Moralisches Handeln ist heldenhaft
In ihrer Art zu argumentieren steht Susan Neiman in der besten Tradition der familiären moralischen Unterredung. Sie entwickelt ihre Argumente im ständigen Dialog mit dem Leser, was ihre Darstellungsweise unmittelbar einsehbar macht.
Susan Neiman will den Begriff "moral clarity" von Missbrauch reinigen und ihn sich so neu aneignen. Ihr Buch ist voller eindrücklicher Beispiele klaren moralischen Verhaltens. Ein prominentes finden wir im Ersten Buch Mose, als Gott Abraham eröffnet, dass er die von moralischer Verkommenheit gezeichnete Stadt Sodom zu vernichten beschlossen hat, ihn, Abraham, aber ob seiner Unbescholtenheit verschonen wird. Abraham indes ist alles andere als bereit, sich seiner Auserwähltheit zu freuen.
"Abrahams Reaktion ist ehrfurchtgebietend. Bis dahin hatte Abraham Gottes Worte schweigend empfangen, doch nun hält er inne und spricht offen heraus: Was, wenn unter den Sündern 50 Unschuldige wären? Sollte der Richter der ganzen Welt wirklich die Unschuldigen mit den Schuldigen verderben?"
Aus Vernunftgründen kann sich Gott diesen Bedenken nicht verschließen. Und so kommt es, dass Abraham mit dem Allmächtigen das Überleben vielleicht nicht aller, so doch einiger Unschuldiger wird aushandeln können. Drei Dinge imponieren der Autorin dabei besonders: Abrahams Universalismus, der sich für das gleiche Recht aller, wo immer und in welchen Verhältnissen sie leben mögen, einsetzt; seine mutige Entschlossenheit, die eigene Bevorzugung für Bedürftigere als ihn selbst einzusetzen und dabei womöglich zu verspielen; nicht zuletzt auch seinen Sinn fürs Praktische, Konkrete, hier und jetzt Notwendige.
Seit alters her weiß sich der Mensch kraft seiner Vernunft zur Wahrung von Gerechtigkeit aufgerufen. Deren Kriterien – Gleiches gleich, Ungleiches ungleich zu behandeln – sind bereits der Vernunft als deren eigene, formale Prinzipien innerlich. Das heißt, sie gelten unabhängig von aller Erfahrungswirklichkeit – auf die sie gleichwohl angewendet gehören. Immer wieder sind wir darauf verwiesen, den Abstand zwischen unserem Gefühl von Gerechtigkeit zu den realen, himmelschreienden Zuständen um uns herum zu ermessen. Diese Kluft wahrzunehmen und sie von keiner Herzensträgheit wegerklären zu lassen, mehr noch: diese Diskrepanz anzuprangern, heißt, im moralischen Sinne, erwachsen zu sein.
Indem Abraham sich in einen Gerechtigkeitshandel mit Gott begeben hat, hat er getan, wozu uns etliche Zeitalter nach ihm auch Immanuel Kant rät:
"Wer sich hinsichtlich einer moralischen Entscheidung unsicher ist, dem sagt Kant, er käme zu einer Lösung, wenn er Gott spielen würde. [...] In dem Augenblick, in dem jemand denkt: Dies hätte nicht geschehen sollen, erhebt er den Vorwurf, die Welt liege im Argen und solle so oder so neu gemacht werden."
In ihrer Art zu argumentieren steht Susan Neiman in der besten Tradition der familiären moralischen Unterredung. Sie entwickelt ihre Argumente im ständigen Dialog mit dem Leser. Dies macht ihre Darstellungsweise selbst dort unmittelbar einsehbar, wo sie genötigt ist, philosophisch weiter auszuholen. Ihr Text atmet ein Klima, in dem die Entschiedenheit der Autorin für uns den Charakter einer Ermutigung bekommt – einer Ermutigung zu Güte und zum Guten.
Dies macht das moralische Verdienst ihrer moralphilosophischen Anstrengungen aus. Es ist ja nicht schon moralisch, Moral zu lehren. Im Gegenteil: Wir bedürfen eher eines freundlich-freundschaftlichen Verweises, uns unseres eigenen Besseren zu erinnern. Es ist genau dieses moralische Vorwissen, auf das wir dann und wann gestoßen werden müssen, damit wir nicht am Stumpfsinn der Welt resignieren oder von irgendjemandem theoretisch überrumpelt werden. Moral, betont Susan Neiman mit Kant, kann weder bestritten noch bewiesen werden. Sie reflektiert schlicht unseren Sinn für Würde – des Anderen wie unserer selbst.
