"Monströse Trauergesten im Land der Täter sind deplatziert"

Moderation: Jürgen König |
Anlässlich der Einweihung des Mahnmals für die im Nationalsozialismus verfolgten Homosexuellen hat der Historiker Peter Reichel die Gedenkkultur in Deutschland kritisiert. Die Toten seien monumental vereinnahmt worden, statt ihrer pietätvoll und mit Respekt "an ihren Sterbeorten" zu gedenken. Wichtigste Aufgabe sei es jedoch, im Land der Täter immer wieder zu fragen, wie es zu den Verbrechen der Nationalsozialisten kommen konnte.
Jürgen König: 75 Jahre nach Ernennung Hitlers zum Reichskanzler, 60 Jahre nach der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte wird den von den Nazis verfolgten Homosexuellen heute in Berlin ein Gedenkort gewidmet. Der Lesben- und Schwulenverband und die Initiative "Der homosexuellen NS-Opfer gedenken", sie haben dieses Denkmal initiiert, der Bundestag beschloss es vor fünf Jahren, ein dänisch-norwegisches Künstlerpaar führte es aus, Michael Elmgreen und Ingar Dragset. Gast im Studio ist der Historiker und Politologe Prof. Peter Reichel. Herr Reichel, guten Morgen!

Peter Reichel: Ich grüße Sie!

König: Beginnen wir mit denen, um die es geht, Homosexuelle zur NS-Zeit. Welchen Diskriminierungen, Drangsalierungen waren sie ausgesetzt? Wann setzten die Verfolgungen ein? In welchem Ausmaß fanden sie statt?

Reichel: Homosexuelle galten in der biologisch-medizinischen Rassenideologie des Nationalsozialismus als Gemeinschaftsfremde, als Entartete, als Jugendverführer, als Infektionsgefahr. Sexualität wurde im Dritten Reich bevölkerungs- und gesundheitspolitisch verstanden. Homosexualität bei Männern und Frauen galt als egoistische und pathologische Form des Sexualverhaltens, und das eben nicht erst seit 1933. Homosexuelle waren seit 1871 strafrechtlich diskriminiert, seit der Einführung des berüchtigten Paragraph 175.

Die Nazis haben die Kriminalisierung der Homosexualität radikalisiert, und mehrere Tausend Homosexuelle in den KZs ermordet. Davon waren auch Mitglieder der NSDAP und ihrer Organisationen betroffen. Man muss sich ja erinnern und wissen, dass sie von ihren Wurzeln her eine soldatisch-männliche Bewegung gewesen ist.

Die NS-Führung nutzte den Vorwurf der Homosexualität aber nicht nur bevölkerungspolitisch, sondern auch machtpolitisch, um gegen Oppositionelle vorzugehen, ob gegen eigene Leute wie den SA-Führer Ernst Röhm 1934, gegen Geistliche oder missliebige Militärs wie den Chef des Generalstabs General Freiherr von Fritsch, der als homosexuell verleumdet und '38 von Hitler entlassen wurde.

Himmler hat dann die Reichszentrale zur Bekämpfung von Homosexualität und Abtreibung eingerichtet. Seit '38 konnte jeder Homosexuelle nach Verurteilung in sogenannte Schutzhaft genommen werden. Etwa 1,5 Millionen Männer waren von einer Bevölkerung von 60 Millionen durch die Verschärfung des Paragraph 175 bedroht.

Auch lesbische Frauen wurden als sogenannte Asoziale in Konzentrationslager eingeliefert, auch wenn sie strafrechtlich nicht diskriminiert waren.

Nicht unwichtig ist, denke ich, die Unterscheidung zwischen anlagebedingten und verführten, umerziehbaren, Homosexuellen, was zwangsweise Kastration im Umfang von etwa 3000 bzw. psychotherapeutische Maßnahmen zur Folge hatte. Die in den Lagern mit dem rosa Winkel gekennzeichneten Homosexuellen standen mit den Juden, Sinti und Roma und sowjetischen Kriegsgefangenen auf der untersten Stufe.

Ihre strafrechtliche Diskriminierung dauerte, das muss man sich auch immer wieder ins Gedächtnis zurückrufen, bis weit in die Bundesrepublik. Ich selbst kann mich gut erinnern, dass ich als Kind in den 1950er Jahren jedes Jahr am 17. Mai, insofern kommt die Einweihung eigentlich jetzt zehn Tage zu spät, von meinem Vater und meinem Onkel mir damals unverständliche Sprüche hörte. Der Paragraph 175 galt bekanntlich in der Bundesrepublik bis 1969.

König: Und zwar in der Nazi-Fassung?

Reichel: In der Nazi-Fassung, in der verschärften Nazi-Fassung.

