Moralisches Handeln ist mehr als bloße Hirnaktivität
Der freie Wille des Menschen ist eine Illusion. Das zumindest behaupten Hirnforscher. Sie sagen: Unsere Entscheidungen seien schon festgelegt, bevor wir sie treffen. Doch wenn der Mensch einer Maschine gleich nur auf Impulse des Gehirns reagiert, dann werden Freiheit und Verantwortung bedeutungslos, sagen Kritiker wie der Philosoph Detlef B. Linke.
Nein, wir sind keine Marionetten, die willenlos agieren. Nein, wir sind keine vorprogrammierten Roboter. Und nein, das Menschenbild muss nicht grundlegend korrigiert werden. Schon ab den ersten Seiten liest sich Linkes hochwissenschaftliches Buch als ein Plädoyer für die Existenz des freien Willens. Ohne freien Willen, so der Autor, gebe es keine Verantwortung. Ohne Verantwortung gebe es weder Schuld noch Einsicht. Und ohne Schuld und Einsicht, wäre der Mensch kein Mensch. Sprich: Der freie Wille ist der Grundstock jedes menschlichen Handelns. Und so schreibt er:
"Das was mich ausmacht, ist in immer wieder neuen Urteilen, Reflexionen und Empfindungen zu entscheiden und zu entwickeln. Ich muss mich abgrenzen, auch wenn ich dabei nicht auf ein fertiges Selbstbild zurückgreifen kann, um in moralisch relevanten Situationen entscheiden zu können. "
Recht so, möchte man da als Leser rufen und freut sich auf die 272-seitige Abhandlung zu einem der spannendsten Themen, das die Wissenschaft zu bieten hat. Die Freiheit des Denken und Handelns. Seit mehr als 25 Jahren streiten sich Philosophen auf der einen und Hirnforschern auf der anderen Seite darüber, ob der menschliche Wille ein entschlüsselbares Zusammenspiel physikalisch-chemischer Reaktionen sei oder nicht. Dabei streiten sie im Grunde über die Interpretation eines einzigen Experimentes. Es stammt von dem amerikanischen Neurophysiologen Benjamin Libet und zeigt:
"Dass vor einer instruierten Fingerbewegung, die zu einem selbstgewählten Zeitpunkt durchgeführt werden darf, Hirnaktivitäten (...) vor der Durchführung der Fingerbewegung nachweisbar sind, und zwar noch bevor das Individuum darüber Bescheid weiß, dass es diese Bewegung ausführen wird. "
Ein verblüffendes Ergebnis, das von einigen Hirnforschern bis heute als Beleg dafür gilt, dass der bewusste Willensakt offenbar nur ein wirkungsloses Nachspiel sei, da die Entscheidungen schon festgelegt seien, bevor der Mensch sie trifft. Genau das aber bestreiten die Philosophen und berufen sich auf die Existenz des freien Willens. So auch der Autor.
"Ich halte es für überzogen, allein mit den Argumenten der Hirnforschung eine Entscheidung über Freiheitsbegriffe erzwingen zu wollen. "
Allerdings plädiert Detlef Linke, seines Zeichens selbst Neurologe, für eine gemäßigtere Interpretation Libets: Zwar zeige das Experiment, dass das Gehirn "selbst" schnell entscheidet, ob wir einen Finger bewegen oder eine Hand heben. Aber Auskunft darüber, wie langfristig gedachte Entscheidungen entstehen, gibt es nach Ansicht Linkes nicht, da es sich dabei um komplexe und daher schlecht untersuchbare Abläufe handle.
Denn sobald es etwa um die Entscheidungen nach den Normen des eigenen Handelns geht, spielt das bewusste Denken eine entscheidende Rolle. Dann ist der Mensch in der Lage, mehrere Handlungsabläufe parallel zu entwerfen, sie gegeneinander abzuwägen und sie gegebenenfalls zu korrigieren, bevor er sich dann endgültig für einen entscheidet.
"Dies ist eine wichtige Möglichkeit unseres Nervensystems. Die Neuronen wirken nicht aufeinander wie Billardkugeln, sie tauschen vielmehr Informationen aus. (...) Alles, was wir im Kopf haben, kann also nicht als statische Ablagerung, sondern als etwas angesehen werden, dass immer neuen Deutungen nicht nur unterworfen, sondern durch diese auch erzeugt werden kann. "
Das klingt logisch, eingängig und nachvollziehbar. Und so kann man Linkes Erklärungen und Gedankengängen im Zusammenhang mit Libets Experiment sehr gut folgen. Dann aber erlebt das Buch einen drastischen Bruch. Denn der Autor widmet sich plötzlich anderen Themen: Schneidet Bereiche wie Liebe, Individualität, Neurotheologie und Neuroökonomie an und beschäftigt sich ausführlich mit einer möglichen Ethik des Denkens.
Damit verliert sich das Buch nach den ersten 100 vielversprechenden Seiten in schwerverständlichen, hochkomplexen Abhandlungen, denen der Leser kaum folgen kann. Was sicher auch Linkes Vorliebe für zeilenlange Sätze liegt.
Gerne verschlüsselt er seine Erläuterungen in Nebensätzen, Einschränkungen und Einwänden. So glaubt Linke beispielsweise in Hölderlins Konzept der Poesie einen Entwurf der Hirnwissenschaft erkennen zu können. Folgen kann man Gedankenstreifzügen wie diesem kaum. Leider.
