Moralische Wiedergutmachung für italienische NS-Opfer
Hinterbliebenen von Kriegsverbrechen während der NS-Zeit in Italien stehen keine Entschädigungen zu, urteilte der Internationale Gerichtshof im Februar. Den Opfern käme es auch weniger auf eine materielle Wiedergutmachung an, sagt der Jurist Jörg Luther. Vielmehr mahnten sie "eine gemeinsame Erinnerungskultur" an.
Joachim Scholl: Es sind noch über 100.000 Betroffene: Opfer, Überlebende, Hinterbliebene von NS-Kriegsverbrechen in Italien. In etlichen Gerichtsprozessen wurden ihnen Entschädigungen zugebilligt, doch im Februar hat der Internationale Gerichtshof diese Entscheidung italienischer und griechischer Gerichte für unwirksam erklärt mit der Begründung staatlicher Immunität der Bundesrepublik. Heute findet in Florenz im toskanischen Regionalparlament eine Tagung zu diesem Thema statt. Und mit einem der Teilnehmer, dem in Turin lehrenden Juristen Jörg Luther, sind wir jetzt verbunden. Guten Tag, Herr Luther!
Jörg Luther: Ja, schönen guten Tag, Herr Scholl!
Scholl: Juristisch ist der Fall für Deutschland erledigt nach dem Urteil des Internationalen Gerichtshofes. Wie sieht man das in Italien, Herr Luther, dass Deutschland sich aus der Verantwortung stiehlt?
Luther: Das ist etwas sehr direkt ausgedrückt. Ich glaube, wir müssen gemeinsam einmal genau dieses Urteil uns anschauen und lesen und den Sinn dieses Urteils verstehen. Dort gibt es vor allen Dingen einen Punkt 99, in diesem Urteil, in dem doch zumindest eine moralische Verantwortung der Bundesrepublik Deutschland für die Entschädigung der Opfer der Zwangsarbeit und der nationalsozialistischen Verfolgung angemahnt wird.
Es wird dann in einem weiteren Punkt gesagt, dieses müsse Gegenstand gemeinsamer Verhandlungen sein. Es gibt also eine Art Verhandlungsmandat in diesem Urteil. Diese Verhandlungen sind, soweit mir das bekannt ist, wohl auch mittlerweile im Gange und man kann sagen, die Entschädigung der Opfer ist noch nicht erledigt. Sie ist eine gemeinsame Angelegenheit, aber es ist natürlich nach so vielen Jahren zu einem so späten Zeitpunkt sehr schwierig, nun doch noch Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.
Scholl: Auf der Tagung, an der Sie teilnehmen, Herr Luther, soll ein entsprechender Appell an die Staatspräsidenten Gauck und Napolitano veröffentlich werden. Dieser Appell geht zunächst aus von drei italienischen Gemeinden, wo Deutsche Kriegsverbrechen begangen haben. Wie lautet dieser Appell, was wird darin angesprochen, was wird gefordert?
Luther: Ja, es ist ein Versuch, dieses Urteil doch in dem gegenwärtigen geschichtlichen Kontext, auch in dem europäischen Kontext doch zu verstehen und daraus Schlussfolgerungen zu ziehen. Zunächst einmal wird doch angemahnt, zumindest sich über humanitäre Hilfe für solche Opfer nationalsozialistischer Gewalt, und vor allen Dingen für solche militärinternierte Zwangsarbeiter, zu verständigen, die heute notleidend sind, denen beispielsweise die Pensionen nicht ausreichen.
Weiterhin wird vor allen Dingen zusammen doch sehr, werden sich Gedanken gemacht, wie denn die kulturelle Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Italien zu vertiefen ist. Denn hier ist doch einfach noch die Tatsache die, dass die Vergangenheit separat, getrennt in Deutschland und in Italien, und nicht genügend gemeinsam aufgearbeitet wird. Man mahnt eine gemeinsame Erinnerungskultur vor allen Dingen an den Zweiten Weltkrieg an.
