Momente des Erwachens

19.12.2008
Rubén Bertomeu heißt der robuste Spekulant aus Rafale Chirbes Roman "Krematorium". Typen wie er sind für die Verhunzung so vieler spanischer Küstengebiete verantwortlich, mit seinem Zynismus ist er aber auch ein interessanter Protagonist des Buches.
Matías hat keine Stimme mehr, denn er ist an diesem heißen Morgen in dem spanischen Mittelmeerstädtchen Misent verstorben. Über ihn, den ehemaligen Revolutionär, den Idealisten, der sich als Ökobauer für die Rettung eines zumindest kleinen Landstriches an dem von seinem Bruder, dem Baulöwen Rubén Bertomeu zerstörten Küstenstreifen einsetzte, erfährt der Leser in "Krematorium", dem neuesten Roman des großen spanischen Schriftstellers Rafael Chirbes, nur vom Hörensagen, aus zweiter Hand.

Vor allem von Rubén, der sich vom kleinen, kunstsinnigen Architekten mittels Mauscheleien und viel krimineller Energie zum mächtigen Bauherren emporgearbeitet hat und jetzt die Küste der "großen Badewanne" Mittelmeer mit gesichtlosen Betonburgen zupflastert. Aber auch durch Silvia, die Restauratorin und Tochter der Baulöwen, die dessen Umtriebe ebenso bekämpft wie ihr über alles geliebter Onkel Matiás, zugleich aber gern das Geld des Tycoons nimmt, um sich ein luxuriöses Leben zu gönnen. Desgleichen Federico Brouard, einst ein Jugendfreund von Rubén, ein gefeierter Romancier, aber jetzt in Vergessenheit geraten, der gemeinsam mit Matiás Widerstand gegen die Pläne des ehemaligen Freundes leistet, ihm sein Grundstück verwehrt, das dieser zur Durchführung seiner Bauvorhaben benötigt, um es sich für viel Geld schließlich doch abkaufen zu lassen, damit er weiter seinen Lastern frönen kann.

Sie alle, aber auch Mónica, die blutjunge zweite Frau des Baulöwen, Ramón Collado, einer von dessen Handlangern in den schweren, skrupellosen Jahren des Aufstiegs, und Juri, einer der zahlreichen Russen, die sich jetzt in der Gegend breitmachen, erheben ihre Stimme in großen inneren Monologen, gedenken des Toten und räsonieren zugleich über ihr eigenes Dasein, die Geschehnisse, die sie, jeden für sich, dahin brachten, wo sie jetzt stehen.

Es ist ein gewaltiger Chor, den Rafael Chirbes in den wenigen Stunden zwischen dem Tod des Matiás und dessen Trauerfeier und Einäscherung anstimmen lässt und den er so meisterhaft dirigiert, dass etwas Seltenes, Kostbares geschieht: Der Schriftsteller scheint hinter die Protagonisten zurückzutreten, die er erfunden und denen er Sprache verliehen hat, so dass diese sich vermeintlich von allen erzählerischen und dramaturgischen Beschränkungen lösen, Eigenleben und somit Authentizität erlangen.

Zugleich scheint für Chirbes, der dieses Jahr für "Krematorium" mit dem Spanischen Nationalpreis ausgezeichnet wurde, mit diesem Roman die Auseinandersetzung mit dem Franco-Regime abgeschlossen. In epischen Werken ("Der lange Marsch", "Der Fall von Madrid", "Die schöne Schrift") hat sich der 1949 in der Nähe von Valencia geborene Autor mit dem Faschismus und dessen Auswirkungen auf die spanische Gesellschaft auseinandergesetzt. Jetzt, da die Transición, der Übergang von der Diktatur zur Demokratie abgeschlossen ist, zieht er Bilanz und überprüft, was aus dem neuen, dem freien und wohlhabenden Spanien geworden ist. Insofern ist "Krematorium" auch eine Überprüfung der eigenen Generation und ihres Werdegangs.

Und siehe da, im Chor der Stimmen, die den Matiás beweinen, schneidet der hemdsärmlige Macher und Pragmatiker Rubén gar nicht so schlecht ab, jedenfalls im Vergleich mit den schwätzenden und letztlich allesamt gescheiterten Idealisten.

Rezensiert von Georg Schmidt

Rafael Chirbes: Krematorium
Übersetzt von Dagmar Ploetz
Verlag Antje Kunstmann, München 2008, 428 Seiten, 22 Euro