Gesellschaftliche Debatte über Rücksicht ist notwendig
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Durch die Coronakrise wird deutlich: Unsere Gesellschaft muss sich über ihren moralischen Kompass verständigen. Dafür müsste eine breite Debatte geführt werden, sagt Rechtswissenschaftler Nils Jansen. Doch fehle es dazu gerade an Akteuren.
Gabi Wuttke: Das Coronavirus wirft viele moralische Fragen auf. Die zu beantworten sollten weder der Politik den Gerichten noch der Wissenschaft überlassen sein, sondern der Gesellschaft in einer gemeinsamen moralischen Grundausrichtung. Das findet der Rechtswissenschaftler Professor Nils Jansen, Sprecher des Exzellenzclusters Religion und Politik der Universität Münster. Was müsste für Sie ein Kompass der öffentlichen Moral können?
Nils Jansen: Ein solcher Kompass würde uns darüber informieren, wie man mit schwierigen moralischen Situation wie der Coronasituation, mit der wir jetzt konfrontiert sind, umgehen können. Jedenfalls indem wir wissen, welche Standpunkte innerhalb der Gesellschaft von reflektierten Menschen vertreten werden.
Gabi Wuttke: Was ist für Sie reflektiert, wer sollte das aussuchen und welche Fragen stellen Sie sich denn gerade jetzt, um zu sagen, darauf muss die Gesellschaft oder sollte die Gesellschaft eine Antwort geben?
Nils Jansen: Ich glaube, am Ende müssen natürlich auch Gerichte Antworten geben. Aber die Gerichte können bessere Antworten geben, wenn sie auch einen Sinn von einem moralischen Kompass in der Gesellschaft haben. Ich habe den Eindruck, dass wir über viele Fragen noch nicht so richtig nachgedacht haben, insbesondere über diese Frage, welche Rücksicht unterschiedliche Gruppen in der Gesellschaft einander wirklich schulden. Bei der Coronakrise wissen wir, dass diese ernsthaft gefährlich nur einen sehr kleinen Teil in der Gesellschaft ist.
Wenn morgen das öffentliche Leben wieder freigegeben würde, dann wäre für junge Menschen selbstverständlich der Weg in die Disco sehr viel gefährlicher als der Aufenthalt und die Ansteckung dort. Ich glaube, dass wir mit solchen Fragen sehr häufig konfrontiert sind und üblicherweise Kosten-Nutzen-Kalkulationen aufstellen. Das erklärt, warum man in Deutschland weiterhin mit Autos fahren kann, die Luft erheblich verschmutzen, obwohl wir wissen, dass an den Folgen der Umweltverschmutzung sehr viel mehr Menschen sterben als am Coronavirus. Gleichwohl erlauben wir das Autofahren auf den Straßen in Stuttgart - und zwar ohne triftigen Grund.
Wenn morgen das öffentliche Leben wieder freigegeben würde, dann wäre für junge Menschen selbstverständlich der Weg in die Disco sehr viel gefährlicher als der Aufenthalt und die Ansteckung dort. Ich glaube, dass wir mit solchen Fragen sehr häufig konfrontiert sind und üblicherweise Kosten-Nutzen-Kalkulationen aufstellen. Das erklärt, warum man in Deutschland weiterhin mit Autos fahren kann, die Luft erheblich verschmutzen, obwohl wir wissen, dass an den Folgen der Umweltverschmutzung sehr viel mehr Menschen sterben als am Coronavirus. Gleichwohl erlauben wir das Autofahren auf den Straßen in Stuttgart - und zwar ohne triftigen Grund.
Ich glaube, in einer solchen Situation merken wir, dass wir über das eine so wenig wirklich nachgedacht haben wie über das andere. Das führt dann dazu, dass wir auf die Coronakrise in einer Weise reagieren, in der wir gerade gar nicht mehr abwägen, also auch gar nicht mehr Verhältnismäßigkeitsfragen stellen. Während wir bei anderen Gefahren, mit denen andere Gruppen bei uns konfrontiert sind, ganz anders reagieren. Es fehlt also an einem gleichermaßen rationalen Standard, an dem wir unser Verhalten und unsere moralischen Erwartungen ausreichten können.
Argumente zählen nicht
Gabi Wuttke: Also zum Beispiel auch beim Klimaschutz?
Nils Jansen: Genau. Es ist nicht ganz klar, mit welchen Argumenten wir in Zukunft den jungen Leuten zurufen können, dass ihre Forderungen überzogen seien. Das ist ja das, was man vorher immer gesagt hat. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich möchte hier keine grüne Politik machen, aber wir haben früher den jungen Leuten immer gesagt, wir können nicht von heute auf morgen aus der Kohle aussteigen wegen der gesellschaftlichen Konsequenzen und denen für die Wirtschaft, weil die Leute in die Arbeitslosigkeit geben, weil es zu einer Rezession kommt – und auch Rezessionen sind tödlich. All solche Argumente möchten wir zurzeit, wo wir mit Corona konfrontiert sind, nicht so gern hören - oder wir akzeptieren sie nicht. Da sehe ich eine erhebliche Diskrepanz.
Gabi Wuttke: Wir haben in Deutschland ein Ethikrat, deshalb noch mal zurückkommend auf meine Frage, wer sollten die reflektierten Menschen sein, die so eine moralische Grundausrichtung in einen Rahmen stellen?
Nils Jansen: Ich würde sagen, wir können nicht an Experten in dem Sinne delegieren, dass die Experten für uns Entscheidungen fällen. Wir müssen diese Fragen in der Öffentlichkeit diskutieren. Natürlich können an solchen Diskussionen manche Leute besser teilnehmen als andere. Früher gab es eine ganze Reihe von öffentlichen Intellektuellen, die zu diesen drängenden gesellschaftlichen Fragen regelmäßig und in einer häufig provokanten oder nachdenklich machenden Form geäußert haben - wie Jürgen Habermas. Solche Leute fehlen heute.
Man hat früher Jürgen Habermas mal das moralische Gewissen der Nation genannt. Solche Diskurse führen wir nach meinem Eindruck in unserer Zeit weniger. Wir rufen jetzt in der Krise Experten, was natürlich bei der ersten Reaktion auch erforderlich ist, weil das natürlich wichtig ist, dass die Politik richtig informiert handelt. Aber wenn wir glauben, wir können die Entscheidung moralischer Fragen an ein Expertengremium wie den Ethikrat verlagern, dann machen wir einen Fehler.
Solche Fragen müssen von jedermann diskutiert werden - an den Mittags- und Abendtischen, in den Kirchen und auch in der Politik. Aber eben auch nicht nur in der Politik, sondern auch in dem, was ich einfach die Gesellschaften nenne: Dort, wo Menschen aufeinandertreffen.
Kirchen haben keine Antwort
Gabi Wuttke: Apropos Kirchen, viele Menschen, nicht nur in diesen Osterfeiertagen, wundern sich über die Kirchenvertreter, die vor allem mit ihren Onlinegottesdiensten beschäftigt scheinen.
Nils Jansen: Die Kirchen können keine spezifisch religiöse Antwort auf die Coronakrise geben. In früheren Zeiten hätte man gewiss mehr Gottesdienste, Messfeiern und Prozessionen veranstaltet und die Leute eingeladen, daran teilzunehmen. Und es hätte gewiss keine guten Konsequenzen gehabt. Jetzt ist natürlich auch den Kirchenvertretern bewusst, dass man in einer solchen Situation medizinisch vernünftig handeln muss. Aber damit haben sie eigentlich gar keine genuin religiösen Antworten auf das, was wir zurzeit erleben.