Momente unverhoffter Nähe oder Abstoßung
Nirgendwo ist kein Ort, sondern ein Moment in der Zeit, der vergeht. In Yasmina Rezas Geschichten geht es denn auch vor allem um Kinder und Alte, an denen sich die Vergänglichkeit so gut messen lässt. Ein schmerzlich schönes Buch voll Melancholie.
Dieser Prosaband hat etwas von einem Familienalbum: intime Momentaufnahmen aus dem Leben mit Kindern, Eltern, Freunden. Zugleich aber sind die Aufzeichnungen diskret, denn sie zielen auf etwas anderes als die private Mitteilung, auf Allgemeingültiges: die leisen Schrecken der Vergänglichkeit.
"Nirgendwo" lautet der Titel - und dieses Nirgendwo ist kein Nicht-Ort auf der Landkarte; es liegt in der Zeit. Der unwiederbringliche Moment, der bald überspült wird von neuen Stunden und Tagen - darum geht es in Rezas Texten, die beiläufig und unangestrengt wirken, aber geschliffene kleine Prosakunstwerke sind.
Der Blick auf Alte und Kinder dominiert. Zeigt sich doch an ihnen die Vergänglichkeit, die "Bösartigkeit der Zeit" am deutlichsten. Da wird vom gebrechlichen Vater erzählt, mit dem die Tochter die Leidenschaft des Klavierspielens teilt. Trotzdem hat er sich stets geweigert, ihr sein Lieblingsstück, Beethovens Hammerklavier-Adagio vorzuspielen. Erst als ihm die Todeskrankheit schon ins Gesicht geschrieben steht, gibt er dem Drängen der Tochter nach, quält sich aus den Laken und setzt sich geschwächt ein letztes Mal ans Klavier: verpatzt und entstellt das Stück, die Noten stürzen in ein "chaotisches Gebrodel". Es ist ein schrecklicher, nie wieder gut zu machender Moment.
Die Alten verschwinden in der Zeit; das nennt man Tod. Die Kinder verschwinden in der Zeit; das nennt man Erwachsenwerden. Beim Blick auf die Kräusellocken im Nacken ihres kleinen Sohnes denkt die Erzählerin daran, wie er wohl als alter Mann aussehen wird. Und wenn die Kinder einst von ihren Kindern begraben werden - "wer wird dann wissen, wer ich für ihn war und wie ich ihn verliebt berührt und gepflegt habe?" Solche Emphase der Vergänglichkeit mag zunächst forciert klingen, aber diese Prosastücke beglaubigen ein schmerzhaftes Zeitbewusstsein.
Da ist ein kleines "Buch" verloren gegangen, das die siebenjährige Tochter selbst geschrieben hat. Die nimmt es nicht schwer, die Mutter aber ist untröstlich. Für sie ist das verlorene Heft ein unersetzbares Dokument: Schon hat sich ihre Tochter weiterentwickelt, nie wieder wird sie so erzählen, "sie zeichnet auch nicht mehr mit diesem spontanen Charme". Das verlorene Büchlein erzählt also selbst vom Verlust, von einer bereits "entschwundenen Welt". Ein Foto zeigt die Tochter mit dem "Lächeln der Zahnlosen" - gemeint ist das chaotische Gebiss im Mund des Kindes, Milchzähne, Lücken und Erwachsenenzähne, alles schief durcheinander, und beim Lächeln ergibt gerade diese "Unfertigkeit" eine höchst vergängliche Anmut.
Andere Stücke des Bandes erinnern an die Paare-Passanten-Welt, wie sie Botho Strauss skizziert, protokolliert und durchreflektiert hat: Begegnungen in Konzerthäusern oder auf der Straße, ein Paar im Auto, Momente unverhoffter Nähe oder plötzlicher Abstoßung im Umgang vertrauter Menschen, Aufbrechen von Routinen, Befremdungen: Innere Ereignisse in äußerlich unscheinbaren Situationen, von der Autorin mit großer Sensitivität vergegenwärtigt. Wie Strauss, aber ohne dessen manchmal hochfahrenden Ton, wendet sich Yasmina Reza gegen die Statuierung einer untragischen Existenz, gegen das "leichtfertige" Leben. Sie spricht vom "dunklen Abhang der Liebe", von der Untrennbarkeit von Ekstase und Schmerz. Diese Miniaturen der Melancholie berühren den Leser; ein schmerzlich schönes Buch.