"Wenn Moral nicht eine Sache der Tatsachen ist, dann ist der Versuch sinnlos, Moralskeptiker mit objektiven Beweisen zu überzeugen. Was antworten wir also dem Skeptiker, der fragt, warum er moralisch sein soll? Kant sagt, man antwortet ihm, indem man von Helden erzählt, von solchen, die lieber ihr Leben aufs Spiel setzen, als eine Ungerechtigkeit hinzunehmen. Der Abraham, der Gott vor Sodom und Gomorra herausgefordert hat, ist die Sorte Held, an die Kant dabei dachte."
Dass Susan Neiman begrifflich nicht groß unterscheidet zwischen philosophiegeleiteter Ethik einerseits und alltagsdienlicher Moral andererseits, zeigt, wie ernst es ihr ist. Was sie uns sagen will: Wir müssen Position beziehen. Moralisches Handeln ist im Letzten heldenhaftes Handeln. Heldenhaft ist, ganz alltäglich genommen, nichts anderes als für eine gerechte Sache einen möglichen Nachteil in Kauf zu nehmen. Moral ist und bleibt ein Anti-Agens zur Befangenheit in der eigenen Selbsterhaltung. Sie hat zwar mit der Welt zu tun, aber nichts mit ihr gemein.
Was nun, wenn die Bereitschaft, die eigene Selbsterhaltung hintanzustellen, genauso gut Fanatikern und Selbstmordattentätern eigen ist? Können wir ihnen jene Freiheit und Würde absprechen, die in kantischer Tradition die Möglichkeit moralischen Bewusstseins in der Welt begründet? Susan Neiman ist gleich weit entfernt von grimmigem Kulturkampf und weichgespültem Kulturrelativismus. Sie setzt ihre Hoffnung, und das ist nicht wenig, auf die zunehmende – da alternativlose – Achtung der uns alle eigenen und einigenden menschlichen Würde. Wir öffnen uns ihr zwangsläufig, sobald wir die Kraft aufbringen, uns vor einander, und sei es nur vor uns selber, zu schämen.
"Die Sprache der Scham ist die stärkste Waffe der Moral, die es gibt."
Susan Neiman: Moralische Klarheit. Leitfaden für erwachsene Idealisten
Aus dem Englischen von Christiana Goldmann
Hamburger Edition, Hamburg 2010
"Abrahams Reaktion ist ehrfurchtgebietend. Bis dahin hatte Abraham Gottes Worte schweigend empfangen, doch nun hält er inne und spricht offen heraus: Was, wenn unter den Sündern 50 Unschuldige wären? Sollte der Richter der ganzen Welt wirklich die Unschuldigen mit den Schuldigen verderben?"
Aus Vernunftgründen kann sich Gott diesen Bedenken nicht verschließen. Und so kommt es, dass Abraham mit dem Allmächtigen das Überleben vielleicht nicht aller, so doch einiger Unschuldiger wird aushandeln können. Drei Dinge imponieren der Autorin dabei besonders: Abrahams Universalismus, der sich für das gleiche Recht aller, wo immer und in welchen Verhältnissen sie leben mögen, einsetzt; seine mutige Entschlossenheit, die eigene Bevorzugung für Bedürftigere als ihn selbst einzusetzen und dabei womöglich zu verspielen; nicht zuletzt auch seinen Sinn fürs Praktische, Konkrete, hier und jetzt Notwendige.
Seit alters her weiß sich der Mensch kraft seiner Vernunft zur Wahrung von Gerechtigkeit aufgerufen. Deren Kriterien – Gleiches gleich, Ungleiches ungleich zu behandeln – sind bereits der Vernunft als deren eigene, formale Prinzipien innerlich. Das heißt, sie gelten unabhängig von aller Erfahrungswirklichkeit – auf die sie gleichwohl angewendet gehören. Immer wieder sind wir darauf verwiesen, den Abstand zwischen unserem Gefühl von Gerechtigkeit zu den realen, himmelschreienden Zuständen um uns herum zu ermessen. Diese Kluft wahrzunehmen und sie von keiner Herzensträgheit wegerklären zu lassen, mehr noch: diese Diskrepanz anzuprangern, heißt, im moralischen Sinne, erwachsen zu sein.
