Moraltheologe zur Coronapolitik

"Impfen ist eine Bürgerpflicht"

16:43 Minuten
Ein älterer, weißhaariger Mann wird, hinter einem Vorhang, von einem Arzt mit Mundschutz in die Schulter geimpft.
Impflücke schließen: Viele über 60-Jährige sind noch ungeimpft. Wenn die Infektionszahlen weiter steigen, drohen sie das Gesundheitssystem zu überlasten, warnt Ethikratsmitglied Franz-Josef Bormann. © unsplah / Mat Napo
Franz-Josef Bormann im Gespräch mit Sandra Stalinski · 09.01.2022
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Eine Impfpflicht für alle Erwachsenen lehnt Franz-Josef Bormann, Moraltheologe und Mitglied des Deutschen Ethikrats, ab. Ethisch vertretbar sei sie nur für Risikogruppen. Dennoch ruft er jeden Einzelnen dazu auf, sich impfen zu lassen.
Um die rasante Ausbreitung der Omikron-Variante einzudämmen, haben Bund und Länder weitere Corona-Maßnahmen auf den Weg gebracht. Gleichzeitig nimmt die Zahl der Proteste gegen diese Maßnahmen zu. Vor allem die Debatte über eine mögliche Impfpflicht sorgt für Zündstoff.
Kirchen und Religionsvertreter sprechen sich zwar nicht einheitlich für eine allgemeine Impfpflicht aus, sie rufen aber zum Impfen auf, denn das sei ein „Akt der Nächstenliebe“.

Impfen als Gebot der Vernunft und Solidarität

Die Impfung gegen Corona sei zunächst mal eine „vernunftbegründete Bürgerpflicht“, sagt der katholische Moraltheologe Franz-Josef Bormann, christlich-religiöse Motive brauche es dafür gar nicht, sondern jede Bürgerin, jeder Bürger habe ein Eigeninteresse am Schutz der Gesundheit, aber auch eine moralische Verpflichtung zum Schutz für die Gesundheit anderer.
Porträt des katholischen Moraltheologen Franz-Josef Bormann, mit Brille im schwarzen Sakko mit dunkler Krawatte
Risiko als Maßstab: Besonders gefährdeten Menschen wäre eine Impfpflicht zuzumuten, meint Franz-Josef Bormann.© Deutscher Ethikrat / Reiner Zensen
Allerdings müsse man den Begriff der „Pflicht“ genauer bestimmen, denn in der Ethik gebe es neben dem Gesundheitsschutz auch andere Güter, die schützens- und bewahrenswert seien. „Von daher ergibt sich die Notwendigkeit, die Reichweite und den Umfang dieser Pflicht genauer zu präzisieren“, sagt Bormann, der auch Mitglied im Deutschen Ethikrat ist.

Ethische und christliche Motive gegen die Impfung

Auch, wer sich in diesen Tagen noch nicht impfen lässt, kann dafür gute, auch ethisch und christlich begründbare Motive haben, findet er: „Er gibt durchaus sehr altruistisch eingestellte Menschen, die sagen, in einer Situation in der weltweit gesehen nach wie vor ein besonderer Mangel an Impfstoff herrscht, stelle ich den eigenen Impfschutz eine gewisse Zeit lang zurück, um anderen gefährdeteren Personen prioritären Zugang zu den Impfstoffen zu ermöglichen.“ Wenn allerdings evangelikale Christen dazu aufriefen, lieber zu beten, statt sich impfen zu lassen, sei das „blühender Unfug“, sagt Bormann.

Auch für Christen gilt, dass sie an die allgemeinen Erkenntnisse der Evidenz der Naturwissenschaften gebunden sind, und eine Urteilsbildung wird nicht dadurch christlicher, dass sie irrationaler wird. Ganz im Gegenteil. Impfen und Beten in ein Konkurrenzverhältnis zu setzen, halte ich für irrationales Geschwätz.

