Sind wir zu sensibel für die Demokratie?
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Der Ton ist rau geworden. Kippt unsere Debattenkultur, oder sind wir inzwischen einfach zu empfindlich für einen produktiven Streit? Svenja Flaßpöhler und Nils Markwardt vom „Philosophie Magazin“ fragen nach dem Wert der Sensibilität.
Wie frei lässt sich in Deutschland denken und streiten? - Es komme darauf an, sagt die Chefredakteurin des "Philosophie Magazins", Svenja Flaßpöhler, im Gespräch mit Deutschlandfunk Kultur:
"Im rechtlichen Sinne darf man so ziemlich alles sagen, immerhin leben wir in einer liberalen Demokratie." Im Hinblick auf die öffentliche Diskussionskultur stelle sich das jedoch anders dar. "Im moralischen, ich würde fast sagen, sogar sittlichen Sinne wird die Grenze des Sagbaren gegenwärtig in mancherlei Hinsicht wirklich zu eng gezogen."
Sensibilität als Panzer
In Diskussionen über ihr Buch "Die potente Frau", eine Streitschrift, in der sie sich kritisch mit der #MeToo-Bewegung auseinandersetzt, habe sie selbst die Erfahrung gemacht, "dass diejenigen, die möglicherweise etwas sagen, was auf Kritik stößt, sehr schnell ins rechte oder sogar rechtsreaktionäre Lager abgeschoben werden", sagt Flaßpöhler. Sie habe den Eindruck, "dass die Sensibilität in der Gesellschaft gegenwärtig fast in eine Art von Panzer umschlägt: Man ist so empfindlich, dass man überhaupt nichts mehr an sich heranlässt."
Svenja Flaßpöhler hält das für eine bedenkliche Entwicklung, die offene Debatten immer schwieriger mache: "Es ist sicherlich falsch, jemanden mutwillig zu verletzen, und ich finde sehr wohl, dass man sich immer wieder fragen muss: Bin ich wirklich sensibel genug für das Gegenüber? – Aber wenn jemand sagt: Das verletzt mich, und deswegen darfst du ganz bestimmte Argumente nicht bringen, in diesem Augenblick wird die Sensibilität tatsächlich zu einer harten Außenhülle."
Wer wird gehört – und wer nicht?
Nils Markwardt, leitender Redakteur des "Philosophie Magazins", hält dem entgegen: Gerade Personen, die sich zum Beispiel gegen die Diskriminierung von Minderheiten engagieren, seien oft einem enormen Ansturm von Attacken über soziale Netzwerke ausgesetzt. Das sei mit zu bedenken, bevor man jemandem vorwerfe, zu empfindlich zu sein. Überhaupt gerate über die Frage der Sensibilität allzu leicht aus dem Blick, wer zu welchen Bedingungen überhaupt am Diskurs beteiligt sei.
"Wer gehört wird und wer nicht, ist am Ende eine Frage von Macht", sagt Markwardt, "ich glaube, das vergessen wir ganz oft, wenn wir das Problem darauf reduzieren, dass es um persönliche Befindlichkeiten ginge. Wir müssen immer auch mit reflektieren: Wer kann denn jetzt wem zuhören, und wer wird mehr gehört als die anderen?"
"Der gute Streit erfordert Sensibilität"
Was können und müssen wir uns in einer streitbaren Demokratie gegenseitig zumuten – und was nicht? Diese Leitfrage bestimmt die aktuelle Ausgabe des "Philosophie Magazins". Wieviel Sensibilität verträgt eine produktive Debattenkultur? Und welche Art von Sensibilität ist hier gefragt?
"Der gute Streit erfordert eine Sensibilität für die Position des anderen", sagt Svenja Flaßpöhler. "Ich muss mich öffnen, wirklich zuhören, ich muss das, was der andere sagt, an mich heran lassen. Und mein Eindruck ist, dass wir eigentlich heute zwischen den unterschiedlichen Lagern – zwischen Linken und Rechten, zwischen Privilegierten und Nichtprivilegierten, wie auch immer man diese Lager benennen will –, dass wir genau zu dieser Offenheit und zu dieser Form einer diskursiven Sensibilität nicht in der Lage sind."
In der Geschichte der Philosophie galt Sensibilität manchen als Laster und anderen als eine Tugend. Schon im Mittelalter machte Thomas von Aquin einen Unterschied zwischen der "Sensualitas" als körperlicher Empfindlichkeit und der "Sensibilitas" als einer Empfindsamkeit in der Wahrnehmung, die auch dem Mitmenschen gelten kann.
Balance von Sensibilität und Streitkultur
Auf diese Unterscheidung gehe vermutlich bis heute die eher abwertende Rede vom "Sensibelchen" zurück, das nicht viel aushalte und "sensualistisch" um eigene Befindlichkeiten kreise, während die "Sensibilitas" als moralische Sensibilität für den Fortschritt der menschlichen Zivilisation eine zentrale Rolle gespielt habe, so Svenja Flaßpöhler: "Wir müssen uns klarmachen, dass die 'Empfindsamkeit', auch als Epoche, ganz wichtig war für die Erklärung der Menschenrechte im 18. Jahrhundert. Es ist kein Zufall, dass es genau da passiert ist, in dieser Epoche. Die moralische Sensibilität für die Grenze des Anderen hat natürlich viel damit zu tun, dass wir irgendwann auch die Folter abgeschafft haben."
Heute gelte es, die richtige Balance von Sensibilität und Streitkultur zu finden, meint Nils Markwardt. Einerseits könnten Appelle, sich gegenseitig besser zuzuhören, nur fruchten, "wenn Forderungen, zum Beispiel nach besserer Repräsentation von Minderheiten, tatsächlich erfüllt werden". Denn an den entscheidenden Schaltstellen, wo gesellschaftliche Belange diskutiert und politische Entscheidungen getroffen werden, finde sich die Diversität der Gesellschaft bisher nicht angemessen wieder.
Andererseits kämpften Bewegungen, die im Namen der Sensibilität mehr Gehör und Mitsprache einforderten, zwar auch um mehr Macht und Einfluss. Doch dabei gebe es für alle Seiten etwas zu gewinnen. "Man sieht zum Beispiel, dass die Selbstmordquote der sogenannten 'weißen alten Männer' wesentlich höher ist als bei Frauen", sagt Markwardt. "Und ich glaube, das hat auch damit zu tun, dass es einfach eine gewisse Kultur der Sensibilität oder des Wunden-Zeigens nicht gibt." Eine solche Kultur zu etablieren, sagt Markwardt, bekäme den bislang Privilegierten sicher gut.
(fka)