Und das heißt dann konkret, dass gemeinsam Museen und Denkmäler geplant werden, dass gemeinsam die geschichtswissenschaftliche Forschung vorangetrieben wird und dass vor allen Dingen auch man sich gemeinsam Gedanken über eine transnationale Pädagogik hierzu macht. Das Ganze mit einem Fonds, der verwaltet werden sollte durch eine Kommission, an der möglichst auch private und öffentliche Körperschaften beteiligt werden sollten. Soweit wie ich es heute verstanden habe, wäre die Region Toskana auch interessiert daran, sich zu beteiligen. Und das wäre schon etwas Neues.
Scholl: Ein Fonds, das erinnert ein wenig an die Entschädigungsdiskussion um die Zwangsarbeiter in Deutschland. Dieser Fonds wurde damals von der deutschen Industrie bereitgestellt und es gab viel Kritik daran. Wie stellt man sich das denn vor, sozusagen das auf deutsch-italienische Weise, also in Kooperation zu organisieren?
Luther: Das ist natürlich nicht Angelegenheit der Gemeinden. Die Gemeinden versuchen nur, einen Impuls zu geben. Es ist so, dass die Gemeinden beteiligt werden seitens des italienischen Außenministers nicht direkt an den Verhandlungen, aber an der Erarbeitung der Konzepte und der Ideen. Es gibt sozusagen eine Beteiligung jedenfalls der betroffenen Gemeinden an der Erarbeitung der italienischen Außenpolitik hierzu. Und das ist auch schon etwas durchaus Neues und Bemerkenswertes.
Scholl: Die Diskussion um Entschädigung für NS-Opfer in Italien, Deutschlandradio Kultur im Gespräch mit Jörg Luther, er lehrt Rechtswissenschaft an der Universität Turin und nimmt heute an einer entsprechenden Tagung zum Thema teil. Herr Luther, in der Vergangenheit war bei diesem Thema stets der politische Dissens programmiert und die Öffentlichkeit in Italien dementsprechend voreingenommen, also im Sinne von: Die Deutschen wollen sich einfach nicht ihrer Schuld stellen und sich vor der Verantwortung drücken. Inwieweit ist denn eine gemeinsame Aufarbeitung, eine gemeinsame Diskussion wirklich realistisch?
Luther: Zunächst einmal würde ich sagen, sie ist heute nicht nur ein hehres Ideal, sondern sie ist eine Pflicht. Wir leben in einer europäischen Union und eine Union bedeutet, dass man sich einig ist über die Grundlagen des Friedens. Und es ist ein Bedürfnis der Italiener, hierüber ins Gespräch zu kommen. Die Italiener, gerade in diesen Gemeinden, haben heute noch einmal gesagt, ihnen kommt es schon gar nicht auf irgendwelche Entschädigungsleistungen an, sondern ihnen kam es darauf an, ins Gespräch zu kommen. Gemeinsam, eine gemeinsame Zukunft, sozusagen die Zukunft der Vergangenheit zu sichern.
... Die einzige Möglichkeit, die Voreingenommenheiten, die auf beiden Seiten bestehen … In Deutschland wird ja auch nicht über die Verweigerung der Auslieferung der Kriegsverbrecher an Italien, in der Öffentlichkeit noch nicht einmal diskutiert. Also, da gibt es sicherlich auf beiden Seiten Vorurteilsstrukturen, die weiter anhalten werden, aber die nur durch einen Dialog und vor allen Dingen nur nicht durch einen Dialog der Historiker, sondern durch einen verbreiterten zivilgesellschaftlichen Dialog abgearbeitet werden können.
Scholl: Das heißt, die Wissenschaft vollzieht diese gemeinsame kritische Beschäftigung und Aufarbeitung durchaus?