Und so bleibt der Leser am Ende des Buches völlig verwirrt zurück: Ganz ohne neue und weiterführende Denkanstöße zum Thema Freiheit und Hirnforschung mitgenommen zu haben. Und das ist schade. Auch für Detlef Linke selbst. Schließlich handelt es sich bei Die Freiheit und das Gehirn um sein letztes großes Werk: Der Neurologe und Philosoph verstarb noch vor der Veröffentlichung des Buches Anfang diesen Jahres.
Detlef B. Linke: Die Freiheit und das Gehirn. Eine neurophilosophische Ethik.
C. H. Beck Verlag, München 2005.
272 Seiten, 19,90 Euro.
"Das was mich ausmacht, ist in immer wieder neuen Urteilen, Reflexionen und Empfindungen zu entscheiden und zu entwickeln. Ich muss mich abgrenzen, auch wenn ich dabei nicht auf ein fertiges Selbstbild zurückgreifen kann, um in moralisch relevanten Situationen entscheiden zu können. "
Recht so, möchte man da als Leser rufen und freut sich auf die 272-seitige Abhandlung zu einem der spannendsten Themen, das die Wissenschaft zu bieten hat. Die Freiheit des Denken und Handelns. Seit mehr als 25 Jahren streiten sich Philosophen auf der einen und Hirnforschern auf der anderen Seite darüber, ob der menschliche Wille ein entschlüsselbares Zusammenspiel physikalisch-chemischer Reaktionen sei oder nicht. Dabei streiten sie im Grunde über die Interpretation eines einzigen Experimentes. Es stammt von dem amerikanischen Neurophysiologen Benjamin Libet und zeigt:
"Dass vor einer instruierten Fingerbewegung, die zu einem selbstgewählten Zeitpunkt durchgeführt werden darf, Hirnaktivitäten (...) vor der Durchführung der Fingerbewegung nachweisbar sind, und zwar noch bevor das Individuum darüber Bescheid weiß, dass es diese Bewegung ausführen wird. "
Ein verblüffendes Ergebnis, das von einigen Hirnforschern bis heute als Beleg dafür gilt, dass der bewusste Willensakt offenbar nur ein wirkungsloses Nachspiel sei, da die Entscheidungen schon festgelegt seien, bevor der Mensch sie trifft. Genau das aber bestreiten die Philosophen und berufen sich auf die Existenz des freien Willens. So auch der Autor.
"Ich halte es für überzogen, allein mit den Argumenten der Hirnforschung eine Entscheidung über Freiheitsbegriffe erzwingen zu wollen. "
Allerdings plädiert Detlef Linke, seines Zeichens selbst Neurologe, für eine gemäßigtere Interpretation Libets: Zwar zeige das Experiment, dass das Gehirn "selbst" schnell entscheidet, ob wir einen Finger bewegen oder eine Hand heben. Aber Auskunft darüber, wie langfristig gedachte Entscheidungen entstehen, gibt es nach Ansicht Linkes nicht, da es sich dabei um komplexe und daher schlecht untersuchbare Abläufe handle.
Denn sobald es etwa um die Entscheidungen nach den Normen des eigenen Handelns geht, spielt das bewusste Denken eine entscheidende Rolle. Dann ist der Mensch in der Lage, mehrere Handlungsabläufe parallel zu entwerfen, sie gegeneinander abzuwägen und sie gegebenenfalls zu korrigieren, bevor er sich dann endgültig für einen entscheidet.
"Dies ist eine wichtige Möglichkeit unseres Nervensystems. Die Neuronen wirken nicht aufeinander wie Billardkugeln, sie tauschen vielmehr Informationen aus. (...) Alles, was wir im Kopf haben, kann also nicht als statische Ablagerung, sondern als etwas angesehen werden, dass immer neuen Deutungen nicht nur unterworfen, sondern durch diese auch erzeugt werden kann. "
Das klingt logisch, eingängig und nachvollziehbar. Und so kann man Linkes Erklärungen und Gedankengängen im Zusammenhang mit Libets Experiment sehr gut folgen. Dann aber erlebt das Buch einen drastischen Bruch. Denn der Autor widmet sich plötzlich anderen Themen: Schneidet Bereiche wie Liebe, Individualität, Neurotheologie und Neuroökonomie an und beschäftigt sich ausführlich mit einer möglichen Ethik des Denkens.
Damit verliert sich das Buch nach den ersten 100 vielversprechenden Seiten in schwerverständlichen, hochkomplexen Abhandlungen, denen der Leser kaum folgen kann. Was sicher auch Linkes Vorliebe für zeilenlange Sätze liegt.
Gerne verschlüsselt er seine Erläuterungen in Nebensätzen, Einschränkungen und Einwänden. So glaubt Linke beispielsweise in Hölderlins Konzept der Poesie einen Entwurf der Hirnwissenschaft erkennen zu können. Folgen kann man Gedankenstreifzügen wie diesem kaum. Leider.
Und so bleibt der Leser am Ende des Buches völlig verwirrt zurück: Ganz ohne neue und weiterführende Denkanstöße zum Thema Freiheit und Hirnforschung mitgenommen zu haben. Und das ist schade. Auch für Detlef Linke selbst. Schließlich handelt es sich bei Die Freiheit und das Gehirn um sein letztes großes Werk: Der Neurologe und Philosoph verstarb noch vor der Veröffentlichung des Buches Anfang diesen Jahres.
Detlef B. Linke: Die Freiheit und das Gehirn. Eine neurophilosophische Ethik.
C. H. Beck Verlag, München 2005.
272 Seiten, 19,90 Euro.