wesentlich ändern wird. Und das heißt, dass wieder keine der Seiten zwei Drittel der Stimmen haben wird, um einen Präsidenten zu wählen. Das ist ein sehr großes Problem. Deshalb bleibt uns nur eine Verfassungsänderung."

Aber auch um die Verfassung zu ändern, müssten sich die Demokraten mit den Kommunisten einigen. Der Streit blockiert Moldau. Justizminister Tanase gibt unumwunden zu, dass er und seine Kabinettskollegen zur Zeit nichts machen können.

"Unsere Regierung ist rein funktional. Niemand weiß, wie lange die sie bestehen wird. Jetzt große Reformen anzugehen, wäre ein Abenteuer. Wir konzentrieren uns jetzt darauf, dass die Institutionen funktionieren und passen auf, dass es nicht noch weiter bergab geht. Wir müssen Renten und Gehälter zahlen, die Straßen beleuchten und sie sauber halten. Wenn wir das nicht schaffen, besteht das Risiko, dass die Kommunisten wieder an die Macht kommen."

Doch die Realität in Moldau ist nicht schwarz-weiß und die Kommunistische Partei Moldaus nicht durchweg autoritär. Bereits unter kommunistischer Regierung hatte sich die Republik Moldau deutlich der Europäischen Union angenähert. Erst in den letzten zwei Jahren seiner Amtszeit war der ehemalige Staatspräsident Vladimir Voronin wieder auf Russland zugegangen. Jetzt setzt die Partei wieder auf Europa und Reformen. Zumindest sagt sie das.

Inna Schupak sitzt für die Kommunistische Partei im Parlament Moldaus. Mit 25 Jahren ist sie die jüngste Abgeordnete. Bevor sie im letzten Sommer gewählt wurde, hatte sie ein Praktikum im Europaparlament gemacht.

"Ich bin schon viel in Europa herumgekommen. Wenn die Leute hören, in welcher Partei ich bin, halten sie mich für verrückt und denken gleich an Stalinismus."

"Aber es geht doch nicht um Namen. Ich bin Kommunistin und Demokratin. Und mir war immer klar: Wir können nicht nur auf Freundschaft und Zusammenarbeit mit Russland setzen. Ohne die EU können wir unsere demokratischen Institutionen nicht modernisieren."

Schupak sieht die Kommunistische Partei Moldaus auf einer Linie mit der Europäischen Linken.

"Uns geht es um den Sozialstaat. Die liberale Regierung senkt jetzt die Ausgaben für soziale Programme. Wir sind dagegen. Wir sind für kostenlose Bildung.

Und wir sind dafür, die demokratischen Institutionen zu stützen. Die KP hat in ihren acht Regierungsjahren Fehler gemacht. Aber wenn wir wieder an die Macht kommen, werden wir diese Fehler nicht wiederholen."

Von der Hauptstadt Chisinau führt eine Landstraße 200 Kilomater nach Südwesten, in Richtung EU. In der Kleinstadt Cahul funktioniert nur eine Ampel, ein Polizist kassiert Autofahrer ab. Ein eisiger Wind weht aus Nordost.

300 Meter vor dem Grenzpfahl nach Rumänien steht eine kleine Hütte. Darin ein Lokal: "Chaj na dvoich" - "Tee für zwei". Auf einem der zerschlissenen Sessel hat sich ein Köter zusammengerollt. Die Frau hinter dem Tresen schläft mit dem Kopf auf den Unterarmen. Vor ihr steht ein Traktorist und trinkt Wodka.

"Vor allem die Rentner haben es schwer. Jetzt heißt es, sie wollen alte Leute früher in Rente schicken, damit die Jugend Arbeit findet: in den Krankenhäusern, in den Schulen. Damit die jungen Leute hier arbeiten und das Land nicht verlassen."

Grund genug für ihn, das Glas zu leeren.

"Ich bin für die Kommunisten. Das ist unsere Generation. Die jungen Leute mögen für die Liberalen oder für die Demokraten sein. Wir sind an das Leben gewöhnt, wie es früher war: Du hast gearbeitet und wurdest dafür bezahlt, nicht reichlich, aber pünktlich.

Und für deinen Lohn konntest du im Laden zu normalen Preisen einkaufen. Ich habe immer die Kommunisten gewählt und werde das auch weiter tun. Weil ich schon 50 Jahre alt bin. Mir ist es lieber, es bleibt so, wie es war."