Luther: Die Wissenschaft kann hier nur Fragen aufnehmen. Ich bin Verfassungswissenschaftler, ich bin an der Verfassung Europas interessiert, der geht es zurzeit, der materiellen Verfassung geht es derzeit nicht sehr gut. Es wäre sehr schön, wenn Deutschland und Italien gerade über die Vergangenheit eine neue Einigung herstellen würden, die auch der Zukunft helfen könnte.
Scholl: Könnte man eventuell sagen, Herr Luther, dass dieses Urteil des Internationalen Gerichtshofes eigentlich den Weg für eine offenere Diskussion jetzt frei macht, weil sozusagen die juristischen Sachen geklärt sind sozusagen, vom Völkerrechtlichen her gesehen? Dass also jetzt hier keine Regressforderungen mehr in diesem Sinne gestellt werden können, sondern es eher jetzt wirklich um die humanitäre, die freiwillige Gestik von Deutschland geht?
Luther: Ja. Die Regressforderungen, sicherlich, können nicht mehr durchgesetzt werden. Es ist natürlich das Problem, was sich jetzt auch innerstaatlich in Italien stellt, inwieweit Italien sozusagen für den Ausfall des Regresses von den italienischen Zwangsarbeitern haftbar gemacht werden kann. Insofern ist leider in Italien nicht, durchaus ganz und gar nicht der Diskurs der Juristen beendet, leider nicht beendet. Darum ist es gerade ein Interesse der Juristen, dass hier nun Diplomaten weiterkommen. Und darauf war auch gerichtet das Verhandlungsmandat in diesem Urteil.
Das Urteil hat sonst, ansonsten wird es auch als solches, als Grundlagenurteil auch in der Rechtswissenschaft, Völkerrecht und im Verfassungsrecht, großes Interesse erregen. Aber man darf dann natürlich auch nicht zu sehr das wissenschaftliche Interesse zunächst mal mit dem Interesse der Beteiligten und der Gesellschaft an solchen Urteilen haben. Jeder muss versuchen, jede Gesellschaft, die deutsche und die italienische Gesellschaft, vor allen Dingen die europäische Gesellschaft muss versuchen, diesem Urteil einen guten Sinn zu geben und das Beste daraus zu machen. Urteile sind so gut, wie man sie interpretiert.
Scholl: Nun steckt Europa durch die Finanzkrise auch in einer politischen Krise, einer Vertrauenskrise. Das Gefälle Nord-Süd wird immer deutlicher, Deutschland ist die dominierende Macht, wie es viele empfinden. Ist diese Stimmung, von der man auch aus Italien hört, für diese Thematik jetzt, Herr Luther – Sie leben in Italien seit Langem –, ist diese Stimmung für die Aufarbeitung dieser Vergangenheit von Bedeutung?
Luther: Natürlich ist sie, und natürlich leide ich selber an dieser Stimmung. Aber das hilft ja nichts. Es ist eine Tatsache, es ist eine Tatsache, aber mit der man umgehen kann. Und es ist keine unabwendbare Tatsache. Das sind Verstimmungen, die hat es immer wieder im Verhältnis Deutschland-Italien gegeben. Ich glaube, man darf auch dort einigermaßen optimistisch sein. Was uns die Stärke gibt, auch auf solche Missstimmigkeiten und Verstimmungen anzugehen, ist unsere Geschichte.
Aber das Problem ist eben, um es noch mal ganz klar zu sagen: Hier ist, die Generation der Betroffenen ist dabei zu versterben, und sicherlich besteht die Gefahr, dass die deutsche Einstellung hierzu als zynisch wahrgenommen wird. Denn es fühlt sich praktisch so an, als ob auch das Verfahren vor dem Internationalen Gerichtshof im Prinzip dazu gedient hat, Zeit zu gewinnen, damit so viel wie möglich Fälle sich eigentlich auf einem biologischen Wege erledigen. Das klingt sehr hart, aber das ist eine reelle Wahrnehmung. Und ich glaube, es ist ein beiderseitiges Interesse daran und vor allen Dingen auch mein Interesse als Verfassungsrechtler, dass Zynik in solchen, Zynik ist ein Gift der Verfassung, und eine solche Zynik aus den Diskursen genommen wird.