Indem Abraham sich in einen Gerechtigkeitshandel mit Gott begeben hat, hat er getan, wozu uns etliche Zeitalter nach ihm auch Immanuel Kant rät:
"Wer sich hinsichtlich einer moralischen Entscheidung unsicher ist, dem sagt Kant, er käme zu einer Lösung, wenn er Gott spielen würde. [...] In dem Augenblick, in dem jemand denkt: Dies hätte nicht geschehen sollen, erhebt er den Vorwurf, die Welt liege im Argen und solle so oder so neu gemacht werden."
In ihrer Art zu argumentieren steht Susan Neiman in der besten Tradition der familiären moralischen Unterredung. Sie entwickelt ihre Argumente im ständigen Dialog mit dem Leser. Dies macht ihre Darstellungsweise selbst dort unmittelbar einsehbar, wo sie genötigt ist, philosophisch weiter auszuholen. Ihr Text atmet ein Klima, in dem die Entschiedenheit der Autorin für uns den Charakter einer Ermutigung bekommt – einer Ermutigung zu Güte und zum Guten.
Dies macht das moralische Verdienst ihrer moralphilosophischen Anstrengungen aus. Es ist ja nicht schon moralisch, Moral zu lehren. Im Gegenteil: Wir bedürfen eher eines freundlich-freundschaftlichen Verweises, uns unseres eigenen Besseren zu erinnern. Es ist genau dieses moralische Vorwissen, auf das wir dann und wann gestoßen werden müssen, damit wir nicht am Stumpfsinn der Welt resignieren oder von irgendjemandem theoretisch überrumpelt werden. Moral, betont Susan Neiman mit Kant, kann weder bestritten noch bewiesen werden. Sie reflektiert schlicht unseren Sinn für Würde – des Anderen wie unserer selbst.
"Wenn Moral nicht eine Sache der Tatsachen ist, dann ist der Versuch sinnlos, Moralskeptiker mit objektiven Beweisen zu überzeugen. Was antworten wir also dem Skeptiker, der fragt, warum er moralisch sein soll? Kant sagt, man antwortet ihm, indem man von Helden erzählt, von solchen, die lieber ihr Leben aufs Spiel setzen, als eine Ungerechtigkeit hinzunehmen. Der Abraham, der Gott vor Sodom und Gomorra herausgefordert hat, ist die Sorte Held, an die Kant dabei dachte."
Dass Susan Neiman begrifflich nicht groß unterscheidet zwischen philosophiegeleiteter Ethik einerseits und alltagsdienlicher Moral andererseits, zeigt, wie ernst es ihr ist. Was sie uns sagen will: Wir müssen Position beziehen. Moralisches Handeln ist im Letzten heldenhaftes Handeln. Heldenhaft ist, ganz alltäglich genommen, nichts anderes als für eine gerechte Sache einen möglichen Nachteil in Kauf zu nehmen. Moral ist und bleibt ein Anti-Agens zur Befangenheit in der eigenen Selbsterhaltung. Sie hat zwar mit der Welt zu tun, aber nichts mit ihr gemein.
Was nun, wenn die Bereitschaft, die eigene Selbsterhaltung hintanzustellen, genauso gut Fanatikern und Selbstmordattentätern eigen ist? Können wir ihnen jene Freiheit und Würde absprechen, die in kantischer Tradition die Möglichkeit moralischen Bewusstseins in der Welt begründet? Susan Neiman ist gleich weit entfernt von grimmigem Kulturkampf und weichgespültem Kulturrelativismus. Sie setzt ihre Hoffnung, und das ist nicht wenig, auf die zunehmende – da alternativlose – Achtung der uns alle eigenen und einigenden menschlichen Würde. Wir öffnen uns ihr zwangsläufig, sobald wir die Kraft aufbringen, uns vor einander, und sei es nur vor uns selber, zu schämen.
"Die Sprache der Scham ist die stärkste Waffe der Moral, die es gibt."
Susan Neiman: Moralische Klarheit. Leitfaden für erwachsene Idealisten
Aus dem Englischen von Christiana Goldmann
Hamburger Edition, Hamburg 2010