Monografie über Online-Spiel "EVE"

Spielewelten werden historisch

Besucher der Messe Gamescom - der größen Computerspielmesse Europas - nutzen die Gelegenheit, Spiele auszuprobieren. 17.8.2016
Eintauchen in die Geschichte von Spiele-Welten. © picture alliance/dpa/Oliver Berg
Von Tobias Nowak |
Die Handlung von Online-Spielen ist inzwischen so komplex, dass es wohl nur eine Frage der Zeit war, bis das erste Geschichtsbuch darüber herauskommen würde. "Empires of Eve" führt die Leser in die Welt eines der weltweit bekanntesten Spiele ein.
"Die Bausteine des EVE Online Universums – genannt New Eden − sind Nullen und Einsen, nicht die üblichen Elemente der Erde. Aber was die Erde und New Eden gemeinsam haben, ist die Menschheit. Eifersucht, Ehrgeiz, Rache, Gier, Hass und Freundschaft stehen im Zentrum von EVE Online."
So steht es im Vorwort des Buches "Empires of EVE – A History of the Great Wars of EVE Online" – "Eine Geschichte der großen Kriege von Eve online".
"Jedes Gefühl, das es in der "traditionellen" Welt gibt, findet man auch dort. In diesem Sinne ist New Eden eine neue Provinz der Menschheit und deren Geschichte ist es wert, bewahrt zu werden."

Die erste Monografie

Andrew Groen hat das mutmaßlich erste Geschichtsbuch geschrieben, das sich mit der Historie der Ereignisse in einem Computerspiel befasst. "EVE Online" zählt ohne Frage zu den außergewöhnlichsten aller Spielwelten, aber der Gedanke, eine solche Spielwelt wie reale Geschichte zu behandeln und darüber eine Monografie zu verfassen, wirft zumindest Fragen auf. Andrew Groen antwortet:
"In diesem Spiel haben sich Regierungen entwickelt, die von zehntausenden echten Menschen unterstützt werden, welche deren ideologische Vision teilen, und die für ihre Anführer und Diktatoren zu kämpfen bereit sind. Diese Vorgänge sind bisher einzigartig in der Geschichte der Menschheit und müssen dokumentiert werden."
Besucher der Gamescom 2016 in Köln tragen VR-Brillen. 17.8.2016
Online- bzw. Virtual-Reality-Spiele sind mittlerweile so komplex, dass ihre Handlung Geschichtsbücher füllt.© picture alliance/dpa/Oliver Berg
Das Weltraum-Rollenspiel EVE besteht seit 2003 und hat seine Spielerbasis, seine Spielmechanik und seinen Mythos ständig ausgebaut. Das "spannendeste langweilige Game der Welt" wurde es genannt, seine Anforderungen sind aber so hoch, dass die allermeisten, die es ausprobieren, bereits nach wenigen Tagen wieder aufgeben. Berühmt-berüchtigt ist auch der raue Umgang der Spieler miteinander.
Trotzdem: Die isländische Entwicklerfirma CCP hat ein Spiel geschaffen, welches seinen Spielern so wenige Grenzen setzt, dass Emergenz zu einer prägenden Eigenschaft des Spiels wird: Die freie, scheinbar chaotische Interaktion zwischen den Spielern gebiert eine − von den Herstellern weder geplante noch vorhergesehene − nicht endende Folge von Ereignissen, durch die sich Strukturen herausbilden. Wie in der Geschichte der Menschheit.
"Kein anderes Spiel hat diese für Geschichte unverzichtbare Eigenschaft: Kausalität. Wenn man in ‚World of Warcraft‘ ein Boss-Monster tötet, wird es nach einer Weile automatisch wieder ins Spiel gesetzt, damit auch andere Spieler dort Beute machen können. Aber wenn man in ‚EVE Online‘ jemandes Schiff zerstört, oder sogar eine ganze Flotte, oder jemandes Heimat besetzt: Das ist permanent. Und das hat für eine virtuelle Welt sehr faszinierende Folgen, wie Ressourcenknappheit oder emotionale Bindung an Gegenstände. Aber von diesen Dingen wird Geschichte langfristig geformt.

Die emotionale Bindung wird immer stärker

Groens These, dass der virtuelle Raum durch die emotionale Bindung an ihn ein echter wird, folgen auch viele Wissenschaftler. Tobias Knoll, Spielforscher und Religionswissenschaftler an der Universität Heidelberg, hat sich auch ausgiebig mit ‚EVE Online‘ beschäftigt:
"Da sagt ein Spieler: "Ja, ‚EVE‘ mag zwar nur ein virtueller Raum sein, aber für uns – basierend auf den Freundschaften und den Verbindungen, die wir schließen miteinander – ist es so echt wie alles andere auch. Als Wissenschaftler, wenn das so wahrgenommen wird von den Spielern, dann kann ich nicht sagen: ‚Nee, aber es ist ja bloß Bits und Bytes‘.
In unserer Disziplin gehen wir von einem konstruktivistischen Ansatz aus, auch ein konstruktivistischer Ansatz an Realität. Letzten Endes zählt das, was Leute wahrnehmen und sagen und äußern im Bezug zu Realität und anderen Themen. Das heißt, wenn ein Spieler sagt: "Für mich ist das real", dann steht das einfach so."
Diese "reale” Geschichte, die in "Empires of EVE" beschrieben wird, ähnelt der der europäischen Völkerwanderung: Stammesverbände ziehen durch einen Sternenhaufen, erobern sich neue Lebensräume, integrieren die vorherigen Bewohner oder vertreiben diese. Wirtschaftliche Not, Kriegslust, Abenteurertum sind die Motive − Propaganda, Schlachten, Belagerungen sind die Mittel.

Zweckbündnisse sind gefragt

Die Spiel-Politik wird geprägt von Zweckbündnissen und langjährigen Allianzen, Spionage und Gegenspionage, Verrat und Betrug, Wirtschaftsblockaden und Produktionsorganisation. Und zwar komplett von Spielern initiiert und durchgeführt, meist über Plattformen außerhalb des eigentlichen Spiels. Tobias Knoll:
"Diese Interaktion der Spieler, die Auseinandersetzung der Spieler mit dem Spiel und dass das alles von Menschen getrieben ist, das sind alles Punkte, die sind eigentlich nur ein Beweis dafür, wie wichtig es ist, dass man sich das mal genauer anschaut, was da passiert. Und ob man sich da jetzt auf Religion schaut, ob man da auf Historie schaut, letzten Endes sämtliche sozialen, kulturwissenschaftlichen Disziplinen sind da eigentlich meiner Meinung nach in der Pflicht, zumindest einen Teil ihrer Aufmerksamkeit darauf zu richten."

Bestenfalls ein journalistischer Text

Den langfristigen historischen Blick hat Groen auch außerhalb des Spiels, denn schon heute verbringen die meisten von uns viel Zeit in virtuellen Räumen, von Games bis Facebook.
"Ich bin überzeugt, dass wir immer mehr Zeit im virtuellen Raum verbringen werden. Und in 50 oder 100 Jahren werden die Leute wissen wollen, wie es war, als die Menschheit ihre ersten Schritte in virtuelle Realitäten machte."
Natürlich ist "Empires of EVE" kein Geschichtsbuch im engeren, wissenschaftlichen Sinne: Quellenangaben sind rar, einen Fußnotenapparat sucht man vergeblich, das Glossar ist bestenfalls ein Fragment, und die Methode wird nur punktuell dargelegt. Es ist ein journalistischer Text, der aber eine sehr spezielle, relevante Perspektive eröffnet auf ein Phänomen, das uns in Zukunft immer stärker prägen wird.
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