Scholl: Über NS-Kriegsverbrechen in Italien, die juristische und moralische Aufarbeitung, findet heute in Florenz eine Tagung statt. Der Jurist Jörg Luther nimmt daran teil, Herr Luther, ich danke Ihnen für das Gespräch!
Luther: Ich danke Ihnen auch!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
Links auf dradio.de:
Nicht Fakten, sondern Gefühle - Inge Kurtz: "Meine Erinnerung"
Zeitreisen - Tod aus den Wolken
Die Wehrmacht am Mittelmeer - Roberto Zapperi: "Eine italienische Kindheit
Jörg Luther: Ja, schönen guten Tag, Herr Scholl!
Scholl: Juristisch ist der Fall für Deutschland erledigt nach dem Urteil des Internationalen Gerichtshofes. Wie sieht man das in Italien, Herr Luther, dass Deutschland sich aus der Verantwortung stiehlt?
Luther: Das ist etwas sehr direkt ausgedrückt. Ich glaube, wir müssen gemeinsam einmal genau dieses Urteil uns anschauen und lesen und den Sinn dieses Urteils verstehen. Dort gibt es vor allen Dingen einen Punkt 99, in diesem Urteil, in dem doch zumindest eine moralische Verantwortung der Bundesrepublik Deutschland für die Entschädigung der Opfer der Zwangsarbeit und der nationalsozialistischen Verfolgung angemahnt wird.
Es wird dann in einem weiteren Punkt gesagt, dieses müsse Gegenstand gemeinsamer Verhandlungen sein. Es gibt also eine Art Verhandlungsmandat in diesem Urteil. Diese Verhandlungen sind, soweit mir das bekannt ist, wohl auch mittlerweile im Gange und man kann sagen, die Entschädigung der Opfer ist noch nicht erledigt. Sie ist eine gemeinsame Angelegenheit, aber es ist natürlich nach so vielen Jahren zu einem so späten Zeitpunkt sehr schwierig, nun doch noch Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.
Scholl: Auf der Tagung, an der Sie teilnehmen, Herr Luther, soll ein entsprechender Appell an die Staatspräsidenten Gauck und Napolitano veröffentlich werden. Dieser Appell geht zunächst aus von drei italienischen Gemeinden, wo Deutsche Kriegsverbrechen begangen haben. Wie lautet dieser Appell, was wird darin angesprochen, was wird gefordert?
Luther: Ja, es ist ein Versuch, dieses Urteil doch in dem gegenwärtigen geschichtlichen Kontext, auch in dem europäischen Kontext doch zu verstehen und daraus Schlussfolgerungen zu ziehen. Zunächst einmal wird doch angemahnt, zumindest sich über humanitäre Hilfe für solche Opfer nationalsozialistischer Gewalt, und vor allen Dingen für solche militärinternierte Zwangsarbeiter, zu verständigen, die heute notleidend sind, denen beispielsweise die Pensionen nicht ausreichen.
Weiterhin wird vor allen Dingen zusammen doch sehr, werden sich Gedanken gemacht, wie denn die kulturelle Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Italien zu vertiefen ist. Denn hier ist doch einfach noch die Tatsache die, dass die Vergangenheit separat, getrennt in Deutschland und in Italien, und nicht genügend gemeinsam aufgearbeitet wird. Man mahnt eine gemeinsame Erinnerungskultur vor allen Dingen an den Zweiten Weltkrieg an.
Und das heißt dann konkret, dass gemeinsam Museen und Denkmäler geplant werden, dass gemeinsam die geschichtswissenschaftliche Forschung vorangetrieben wird und dass vor allen Dingen auch man sich gemeinsam Gedanken über eine transnationale Pädagogik hierzu macht. Das Ganze mit einem Fonds, der verwaltet werden sollte durch eine Kommission, an der möglichst auch private und öffentliche Körperschaften beteiligt werden sollten. Soweit wie ich es heute verstanden habe, wäre die Region Toskana auch interessiert daran, sich zu beteiligen. Und das wäre schon etwas Neues.