Franz-Josef Bormann, Moraltheologe

Der Deutsche Ethikrat hat sich in einer Ad-hoc-Stellungnahme kurz vor Weihnachten mit einer knappen Mehrheit für eine allgemeine Impfpflicht ausgesprochen. Franz-Josef Bormann hat allerdings dagegen gestimmt. Er plädiert stattdessen gemeinsam mit sechs anderen Ethikratsmitgliedern für eine „risikobezogene Impfpflicht“.

Etwa drei Millionen über 60-Jährige nicht geimpft

Das heißt, die jetzt schon beschlossene einrichtungsbezogene Impfpflicht, solle auf diejenigen ausgeweitet werden, die „altersbedingt und wegen Vorerkrankungen ein signifikant erhöhtes Risiko für einen schweren Krankheitsverlauf im Falle einer Infektion zu haben“, erklärt Bormann.
Denn auch in der Risikogruppe gibt es noch immer eine große Impflücke: Die Rede ist von etwa drei Millionen der über 60-Jährigen. „Diese Impflücke ist ein großes Problem für die Pandemiebekämpfung in Deutschland“, sagt Bormann, weil es „eine ganz schwere Belastung für unser Gesundheitssystem“ sei – und weil solche Patienten mit schweren Krankheitsverläufen auch anderen Patientengruppen Behandlungschancen wegnähmen. „Das gilt es zu verhindern, deswegen sagen wir: 'Diesen Personen ist es zumutbar, dass man ihnen eine solche Impfpflicht abverlangt.'“
Drei Impfampullen liegen auf zwei offenen Handflächen, vor einem blauen Hintergrund.
Wer will nochmal - wer hat noch nicht? Während Deutschland zum Boostern drängt, fehlt es in vielen Teilen der Welt an Impfstoff. Von einer fairen Verteilung sind wir weit entfernt.© pexels / Maksim Goncharenok
Eine allgemeine Impfpflicht für alle über 18 hingegen sieht der Moraltheologe von der Universität Tübingen aus mehreren Gründen skeptisch: Das sei „nicht verhältnismäßig und auch nicht erforderlich“. Zudem könne er sich im Blick auf die bisherige Impfkampagne nicht vorstellen, dass es gelinge, das geordnet und fair umzusetzen zu können.

Logistische Herausforderung bei Impfpflicht

„Das ist eine riesige logistische Herausforderung und ich sehe nicht, wie wir das über einen längeren Zeitraum mit mehreren Impfdurchgängen, die wir wahrscheinlich brauchen werden, gut hinbekommen“, sagt Bormann.

Die Vorstellung, wir machen das jetzt mal, und dann sind wir aus dem Schneider, halte ich für naiv, weil die Pandemie ein globales Geschehen ist. Und wir wissen ja gar nicht, wie viele neue Mutanten wir noch kriegen, und inwiefern unsere Impfstoffe, die wir gegenwärtig zur Verfügung haben, überhaupt geeignet sind, dieses Ziel zu erreichen.

Franz-Josef Bormann, Theologe und Mitglied im Deutschen Ethikrat

Eine hohe Durchimpfungsquote der Bevölkerung sei zwar erstrebenswert, aber die freiwillige Impfung sei einem gesetzlich verordneten Zwang vorzuziehen. Die zunehmenden Proteste gegen die Corona-Maßnahmen seien von sehr unterschiedlichen Motiven getragen, so Bormann.

„Ursachen der Proteste differenziert betrachten“

Teilweise würden Sorgen von Menschen vor einer Impfung durch verschiedene politische Partikularinteressen instrumentalisiert. Darunter mische sich auch viel Frustration, die sich aus ganz anderen Quellen speise. Deshalb müsse man die wirklichen Ursachen dieser Proteste differenziert betrachten.

Die Kirchen sollten versuchen, durch eine versachlichte aufklärerische Kampagne die Menschen zu erreichen, die noch erreicht werden können. Das wird nicht für alle Menschen gelten, aber ich bin ziemlich zuversichtlich, dass man einen Teil dieser Leute, die jetzt in eine Radikalisierung abzudriften drohen, noch erreichen kann.

Franz-Josef Bormann, Moraltheologe

Auch von den staatlichen Akteuren wünscht sich Bormann daher „eine wohlüberlegtere und deeskalierende Kommunikationskampagne“ statt einer „Drohkulisse“.

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