König: Es hat, als dieses Denkmal dabei war, diskutiert und dann noch entwickelt zu werden, viel Streit gegeben. Alice Schwarzer oder auch die bekennende Lesbe, die Schauspielerin Ulrike Folkerts haben darauf gedrängt, auch weibliche Homosexuelle zu berücksichtigen. Man damals dagegen ins Feld geführt, in den KZs habe es keine Frau mit rosa Winkel gegeben, auch in der Bundesrepublik hätte sich dieser Paragraph 175 ausschließlich auf männliche Homosexualität bezogen. Also stehe den Lesben, wie man damals gesagt hat, gar kein Opferstatus zu. Sie haben es einmal schon kurz angedeutet. Gab es materielle Verfolgung von Lesben im Dritten Reich, im sogenannten?

Reichel: Es hat sie auch gegeben. Auch wenn es eine Diskrepanz gab zwischen der radikaleren Wirklichkeit, politischen Wirklichkeit und dem, was im Strafgesetzbuch stand.

König: Das Berliner Denkmal des Künstlerduos Elmgreen und Dragset, das liegt nahe am Brandenburger Tor, nimmt eindeutig Bezug auf das Holocaust-Mahnmal von Peter Eisenman.

Lassen Sie es mich kurz beschreiben. Die Grundform ist eine Stele, die denen von Peter Eisenman ganz ähnlich sieht, in einem Kubus hineingeschnitten ein Fenster. Dadurch sieht der Betrachter eine Filmprojektion, zwei sich küssende Männer, das ist, wie soll ich sagen, eine scheinbar endlose Szene. Aus Gründen der Gleichberechtigung nach diesem erwähnten Streit soll jetzt nach zwei Jahren ein weibliches Paar gezeigt werden, dann wieder nach zwei Jahren ein männliches und immer so weiter.

Das Denkmal soll laut Beschluss des Bundestages von 2003 die "verfolgten und ermordeten Opfer ehren, die Erinnerung an das Unrecht wachhalten sowie ein beständiges Zeichen gegen Intoleranz, Feindseligkeit und Ausgrenzung gegenüber Schwulen und Lesben setzen". So steht es auch geschrieben in einem Text unmittelbar am Denkmal. Erfüllt das Denkmal von Elmgreen und Dragset diese Anforderung? Und wissen Sie, ob Peter Eisenman mit dem Entwurf einverstanden ist?

Reichel: Mit ausdrücklicher Genehmigung von ihm, dem Erbauer des Holocaust-Mahnmals, das ja nun lange Zeit und bis heute, denke ich, zu Recht umstritten ist, haben die von Ihnen genannten dänisch-norwegischen Künstler darauf jenseits der Straße gewissermaßen zitierend Bezug genommen. Ich zitiere eine knappe formelartige Definition der Intention der Künstler, von Elmgreen:

Es ist als wenn, oder es soll sein, als wenn einer der Blöcke vom Holocaust-Denkmal nächtens über die Straße gelaufen wäre, sich in den Wald gestellt hätte und nun sagt, seht her, ich bin ein Teil der ganzen Geschichte, ich bin aber auch etwas Eigenes, ich bin schwul.

König: Sie haben sich ja, Herr Prof. Reichel, immer wieder gegen solche Denkmale ausgesprochen, haben auch bei uns im Programm schon gesagt, jeder Staat brauche zwar zentrale, nationale Symbole, um seine Geschichte sinnlich wahrnehmbar zu machen. Aber die Zahl dieser Denkmale, die müsse begrenzt bleiben, anderenfalls würden Aussage und Funktion undeutlich, widersprüchlich und diffus. Kann nicht ein solches Denkmal, wie es heute eingeweiht werden soll, für die im Nationalsozialismus verfolgten Homosexuellen nicht doch seinerseits zu einem nationalen Symbol werden, zu einem Bekenntnis der Rehabilitierung einer jahrzehntelangen verfemten Gruppe?

Reichel: Das kann es zweifellos und wird es vielleicht auch. Aber dennoch beharre ich auf meiner nun seit über zehn Jahren immer wieder wiederholten Position, dass wir doch eine falsch aufgezogene Gedenk- und Geschichtspolitik haben. Die öffentliche Debatte, auch um dieses Denkmal, hat sich überwiegend mit ästhetischen und gedenkpolitischen Fragen beschäftigt, aber nicht mit der grundlegenden geschichtspolitischen Frage nach Sinn und Zweck.

Ich fasse das noch einmal kurz und vereinfacht zusammen. Die Bundesrepublik, finde ich, macht es sich seit langem, seit Anfang der 90er Jahre viel zu einfach mit der öffentlichen Erinnerung an den Nationalsozialismus. Das Opfergedenken mit dem zentralen Holocaust-Mahnmal mag eine dem nationalen Image förderliche Geste sein. Deshalb findet es auch so viel Zustimmung. Im Land, aus dem die Täter kamen, ist sie aber auch verlogen.

