Moralismus

Am deutschen Wesen soll mal wieder die Welt genesen

Ein erhobener Zeigefinger vor pinkem Hintergrund.
Moralismus ist letztlich unmoralisch. Er arbeitet mit Scham und Beschämung, sagt Christian Schüle. © Getty Images / Crispin la valiente
Ein Kommentar von Christian Schüle · 08.12.2022
Fußballer als Botschafter der Menschenrechte, Klimaaktivisten, die sich wegen apokalyptischer Szenarien festkleben, und eine Außenpolitik, die "wertebasiert" die Welt belehrt: Für den Autor Christian Schüle ist das ein neuer deutscher Moralismus.
Nein, die Klebe- und Kartoffelbrei-Aktivisten der „Letzten Generation“, der ganz sicher noch viele weitere Generationen folgen werden, vertreten keineswegs die Werte und Tugenden, die eine große Mehrheit als demokratisch-liberal ansieht.
Sie sabotieren, zerstören und nötigen mit dem Mandat der Selbstermächtigung – begründet mit einer pauschalen Apokalyptik, die sich ungefragt über jede Realität erhebt und als absolutes moralisches Prinzip von vornherein immer schon recht hat. Und zwar ohne Kontext und Differenzierung. Dieser autoritär gesinnte Moralismus heiligt all jene Mittel, die er für richtig hält.
Die neuerdings „wertebasierte“ deutsche Außenpolitik wiederum stülpt, unter Missachtung jahrhundertealter und durchaus problematischer Traditionen anderer Kulturkreise, dem Großteil der restlichen Welt unsere Wertvorstellungen über, die schon in Europa und im eigenen Land nicht eingehalten werden. Sogleich erwartet man, von den mit Moral Zwangsbeschenkten die dankbare Einsicht, wie schlecht, falsch und fehlbar sie sich doch verhalten.

Die Gefahr der Doppelmoral

Der Moralismus setzt Universalismus voraus – und erhöht somit die Gefahr der Doppelmoral immens. Selbstgerechtes Katar-Bashing für dessen Rückständigkeit in Angelegenheiten des Arbeitsrechts einerseits, sich andererseits aber für einen Vertrag auf Flüssigerdgas liebedienerisch vor den Katarern verbeugen.
Und war die pauschale Abwertung einer kulturellen Werteordnung kürzlich nicht noch astreiner Rassismus? Wenn die „wertebasierte“ Regierungspolitik wirklich auf Werten basiert, müsste erst einmal geklärt werden, welche Werte genau gemeint sind: die deutschen? Die europäischen? Die christlichen? Die der Aufklärung? Also Respekt vor Religion und Selbstbestimmung? Und gälte der Respekt vor Selbstbestimmung dann nicht genauso für Katar, Iran, Russland, China und alle anderen?

Was eine wertebasierte Politik bedeuten würde

Ginge es einer wertebasierten Politik wirklich darum, mit moralisch fragwürdigen Ländern nicht mehr zu kooperieren, könnte man kein einziges Bauteil mehr bestellen. So gut wie alle Lieferketten wären verwerflich. Folgerichtig müsste man auch die Zusammenarbeit mit dem Todesstrafen- und Folterstaat USA aufkündigen, mit dem NATO-Partner Türkei, mit den EU-Ländern Polen, Ungarn, Tschechien. Und so fort. Es würde kalt und einsam in und um Deutschland.
Konstruktiver und glaubwürdiger – gerade in Zeiten hochkomplexer Krisenzusammenhänge – wären weniger Moral und mehr Ethik. Weniger Anmaßung, mehr Pragmatismus. Wer den Klimawandel wirklich verhindern will, muss konkreten Naturschutz betreiben. Er muss aufforsten, renaturieren, Moore schützen und eine Kreislaufwirtschaft für Recycling etablieren. Das nun geschieht seit Langem bereits vielerorts – Nachhaltigkeit mit Nachdruck.

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Wer es wirklich ernst meint mit der Emanzipation nichtbinärer Liebe, muss mit dem gleichen Respekt vor kulturfremden wie konservativen Traditionen, den er universalmoralisch für alle einfordert, langfristig auf Veränderungen hinarbeiten: mit NGOs, Lobbygruppen und Verbänden von Queeren und Transgender-Personen im arabischen, asiatischen und afrikanischen Kulturraum.
Und wer die – unbedingt nötige – Gleichstellung von Mann und Frau erreichen will, braucht kein Gendersternchen, sondern muss Kitas ausbauen, frühe Hilfen in der Familienarbeit anbieten, Sorgearbeit gut entlohnen und auf eine geschlechtergerechte Verteilung von Arbeit, Zeit und Einkommen hinwirken.

Moralismus sanktioniert andere

Moralismus ist letztlich unmoralisch. Er arbeitet mit Scham und Beschämung. Er ermöglicht nicht, er sanktioniert. Er etabliert neue Tabus, wo er alte abschaffen will.
Er verurteilt jene, denen er Verurteilung vorwirft. Sollte sich dieses Bekehrungs- und Belehrungsregime radikalisieren, könnte der Fanatismus der Tadellosigkeit eines schlechten Tages zu einem Sozialkreditsystem führen, in dem das Verhalten jedes Bürgers mit Punkten und Noten danach bewertet wird, ob er das Richtige auch richtig genug tut.

Christian Schüle, geboren 1970, hat in München und Wien Philosophie, Soziologie und Politische Wissenschaft studiert. Er hat einen Lehrauftrag für Kulturwissenschaft an der Universität der Künste in Berlin und lebt als freier Schriftsteller, Essayist und Publizist in Hamburg. Unter seinen zahlreichen Büchern sind der Roman „Das Ende unserer Tage“ und zuletzt die Essays „Heimat. Ein Phantomschmerz“ sowie „In der Kampfzone“.

Philosoph und Publizist Christian Schüle
© privat
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