Momente der ungeahnten Möglichkeiten
Der 1953 in Schleswig geborene und im Ruhrgebiet aufgewachsene Autor Ralf Rothmann sticht vor allem durch die subtile Kunst des Erzählens hervor. In seinen Bänden "Gethsemane" und "Shakespeares Hühner" lässt er sein Können nicht nur aufblitzen, nein, er lässt es leuchten.
Ralf Rothmanns in der Insel-Bücherei erschienener Band "Gethsemane" enthält zwei der schönsten Geschichten des 1953 in Schleswig geborenen und im Ruhrgebiet aufgewachsenen Autors. Sie finden sich in den Erzählungsbänden "Ein Winter unter Hirschen" (2001) und "Rehe am Meer" (2006). Wäre Platz für eine dritte Geschichte gewesen, hätte man auch "Abschied von Montparnasse" aus dem neuen Erzählungsband "Shakespeares Hühner" aufnehmen können. Denn Rothmann lässt in dieser Geschichte sein erzählerisches Können nicht nur aufblitzen, nein, er lässt es leuchten.
Kurz vor ihrer Abreise aus Paris sitzt eine junge Frau in ihrem fast leeren Stammcafé auf dem Montparnasse. Der Kellner lässt sich wie stets zu keiner Freundlichkeit herab. Dennoch liegt ein Hauch von wehmütigem Abschied in der Luft. Erfüllt ist die Luft aber auch von einem erdigen Geruch. Ein Mann, der sie an ihren Vater erinnert, hat neben sich auf dem Stuhl einen Hut zu liegen, der randvoll mit den schönsten Waldpilzen gefüllt ist. Ein Pilzsammler mitten in Paris - sie ist geneigt, an ein Wunder zu denken. Als der Mann im Begriff ist zu gehen, spricht ihn die junge Frau an: "Entschuldigung? Ich kenne Sie!" Als ihr dieser schlichte, eine Annäherung nicht sehr originell einleitende Satz bewusst wird, weiß sie, dass sie einen Fehler gemacht hat. Um die Situation zu retten fügt sie hinzu: "Aus einem Traum..."
Die drei Auslassungspunkte haben Kleistsches Format, weil sich hinter ihnen ein Raum von ungeahnten Möglichkeiten eröffnet. Es zeichnet Rothmann aus, dass er diesen Raum nicht ausdeutet. Er erzählt weder, was es mit dem Traum auf sich hat, noch deutet er die Absichten der Frau. Dadurch aber verleiht er dem Schweigen Bedeutung und durch die Antwort des Mannes erfährt dieser Raum eine unerwartete Erweiterung.
Als Episode hält Ralf Rothmann diese ungewöhnliche Begegnung fest. Einzigartig wird sie nicht dadurch, was sich aus ihr entwickelt. Es geht ihm nur um diesen Augenblick. Denn es handelt sich um einen Zufall, von dem nicht das Glück des Versprechens, sondern das der Entsagung ausgeht: Beide bürden dem Moment keine Zukunft auf.
Auch der Erzählung "Traber-Sonate" liegt dieses Erzählprinzip zugrunde. Rothmann führt das Handlungsgeschehen in beiden Erzählungen bis zu einem Punkt, an dem eine erklärende Einlassung zu erwarten wäre. In dieser Geschichte kreist alles um die Frage: Warum hat ein Mann zwölf Jahre im Gefängnis gesessen? Diese Frage bleibt unbeantwortet. Es wird nichts erklärt und nichts geklärt.
Rothmann beherrscht die subtile Kunst des Erzählens. Er kann aber auch einen ganz anderen, härteren Ton anschlagen, wenn es gilt, die erbärmlichen Zustände der Wirklichkeit zu entlarven. In "Alte Zwinger" wird nichts zurückgehalten, sondern die vertrackten Verhältnisse werden in ihrer absoluten Trostlosigkeit gezeigt. Nach der Lektüre weiß man, warum diese Geschichte erzählt werden musste, aber auch, warum man sie kaum aushält.
Besprochen von Michael Opitz
Ralf Rothmann: Gethsemane
Insel Verlag, Berlin 2012
45 Seiten, 10,95 Euro
Ralf Rothmann: Shakespeares Hühner
Erzählungen, Suhrkamp Verlag, Berlin 2012
212 Seiten, 19,95 Euro
Kurz vor ihrer Abreise aus Paris sitzt eine junge Frau in ihrem fast leeren Stammcafé auf dem Montparnasse. Der Kellner lässt sich wie stets zu keiner Freundlichkeit herab. Dennoch liegt ein Hauch von wehmütigem Abschied in der Luft. Erfüllt ist die Luft aber auch von einem erdigen Geruch. Ein Mann, der sie an ihren Vater erinnert, hat neben sich auf dem Stuhl einen Hut zu liegen, der randvoll mit den schönsten Waldpilzen gefüllt ist. Ein Pilzsammler mitten in Paris - sie ist geneigt, an ein Wunder zu denken. Als der Mann im Begriff ist zu gehen, spricht ihn die junge Frau an: "Entschuldigung? Ich kenne Sie!" Als ihr dieser schlichte, eine Annäherung nicht sehr originell einleitende Satz bewusst wird, weiß sie, dass sie einen Fehler gemacht hat. Um die Situation zu retten fügt sie hinzu: "Aus einem Traum..."
Die drei Auslassungspunkte haben Kleistsches Format, weil sich hinter ihnen ein Raum von ungeahnten Möglichkeiten eröffnet. Es zeichnet Rothmann aus, dass er diesen Raum nicht ausdeutet. Er erzählt weder, was es mit dem Traum auf sich hat, noch deutet er die Absichten der Frau. Dadurch aber verleiht er dem Schweigen Bedeutung und durch die Antwort des Mannes erfährt dieser Raum eine unerwartete Erweiterung.
Als Episode hält Ralf Rothmann diese ungewöhnliche Begegnung fest. Einzigartig wird sie nicht dadurch, was sich aus ihr entwickelt. Es geht ihm nur um diesen Augenblick. Denn es handelt sich um einen Zufall, von dem nicht das Glück des Versprechens, sondern das der Entsagung ausgeht: Beide bürden dem Moment keine Zukunft auf.
Auch der Erzählung "Traber-Sonate" liegt dieses Erzählprinzip zugrunde. Rothmann führt das Handlungsgeschehen in beiden Erzählungen bis zu einem Punkt, an dem eine erklärende Einlassung zu erwarten wäre. In dieser Geschichte kreist alles um die Frage: Warum hat ein Mann zwölf Jahre im Gefängnis gesessen? Diese Frage bleibt unbeantwortet. Es wird nichts erklärt und nichts geklärt.
Rothmann beherrscht die subtile Kunst des Erzählens. Er kann aber auch einen ganz anderen, härteren Ton anschlagen, wenn es gilt, die erbärmlichen Zustände der Wirklichkeit zu entlarven. In "Alte Zwinger" wird nichts zurückgehalten, sondern die vertrackten Verhältnisse werden in ihrer absoluten Trostlosigkeit gezeigt. Nach der Lektüre weiß man, warum diese Geschichte erzählt werden musste, aber auch, warum man sie kaum aushält.
Besprochen von Michael Opitz
Ralf Rothmann: Gethsemane
Insel Verlag, Berlin 2012
45 Seiten, 10,95 Euro
Ralf Rothmann: Shakespeares Hühner
Erzählungen, Suhrkamp Verlag, Berlin 2012
212 Seiten, 19,95 Euro