Besprochen von Wolfgang Schneider
Yasmina Reza: Nirgendwo
Aus dem Französischen von Eugen Hemlé, Frank Heibert und Hinrich Schmidt-Henke
Hanser Verlag, München 2012
150 Seiten, 17,90 Euro
"Nirgendwo" lautet der Titel - und dieses Nirgendwo ist kein Nicht-Ort auf der Landkarte; es liegt in der Zeit. Der unwiederbringliche Moment, der bald überspült wird von neuen Stunden und Tagen - darum geht es in Rezas Texten, die beiläufig und unangestrengt wirken, aber geschliffene kleine Prosakunstwerke sind.
Der Blick auf Alte und Kinder dominiert. Zeigt sich doch an ihnen die Vergänglichkeit, die "Bösartigkeit der Zeit" am deutlichsten. Da wird vom gebrechlichen Vater erzählt, mit dem die Tochter die Leidenschaft des Klavierspielens teilt. Trotzdem hat er sich stets geweigert, ihr sein Lieblingsstück, Beethovens Hammerklavier-Adagio vorzuspielen. Erst als ihm die Todeskrankheit schon ins Gesicht geschrieben steht, gibt er dem Drängen der Tochter nach, quält sich aus den Laken und setzt sich geschwächt ein letztes Mal ans Klavier: verpatzt und entstellt das Stück, die Noten stürzen in ein "chaotisches Gebrodel". Es ist ein schrecklicher, nie wieder gut zu machender Moment.
Die Alten verschwinden in der Zeit; das nennt man Tod. Die Kinder verschwinden in der Zeit; das nennt man Erwachsenwerden. Beim Blick auf die Kräusellocken im Nacken ihres kleinen Sohnes denkt die Erzählerin daran, wie er wohl als alter Mann aussehen wird. Und wenn die Kinder einst von ihren Kindern begraben werden - "wer wird dann wissen, wer ich für ihn war und wie ich ihn verliebt berührt und gepflegt habe?" Solche Emphase der Vergänglichkeit mag zunächst forciert klingen, aber diese Prosastücke beglaubigen ein schmerzhaftes Zeitbewusstsein.
Da ist ein kleines "Buch" verloren gegangen, das die siebenjährige Tochter selbst geschrieben hat. Die nimmt es nicht schwer, die Mutter aber ist untröstlich. Für sie ist das verlorene Heft ein unersetzbares Dokument: Schon hat sich ihre Tochter weiterentwickelt, nie wieder wird sie so erzählen, "sie zeichnet auch nicht mehr mit diesem spontanen Charme". Das verlorene Büchlein erzählt also selbst vom Verlust, von einer bereits "entschwundenen Welt". Ein Foto zeigt die Tochter mit dem "Lächeln der Zahnlosen" - gemeint ist das chaotische Gebiss im Mund des Kindes, Milchzähne, Lücken und Erwachsenenzähne, alles schief durcheinander, und beim Lächeln ergibt gerade diese "Unfertigkeit" eine höchst vergängliche Anmut.
Andere Stücke des Bandes erinnern an die Paare-Passanten-Welt, wie sie Botho Strauss skizziert, protokolliert und durchreflektiert hat: Begegnungen in Konzerthäusern oder auf der Straße, ein Paar im Auto, Momente unverhoffter Nähe oder plötzlicher Abstoßung im Umgang vertrauter Menschen, Aufbrechen von Routinen, Befremdungen: Innere Ereignisse in äußerlich unscheinbaren Situationen, von der Autorin mit großer Sensitivität vergegenwärtigt. Wie Strauss, aber ohne dessen manchmal hochfahrenden Ton, wendet sich Yasmina Reza gegen die Statuierung einer untragischen Existenz, gegen das "leichtfertige" Leben. Sie spricht vom "dunklen Abhang der Liebe", von der Untrennbarkeit von Ekstase und Schmerz. Diese Miniaturen der Melancholie berühren den Leser; ein schmerzlich schönes Buch.
Besprochen von Wolfgang Schneider
Yasmina Reza: Nirgendwo
Aus dem Französischen von Eugen Hemlé, Frank Heibert und Hinrich Schmidt-Henke
Hanser Verlag, München 2012
150 Seiten, 17,90 Euro