Scholl: Ein Fonds, das erinnert ein wenig an die Entschädigungsdiskussion um die Zwangsarbeiter in Deutschland. Dieser Fonds wurde damals von der deutschen Industrie bereitgestellt und es gab viel Kritik daran. Wie stellt man sich das denn vor, sozusagen das auf deutsch-italienische Weise, also in Kooperation zu organisieren?
Luther: Das ist natürlich nicht Angelegenheit der Gemeinden. Die Gemeinden versuchen nur, einen Impuls zu geben. Es ist so, dass die Gemeinden beteiligt werden seitens des italienischen Außenministers nicht direkt an den Verhandlungen, aber an der Erarbeitung der Konzepte und der Ideen. Es gibt sozusagen eine Beteiligung jedenfalls der betroffenen Gemeinden an der Erarbeitung der italienischen Außenpolitik hierzu. Und das ist auch schon etwas durchaus Neues und Bemerkenswertes.
Scholl: Die Diskussion um Entschädigung für NS-Opfer in Italien, Deutschlandradio Kultur im Gespräch mit Jörg Luther, er lehrt Rechtswissenschaft an der Universität Turin und nimmt heute an einer entsprechenden Tagung zum Thema teil. Herr Luther, in der Vergangenheit war bei diesem Thema stets der politische Dissens programmiert und die Öffentlichkeit in Italien dementsprechend voreingenommen, also im Sinne von: Die Deutschen wollen sich einfach nicht ihrer Schuld stellen und sich vor der Verantwortung drücken. Inwieweit ist denn eine gemeinsame Aufarbeitung, eine gemeinsame Diskussion wirklich realistisch?
Luther: Zunächst einmal würde ich sagen, sie ist heute nicht nur ein hehres Ideal, sondern sie ist eine Pflicht. Wir leben in einer europäischen Union und eine Union bedeutet, dass man sich einig ist über die Grundlagen des Friedens. Und es ist ein Bedürfnis der Italiener, hierüber ins Gespräch zu kommen. Die Italiener, gerade in diesen Gemeinden, haben heute noch einmal gesagt, ihnen kommt es schon gar nicht auf irgendwelche Entschädigungsleistungen an, sondern ihnen kam es darauf an, ins Gespräch zu kommen. Gemeinsam, eine gemeinsame Zukunft, sozusagen die Zukunft der Vergangenheit zu sichern.
... Die einzige Möglichkeit, die Voreingenommenheiten, die auf beiden Seiten bestehen … In Deutschland wird ja auch nicht über die Verweigerung der Auslieferung der Kriegsverbrecher an Italien, in der Öffentlichkeit noch nicht einmal diskutiert. Also, da gibt es sicherlich auf beiden Seiten Vorurteilsstrukturen, die weiter anhalten werden, aber die nur durch einen Dialog und vor allen Dingen nur nicht durch einen Dialog der Historiker, sondern durch einen verbreiterten zivilgesellschaftlichen Dialog abgearbeitet werden können.
Scholl: Das heißt, die Wissenschaft vollzieht diese gemeinsame kritische Beschäftigung und Aufarbeitung durchaus?
Luther: Die Wissenschaft kann hier nur Fragen aufnehmen. Ich bin Verfassungswissenschaftler, ich bin an der Verfassung Europas interessiert, der geht es zurzeit, der materiellen Verfassung geht es derzeit nicht sehr gut. Es wäre sehr schön, wenn Deutschland und Italien gerade über die Vergangenheit eine neue Einigung herstellen würden, die auch der Zukunft helfen könnte.
