Reiner Stach: Kafka. Die frühen Jahre
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main
608 Seiten, 34 Euro
Das letzte Wort zu Kafka
18 Jahre lang hat Reiner Stach an seiner gewaltigen Biografie über Franz Kafka gearbeitet. Nun erscheint der dritte und letzte Band. Stach wendet sich darin Kafkas frühen Jahren zu - und kann dabei gleich mehrere Klischees auflösen.
Franz Kafka ist der deutschsprachige Schriftsteller des 20. Jahrhunderts mit dem gewaltigsten Nachleben. So viel wie über ihn wurde über keinen geschrieben, und in den letzten Jahren häuften sich auch die Biografien über ihn. Man darf das insgesamt dreibändige Werk von Reiner Stach aber nicht einfach hier einreihen. Es steht für sich, es liest sich selbst wie ein Roman. Es ist das auf lange Sicht wohl letzte Wort zu Kafka, es ist ein singuläres Ereignis.
Insgesamt 18 Jahre lang hat Stach an diesen weit mehr als 2000 Seiten gearbeitet. Der erste Band, "Die Jahre der Entscheidungen", erschien 2002, der zweite Band, "Die Jahre der Erkenntnis", 2008 – nun folgt der dritte und letzte Band, der in der Chronologie von Kafkas Leben aber an erster Stelle steht: "Die frühen Jahre".
Stach nähert sich Franz Kafka wie ein Historiker
Stach hat bis zum Schluss gewartet, um über diese Phase schreiben zu können, über die es kaum Selbstzeugnisse von Kafka gibt. So nähert sich Stach seinem Gegenstand wie ein Historiker. Die politische und gesellschaftliche Situation der Familie Kafka im Prag des Habsburgerreichs in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg wird minuziös ausgeleuchtet. Man merkt dabei, dass der Zugang zu den Archiven, vor allem zu den Zeitungen leichter geworden ist - auch wenn die mögliche Hauptquelle, die Tagebücher und insgesamt der Nachlass von Max Brod, aufgrund prekärer rechtlicher Streitigkeiten immer noch nicht zugänglich sind.
Stach kann durch Auswertung wirklich aller in Betracht kommenden Materialien gleich mehrere Klischees auflösen, die sich in Bezug auf die Gestalt Kafkas verfestigt haben. Gerade die Freundschaft mit Max Brod: Es gab keinesfalls ausschließlich jenen engen "Prager Kreis" mit Kafka, Felix Weltsch und Oskar Baum, den Brod mit sich selbst als Mittelpunkt proklamierte. Es gab Franz Werfel, es gab vor allem auch Verbindungen zwischen tschechischen und deutschen Schriftstellern. Kafka selbst sprach Tschechisch wie ein Muttersprachler.
Der Mensch Kafka, wie er bisher nicht fassbar war
Auch der Mythos vom reinen "Prager Deutsch", das man in seiner Abgeschlossenheit mit Kafkas Sprache in Verbindung bringt, entbehrt einer realen Grundlage: Stach sieht eher ein sprachliches Mischmasch. Durch die eingehende zeitgeschichtliche Einbettung entsteht in dieser Biografie der Mensch Kafka, wie er bisher nicht fassbar war: in den Spannungen zwischen Tschechen, Deutschösterreichern und Juden, die sich immer mehr aufbauten (ein eindrucksvolles Kapitel gilt dem "Dezembersturm" 1897, einer Eskalation der Gewalt), oder auch in den repressiven sexuellen Bedingungen (und die Rolle der Dienstmädchen hat dabei durchaus nichts Sentimentales). Es ist höchst eindrucksvoll und wirkt absolut bestechend, wie Reiner Stach hier die Entstehung großer Literatur am Beispiel Kafkas sichtbar macht.