Wir müssen doch vor allem eine Antwort finden und Auskunft geben auf die Frage: Wer waren die Täter? Woher kamen sie? Wie wurde man in Deutschland Massenmörder? Warum kamen so viele ungeschoren oder gering bestraft davon? Und was wurde aus den Initiatoren, den Organisatoren, den Bürokraten und Exzesstätern des Judenmords in der Bundesrepublik der 50er und 60er Jahre? Die Topographie des Terrors wäre dieser Ort. Aber das Dauerprovisorium an der Niederkirchner Straße steht seit Jahrzehnten ...

König: In Berlin.

Reichel: ...im Schatten der Erinnerung an den Judenmord.

König: Aber wenn Sie Regalmeter Täterbiographien, jetzt in Ihrer Terminologie, sehen, die ganzen Historikerdebatten, die ganzen auch öffentlich und leidenschaftlich geführten Auseinandersetzungen der letzten Jahre, kann man nicht sagen, das ist sehr wohl eine Auseinandersetzung und damit auch ein auch öffentlich praktiziertes Gedenken an die Täter und ein Hinterfragen, wer sie waren, wie kommt es, dass so viele Massenmörder geworden sind aus den ganz einfachen Leuten? Es hat doch diese Auseinandersetzung gegeben?

Reichel: Das bestreite ich nicht. Aber gleichwohl gibt es eine deutliche Asymmetrie, die zugunsten der Opfer geht. Im Land der Täter, finde ich, ist die monströse Trauergeste und anmaßende Dauerdebatte um das Opfergedenken deplatziert.

Lassen Sie mich das kurz erläutern: Wir hätten uns in angemessener nationaler Pietät darauf beschränken müssen, der NS-Opfer an ihren Sterbeorten mit Respekt, Scham und zurückhaltender künstlerischer Geste zu gedenken, statt sie monumental zu vereinnahmen und die Toten des Krieges und der Gewaltherrschaft sämtlich, sämtlich zu Opfern zu machen.

Die deutsche Erinnerungskultur lebt von Übervereinfachung und Mythenbildung. Letztlich sind wir alle nur Opfer Hitlers. Das begann in der frühen Nachkriegszeit, erreichte mit Kohls fataler Umgestaltung der Neuen Wache Anfang der 1990er Jahre den Bundestagsbeschluss für das Holocaust-Mahnmal Ende der 90er Jahre eine gleichsam staatsoffizielle Legitimation und wird sich fortsetzen.

Ob Bombenkrieg oder Vertriebenenzentrum, Sinti und Roma oder Homosexuelle, wir sprechen immer nur überwiegend nur von den Opfern, von den Massenmördern und ihren Karrieren, von der Vorgeschichte der NS-Herrschaft in der Weimarer Republik sprechen wir nicht oder doch zu wenig.

König: Aber wenn Sie sich den großen, ich mag das Wort Erfolg in diesem Zusammenhang nicht in dem Mund nehmen, aber den großen Zuspruch des Holocaust-Mahnmals anschauen, da findet doch schon das Gedenken statt. Ich weiß, es gibt auch Bratwurst essende Touristen, spielende Kinder usw. Aber es gibt auch sehr, sehr viele, die tatsächlich, sagen wir ruhig andachtsvoll durch den Stelenwald gehen, die sich in dem Informationszentrum sehr genau umschauen und sich eben sehr wohl informieren. Ich hab das mehrfach erlebt, und für mich war es so etwas wie Gedenken an die Opfer. Es gibt doch noch einen Ort der Pietät, den Sie anfordern.

Reichel: Noch einmal. Das ist ja unbestritten. Aber im Land, aus dem die Täter kamen, im Land, in dem das Verbrechen ausgedacht, organisiert, planvoll, verlässlich, deutsch umgesetzt worden ist, ist die allerwichtigste und bleibende Aufgabe zu fragen, wie war Hitler möglich? Warum ist Hitler nicht verhindert worden? Und warum hat der Antisemitismus gerade in Deutschland, den es in ganz Europa gab, dieses außerordentliche Verbrechen zur Folge gehabt? Erst wenn man diese Fragen immer wieder von Generation zu Generation wiederholt, diskutiert, darf man sich auch im zweiten Schritt der Opfer in ihren Sterbeorten, wie ich es gesagt habe, annehmen.

König: Dazu würde ich sagen, diese Frage wird von Generation zu Generation immer wieder neu gestellt, verschieden beantwortet. Aber die Diskussion findet statt.

Reichel: Ganz so hoffnungsvoll wie Sie bin ich nicht, aber ich lasse mich gerne eines Besseren überzeugen.

König: Heute um dreizehn Uhr wird in Berlin das Denkmal für die im Nationalsozialismus verfolgten Homosexuellen der Öffentlichkeit übergeben. Ein Gespräch mit dem Historiker und Politologen Prof. Peter Reichel. Vielen Dank!

Reichel: Ich danke Ihnen!
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