Mord an Boris Nemzow

Eine Gesellschaft, krank vor Hass

Gedenken an den russischen Oppositionspolitiker Boris Nemzow, der in Moskau unweit des Kremls erschossen wurde.
Gedenken an den russischen Oppositionspolitiker Boris Nemzow, der in Moskau unweit des Kremls erschossen wurde. © dpa / picture alliance / RIA Novosti
Von Gesine Dornblüth |
Der Kreml und die von ihm gelenkten Medien haben ein Klima geschaffen, in dem Gewalt, Hass und Lüge herrschen. Die russische Gesellschaft verrohe. Noch nach seinem Tod werde der ermordete Kreml-Kritiker Boris Nemzow in den Dreck gezogen, kommentiert Gesine Dornblüth.
Seine Mutter hatte Angst um ihn. Jedes Mal, wenn er sie anrief, habe sie geklagt: "Wann hörst du endlich auf, Putin zu beschimpfen? Er wird dich noch umbringen!" Das berichtete Boris Nemzow vor drei Wochen in einem Interview.
Nun ist der russische Oppositionspolitiker tot, hinterrücks erschossen, mitten in Moskau, von Unbekannten aus einem Auto heraus. Vielleicht hatte auch er Angst, wie seine Mutter. Aber er hat die Angst bekämpft. "Wenn sie mich umbringen wollen, tun sie das sowieso". Das war Nemzows Haltung. So berichten es seine Freunde. Angst gehört seit Jahren zur Oppositionstätigkeit in Russland.
Noch ist nicht klar, wer die Mörder waren, wer die Auftraggeber. Und man darf skeptisch sein, ob sie wohl jemals gefunden werden – allen Beteuerungen der Ermittler und Präsident Putins zum Trotz. Die russischen Behörden sind nicht gerade berühmt dafür, Morde an Regierungskritikern aufzuklären. Der Drahtzieher des Mordes an der kremlkritischen Journalistin Anna Politkowskaja ist nach acht Jahren noch nicht gefasst.
"Ich weiß nicht, wer Boris umgebracht hat, und wer das angeordnet hat. Aber wir wissen, wer die gesellschaftliche Atmosphäre schafft, in der solche Morde nicht nur möglich, sondern sogar unausweichlich sind." Das schreibt heute der russische Schriftsteller Lew Rubinstejn. Er hat Recht.
Bilder des Toten auf dem Bürgersteig in den russischen Medien
Der Kreml und die von ihm gelenkten Medien haben in den vergangenen Jahren ein Klima geschaffen, in der Gewalt, Misstrauen, Zynismus, Hass und Lüge herrschen. Wir erleben, wie eine Gesellschaft buchstäblich verroht. Das ist übrigens auch im Umgang mit dem Mord an Nemzow zu beobachten. Die russischen Medien zeigen Bilder des Toten auf dem Bürgersteig liegend, mit hochgerutschtem Pullover. Und Wladimir Schirinowskij, Fraktionschef in der Staatsduma, verbreitet im Staatskanal Rossija 24, er halte politische Motive für unwahrscheinlich. Nemzow sei nachts mit einer jungen Frau aus der Ukraine unterwegs gewesen, einem Model, 30 Jahre jünger – das sei sein gutes Recht, aber da könne es doch einen Zusammenhang geben … - Was für ein widerlicher Schmutz. Und das von einem Mann, der - es ist noch nicht lange her - einen Mitarbeiter vor laufenden Fernsehkameras aufforderte, eine schwangere Parlamentsjournalistin zu vergewaltigen.
Im Russischen gibt es das Wort "podlost‘", im Deutschen klingt es etwas altmodisch: "Niedertracht". Die Niedertracht greift um sich und droht, den Anstand zu besiegen. Vor einer Woche zogen Anhänger des Kreml durch Moskaus Straßen. Sie machten gegen einen angeblich bevorstehenden Maidan in Russland mobil. Sie trugen Fotos angeblicher Verräter, darunter auch von Nemzow. Eine ihrer Losungen: "Wir sind keine Mai-Downy", eine Anspielung auf Menschen mit Down-Syndrom. Das ist das Niveau - wohl gemerkt, abgesegnet vom Kreml.
Die Bevölkerung widerspricht nicht, das ist besorgniserregend
Es ist nicht so, dass die Mehrheit der Russen diese Niedertracht teilt. Aber sie widerspricht auch nicht. Und das ist besorgniserregend. Der ehemalige russische Menschenrechtsbeauftragte Wladimir Lukin analysierte heute richtig: Der Mord an Nemzow zeige, dass die russische Gesellschaft krank vor Hass ist. Und es sei völlig offen, was da noch alles an Ungemach kommen könne.
Boris Nemzow war jemand, der sich von all diesen negativen Tendenzen nicht kleinkriegen ließ. Seine Wegbegleiter beschreiben ihn als lebensfroh. Noch gestern Abend, wenige Stunden vor seinem Tod, gab Nemzow ein Interview. Es ging um den fgeplanten Protestmarsch der Kremlkritiker in Moskau. Den ersten in diesem Jahr. Nemzow war gewohnt optimistisch: Wenn 100.000 kämen, dann werde das ein Schock für die Machthaber im Kreml sein. Und Schritt für Schritt könne das einen Kurswechsel in der Politik einleiten. Sehr optimistisch. Die Opposition in Russland ist marginalisiert. Aber innerhalb dieser Randgruppe war Nemzow eine der wichtigsten Personen.
Aus dem Protestmarsch ist nun nichts geworden, er ist abgesagt. Stattdessen haben die Behörden eine Trauerkundgebung genehmigt. Auch, vielleicht gerade weil dort keine politischen Losungen zu hören sein werden: Der Trauermarsch bietet die Chance, zumindest Anstand zu zeigen. Das ist in Russland unter den gegenwärtigen Bedingungen das einzige, was bleibt.
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