Monika Walter: "Der verschwundene Islam? Für eine andere Kulturgeschichte Westeuropas"
Wilhelm Fink Verlag, Paderborn 2016
533 Seiten, 69,00 Euro
Verleugnetes Kulturerbe
Während der knapp 800 Jahre dauernden arabischen Herrschaft in Spanien entstand ein muslimisches Zentrum kultureller und wissenschaftlicher Blüte. Doch dieses arabische Kulturerbe verschwand aus der Geschichtsschreibung. Monika Walter geht den Spuren nach.
"Unbehagliche Geschichte" oder "Geschichte unter dem Teppich" heißt es bei spanischen und französischen Forschern, wenn sie über die arabische Herrschaft auf der Iberischen Halbinsel schreiben. Knapp 800 Jahre überdauerte "Al-Andalus", das von 711 bis 1492 existierte und im elften Jahrhundert im Kalifat von Córdoba ein goldenes Zeitalter erlebte: Ein muslimisches Zentrum kultureller und wissenschaftlicher Blüte, auf europäischem Boden, nördlich des Mittelmeers.
Gehört der Islam also doch zu Europa? Natürlich! Doch wie kommt es, dass das arabische Kulturerbe Europas einem fast schon institutionalisierten Vergessen anheimfiel? Wieso gilt die Vorstellung eines "muslimischen Europas" nahezu als Sakrileg?
500-Seiten-Analyse über Literaturgeschichte
Die Romanistin Monika Walter hat auf über 500 Seiten eine Analyse vorgelegt, die den arabischen Spuren innerhalb der spanischen und französischen Literaturgeschichte nachgeht.
So spürt sie etwa dem zum Christentum zwangskonvertierten Morisken Ricote aus Miguel de Cervantes "Don Quixote" nach, der als fiktive Figur auf einen realhistorischen Hintergrund verweist: Der durch das Vertreibungsedikt von 1609 ausgewiesene und heimlich zurückgekehrte Araber betrauert den Verlust seiner Heimat, in der Juden, Christen und Muslime toleriert wurden.
So spürt sie etwa dem zum Christentum zwangskonvertierten Morisken Ricote aus Miguel de Cervantes "Don Quixote" nach, der als fiktive Figur auf einen realhistorischen Hintergrund verweist: Der durch das Vertreibungsedikt von 1609 ausgewiesene und heimlich zurückgekehrte Araber betrauert den Verlust seiner Heimat, in der Juden, Christen und Muslime toleriert wurden.
Dass Miguel de Cervantes als spanischer Nationaldichter den Topos der Moriskenvertreibung literarisch verarbeitete und Mitgefühl mit dem heimatlosen Ricote anklingen ließ, zeigt, wie sehr die Anrainerstaaten des Mittelmeers auch für eine historische Kontaktzone stehen, in der sich die muslimische und christliche Welt verzweigen. Eine Aufarbeitung des arabischen Beitrags zur spanischen Nationalgeschichte ist bislang weitgehend ausgeblieben.
Europa war den Prinzipien der Aufklärung verpflichtet
Anders in Frankreich: Dort initiierte der algerisch-französische Philosoph Mohammed Arkoun 2006 eine umfassende "Geschichte des Islam und der Muslime in Frankreich". Im Vorwort verweist der Historiker Jacques le Goff auf eine westeuropäische Kolonisierung der Geschichtsschreibung, die sich über Bilder des "Anderen" bestimme.
Die Rolle des "Anderen" wurde dabei in historischer Abgrenzung den Muslimen zugewiesen: Während das Fortschrittsdenken Europa ergriff, wurde die arabische Welt als unterentwickelt und ahistorisch definiert. War Europa den Prinzipien der Aufklärung und der Vernunft verpflichtet, bedurfte es eines mittelalterlichen, religiösen Konterparts. So erstarrten die Begriffswelten "Islam" und "Europa" zu einander ausschließenden Gegensätzen.
Eine detaillierte Fleiß- und Denkarbeit
Die Bedeutung von Monika Walters detaillierter Fleiß- und Denkarbeit kann man nicht hoch genug schätzen: Während heute Terroranschläge und Islamismus eine anti-muslimische Stimmung in Europa anheizen, droht das miteinander verwobene Kulturerbe erneut zu verschwinden.
Mit ihrem Buch fordert Monika Walter dagegen eine Neufassung der "europäischen Identität", die neben der jüdisch-christlichen auch eine muslimische Dimension berücksichtigt. Ihr Buch ist eine Glanzleistung der Dekonstruktion nicht nur spanischer und französischer, sondern europäischer Mythen, gekrönt mit einer hochpolitischen Schlussfolgerung. Eine europäische Pflichtlektüre!