Scholl: Könnte man eventuell sagen, Herr Luther, dass dieses Urteil des Internationalen Gerichtshofes eigentlich den Weg für eine offenere Diskussion jetzt frei macht, weil sozusagen die juristischen Sachen geklärt sind sozusagen, vom Völkerrechtlichen her gesehen? Dass also jetzt hier keine Regressforderungen mehr in diesem Sinne gestellt werden können, sondern es eher jetzt wirklich um die humanitäre, die freiwillige Gestik von Deutschland geht?
Luther: Ja. Die Regressforderungen, sicherlich, können nicht mehr durchgesetzt werden. Es ist natürlich das Problem, was sich jetzt auch innerstaatlich in Italien stellt, inwieweit Italien sozusagen für den Ausfall des Regresses von den italienischen Zwangsarbeitern haftbar gemacht werden kann. Insofern ist leider in Italien nicht, durchaus ganz und gar nicht der Diskurs der Juristen beendet, leider nicht beendet. Darum ist es gerade ein Interesse der Juristen, dass hier nun Diplomaten weiterkommen. Und darauf war auch gerichtet das Verhandlungsmandat in diesem Urteil.
Das Urteil hat sonst, ansonsten wird es auch als solches, als Grundlagenurteil auch in der Rechtswissenschaft, Völkerrecht und im Verfassungsrecht, großes Interesse erregen. Aber man darf dann natürlich auch nicht zu sehr das wissenschaftliche Interesse zunächst mal mit dem Interesse der Beteiligten und der Gesellschaft an solchen Urteilen haben. Jeder muss versuchen, jede Gesellschaft, die deutsche und die italienische Gesellschaft, vor allen Dingen die europäische Gesellschaft muss versuchen, diesem Urteil einen guten Sinn zu geben und das Beste daraus zu machen. Urteile sind so gut, wie man sie interpretiert.
Scholl: Nun steckt Europa durch die Finanzkrise auch in einer politischen Krise, einer Vertrauenskrise. Das Gefälle Nord-Süd wird immer deutlicher, Deutschland ist die dominierende Macht, wie es viele empfinden. Ist diese Stimmung, von der man auch aus Italien hört, für diese Thematik jetzt, Herr Luther – Sie leben in Italien seit Langem –, ist diese Stimmung für die Aufarbeitung dieser Vergangenheit von Bedeutung?
Luther: Natürlich ist sie, und natürlich leide ich selber an dieser Stimmung. Aber das hilft ja nichts. Es ist eine Tatsache, es ist eine Tatsache, aber mit der man umgehen kann. Und es ist keine unabwendbare Tatsache. Das sind Verstimmungen, die hat es immer wieder im Verhältnis Deutschland-Italien gegeben. Ich glaube, man darf auch dort einigermaßen optimistisch sein. Was uns die Stärke gibt, auch auf solche Missstimmigkeiten und Verstimmungen anzugehen, ist unsere Geschichte.
Aber das Problem ist eben, um es noch mal ganz klar zu sagen: Hier ist, die Generation der Betroffenen ist dabei zu versterben, und sicherlich besteht die Gefahr, dass die deutsche Einstellung hierzu als zynisch wahrgenommen wird. Denn es fühlt sich praktisch so an, als ob auch das Verfahren vor dem Internationalen Gerichtshof im Prinzip dazu gedient hat, Zeit zu gewinnen, damit so viel wie möglich Fälle sich eigentlich auf einem biologischen Wege erledigen. Das klingt sehr hart, aber das ist eine reelle Wahrnehmung. Und ich glaube, es ist ein beiderseitiges Interesse daran und vor allen Dingen auch mein Interesse als Verfassungsrechtler, dass Zynik in solchen, Zynik ist ein Gift der Verfassung, und eine solche Zynik aus den Diskursen genommen wird.
Scholl: Über NS-Kriegsverbrechen in Italien, die juristische und moralische Aufarbeitung, findet heute in Florenz eine Tagung statt. Der Jurist Jörg Luther nimmt daran teil, Herr Luther, ich danke Ihnen für das Gespräch!
Luther: Ich danke Ihnen auch!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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